Gesamtpaket überzeugt!
“Schlaft gut, ihr fiesen Gedanken” ist das neueste Werk des amerikanischen Bestsellerautoren John Green, der nun fünf Jahre nach dem Welterfolg “Das Schicksal ist ein mieser Verräter” endlich wieder etwas ...
“Schlaft gut, ihr fiesen Gedanken” ist das neueste Werk des amerikanischen Bestsellerautoren John Green, der nun fünf Jahre nach dem Welterfolg “Das Schicksal ist ein mieser Verräter” endlich wieder etwas von sich hören lässt. In den Mittelpunkt stellt er ein psychisch krankes Mädchen und ihren turbulenten Alltag. Eine Geschichte über Gedankenspiralen, der Suche nach dem eigenen Selbst und dem unerwarteten Finden der Liebe. Ein tiefsinniges, charakterstarkes Buch, das durch Authentizität und literarischer Qualität zu überzeugen weiß. Für Jugendliche ab 14 Jahren und Erwachsene.
Indianapolis. Die 16-jährige Aza leidet unter starken Ängsten und Zwängen. Wenn sie nur an ihren Mageninhalt denkt, wird ihr ganz anders. Sie ekelt sich vor ihren eigenen Verdauungsvorgängen und versucht sich beim Essen lieber keine Gedanken über die Prozesse zu machen, die in ihrem Körper ablaufen. “An der Anzahl der Zellen gemessen besteht der Mensch zu über 50 Prozent aus Bakterien, was bedeutet, dass die Hälfte der Zellen, die zu uns gehören, gar nicht unsere sind. […] ich bilde mir häufig ein, ich kann spüren, wie sie in und auf mir leben, sich fortpflanzen und sterben.” (Zitat S.9 aus “Schlaft gut, ihr fiesen Gedanken”) Immer wieder liest Aza fachspezifische Wikipedia-Einträge und hat panische Angst davor eineInfektion mit dem Bakterium Clostridium difficile zu bekommen, die meist tödlich verläuft. Ein seltsames Magengrummeln könnte da schon den baldigen Niedergang bedeuten. Daher kann es auch mal vorkommen, dass sie inmitten einem Pausentreffen (unter anderem mit ihrer besten Freundin Daisy) den Gesprächen am Tisch nicht mehr ganz folgen kann und sich im Netz vergewissern muss, ob sie Anzeichen dieser schlimmen Infektion aufweist. Außerdem hat sie noch einen ganz anderen außergewöhnlichen Tick: “Seit ich klein bin, habe ich die Angewohnheit, mir den rechten Daumennagel in die Kuppe des rechten Mittelfingers zu bohren, sodass mein Fingerabdruck inzwischen eine Schwiele hat. Nach all den Jahren lässt sich die Hautstelle mühelos aufkratzen, weswegen ich immer ein Pflaster darüber klebe, damit sich die Wunde nicht entzündet. Aber manchmal fange ich an, mir einzubilden, dass die Wunde vielleicht schon entzündet ist und dass ich sie unbedingt reinigen muss, und der einzige Weg, die Wunde zu reinigen, ist sie wieder zu öffnen, und das Blut herauszudrücken, falls welches kommt.” (Zitat S.11) Aza ist in therapeutischer Behandlung und muss regelmäßig Medikamente nehmen. Doch irgendwie verbessert sich ihr Zustand nicht. Dann verschwindet auf einmal ein vermögender Vorstandsvorsitzender, der wegen Korruption verhaftet werden soll und Davis, der Sohn dieses Mannes, taucht wieder in Azas Leben auf. Denn Daisy will den zur Fahndung Ausgeschriebenen unbedingt finden und die Belohnung von 100.000 Dollar kassieren und da Aza Davis früher einmal sehr gut kannte, will ihre beste Freundin, dass sie wieder Kontakt miteinander aufnehmen. Unerwartet kommt Aza Davis näher. Aber wenn man unter Zwängen und Ängsten leidet, ist Verlieben nicht gerade die einfachste Sache der Welt…
“Schlaft gut, ihr fiesen Gedanken” wartet mit einem diesmal nicht dunkelblau gestalteten Cover auf — so wie die Vorgängertitel, die seit dem Erfolg von “Das Schicksal ist ein mieser Verräter” neu und einheitlich dunkelblau aufgelegt wurden — sondern mit einem hellblauen. Doch: für alle, die es farblich etwas kräftiger mögen, es gibt auf der Rückseite des Schutzumschlags ein Wendecover mit einem leicht lila-bläulichen Hintergrund (der mir persönlich etwas besser gefällt). Der orangefarbene Schnitt dazu — sehr schön gemacht. Der Roman wird durchgehend aus Azas Sicht in der Ich-Perspektive