Must-read: systemische Misogynie
Kim Jiyoung, geboren 1982„Kim Jiyoung, Geboren 1982“ von Cho Nam-Joo handelt von der Geschichte Jiyoungs erzählt aus der Perspektive ihres Therapeuten.
Nach der Geburt ihrer Tochter leidet sie nämlich an Psychosen, in welchen ...
„Kim Jiyoung, Geboren 1982“ von Cho Nam-Joo handelt von der Geschichte Jiyoungs erzählt aus der Perspektive ihres Therapeuten.
Nach der Geburt ihrer Tochter leidet sie nämlich an Psychosen, in welchen sie in die Rollen verschiedener Frauen, die sie kennt, geht.
Mich hat Jiyoungs Geschichte sehr nachdenklich gemacht. Der generische koreanische Name, die gesichtlose Frau auf dem Buchcover, der klinisch nüchterne Schreibstil und viele kleine Details kreieren Distanz. Die Schlagkraft dieses Buches kommt aber genau daher und vom Ort scheinbarer Bedeutungslosigkeit, Normalität.
Manchen Leser*innen mag die kühle Emotionslosigkeit, die durch den Schreibstil transportiert wird, zuerst abstoßen. Scheinbar gibt es so keine Identifikationsmöglichkeiten, ein Buch voller Gleichgültigkeit. Aber so wird klarer, dass die Geschichte der Protagonistin für so viele andere Geschichten von Frauen steht, nicht nur aus Südkorea, sondern weltweit. Man wird in verschiedensten Situationen in kleinen oder größeren Weisen an eigene Erfahrungen erinnert. In der Distanziertheit findet man sich also doch wieder. Das Buch bleibt vermeintlich emotionslos , aber es löst viel bei Lesenden aus: Wut, Furcht, Schwermut…
Jiyoungs Psychosen, ihre angebliche „Verrücktheit“, macht in der trüben, dumpfen Welt dargestellt von Cho Nam-Joo in gewisser Weise Sinn, ja, fast als wäre dies die einzig verbliebene Möglichkeit, um der Welt zu entfliehen.
Alle Figuren in der Geschichte waren für mich in vieler Hinsicht unzugänglich, trotzdem jedoch nicht weniger interessant. Die Anamnese ihres Therapeuten, welche das Buch darstellt, war gut in verschiedene, chronologische Jahresspannen aufgebaut und enthielt auch Fußnoten. Auf mich wirkte dies erst ungewohnt, hauptsächlich weil es sich um einen Roman handelt. Allerdings machen diese sachlichen Fakten die fiktionale Geschichte Jiyoungs unwiderstreitbar.
„Kim Jiyoung, Geboren 1982“ hat mich nachdenklich gemacht und wütend; mich bedrückt.
Teilweise hat es mich an episches Theater nach Brecht erinnert: Entscheidungen von mir erzwungen, mich der Gesichte von Jiyoung, aller Frauen und meiner gegenübergestellt und zu Erkenntnissen in meiner Nachdenklichkeit getrieben.
Bitte lesen.