erzählt und macht bereits zu Beginn klar, dass John Green eine ganz außergewöhnliche Figur erschaffen hat. Eine Protagonistin, die glaubt nicht “echt” zu sein und nur das Opfer ihrer Umstände und Gedanken: “Ich beschließe in diesem Moment, zum Mittagessen zu gehen, denkst du, wenn um 12 Uhr 37 das monotone Schrillen von oben klingt. Dabei entscheidet eigentlich die Glocke. Du hältst dich für den Künstler, aber du bist die Leinwand.” (Zitat S.7) Azas Art, sich über diese Abhängigkeit von der Außenwelt, aber vor allem über ihre Zwangsneurosen, Gedanken zu machen, verleihen dem Roman eine überraschend philosophische und tiefgründige Note, denn in nur sehr wenigen Jugendbüchern werden solch grundlegende, existentielle Fragen gestellt: “…gibt es überhaupt ein Selbst, unabhängig von den Umständen? Ist da ein tieferes Ich, das die echte wahre Person ist […]?” Denn wenn Aza plötzlich anfängt zu schwitzen, und dann an gar nichts anderes mehr denken kann, als an das (ihr unangenehme) Schwitzen, und dadurch nur noch mehr schwitzt, dann ist sie nicht mehr Herr über sich selbst. “Und wenn du nicht steuern kannst, was du denkst oder tust, vielleicht gibt es dich dann gar nicht wirklich […]? Vielleicht bin ich bloß eine Lüge, die ich mir selbst einflüstere.” (Zitat S.107) Darum kneift sie sich auch immer wieder in ihre Fingerkuppe, um sich davon zu überzeugen, dass es sie wirklich gibt. Denn als Kind hat ihre Mutter ihr einmal erklärt, dass sie sich einfach zwicken könne, um festzustellen, ob sie wach sei oder ob sie träume. Wenn sie den Schmerz spürt, dann muss es “echt” sein. Besonders ihre Gedankengänge, die sich kreisen und wie eine Spirale immer wieder verengen, hat John Green meisterhaft getroffen: “Ich glaube nicht, dass du es gewechselt hast. Ich glaube, das ist noch das Pflaster von gestern Abend. Nein, von gestern Abend kann es nicht sein, weil ich es auf jeden Fall nach dem Mittagessen gewechselt habe. Wirklich? Ich glaube schon. Du GLAUBST? Ich bin mir sicher. Aber die Wunde nässt. Was stimmte. Sie war noch nicht verheilt. Und du trägst dasselbe Pflaster seit — o Gott — wahrscheinlich über 37 Stunden und lässt die Wunde in diesem warmen, feuchten Pflaster vor sich hin eitern. Ich warf einen Blick auf das Pflaster. Es sah neu aus. Du hast es nicht gewechselt. Doch, ich glaube schon. Bist du dir sicher?” (Zitat S.129) Während die Protagonistin zu Beginn aufgrund ihrer Ticks und Rituale fast ein wenig abstoßend wirkt, wächst einem das Mädchen nach und nach beim Lesen wirklich ans Herz. Man spürt ihre Verzweiflung und ihre Ablehnung sich selbst gegenüber so deutlich und intensiv, dass ihr Leid wirklich greifbar scheint. Den Charakter einer Außenseiterin so glaubwürdig, so komplex und ihre Hilflosigkeit so überdeutlich zu skizzieren, darin hat der Autor sich wirklich selbst übertroffen: “Ich spürte, wie ich den Halt verlor, aber selbst das ist eine Metapher. Spürte, wie ich fiel, auch das ist eine. Kann das Gefühl nicht beschreiben, kann nur sagen, ich bin nicht ich. Geschmiedet auf dem Amboss einer anderen Seele. Bitte lass mich hier raus. Wer immer mich erfunden hat, lass mich hier raus. Alles, um hier rauszukommen.” (Zitat S.209) Der Roman ist ergreifend, mitreißend, schmerzvoll und zugleich voller Hoffnung. Mit tollen Nebencharakteren, einer teils anspruchsvolleren Sprache (lange, verschachtelte Sätze) und manch klugen Worten, die man sich am liebsten unterstreichen möchte: “In die Augen kann man jedem sehen. Aber jemand zu finden, der dieselbe Welt sieht, ist ziemlich selten.” (Zitat S.14) und “Das wahre Grauen ist nicht Angst zu haben; es ist keine andere Wahl zu haben.” (Zitat S.27) Und auch, wenn ich zu Beginn einzelne Stellen manchmal etwas zu ausgeschmückt fand (Gespräche über Fanfiction & Star Wars), gebe ich dem Buch dennoch die volle Punktzahl, da es in seinem Gesamtpaket einfach überzeugt und definitiv gelesen werden sollte!