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Veröffentlicht am 03.04.2018

Das Zeitlose ist etwas angestaubt

Orlando
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Ich habe keine Angst vor Virginia Woolf. Aber mit ihrem Namen verbinden sich ein paar kraftvolle Assoziationen. Wahrscheinlich lag es an meinen mangelnden Vorkenntnissen, meinen seltsamen Vorurteilen, ...

Ich habe keine Angst vor Virginia Woolf. Aber mit ihrem Namen verbinden sich ein paar kraftvolle Assoziationen. Wahrscheinlich lag es an meinen mangelnden Vorkenntnissen, meinen seltsamen Vorurteilen, dass mich „Orlando“ enttäuscht hat.
Woolf erzählt die Geschichte des Landadligen Orlando im elisabethanischen England, der schwer in sich und die Natur verliebt ist, sich für die Frauen - vor allem die stürmische Sasha - interessiert und für die Literatur, ja sogar selbst poetische Ergüsse fabriziert; derer schämt er sich später, als ein bösartiger Kritiker sie zu Gesicht bekommt, weshalb Orlando alle vernichtet bis auf den ‚Eichenbaum‘. Erst von der Welt enttäuscht, dann wider ihr zugewandt sogar Gesandter am Hof in Istanbul wird. Die blutige Revolte in der Stadt verschläft Orlando in einem rätselhaften siebentägigen Schlaf, aus dem er als Frau erwacht. Orlando reist wieder heimwärts und erlebt einige Abenteuer - bei den Zigeunern und auf See -, in denen die Ambivalenz schon aufscheint, dass Orlando nun in einem Frauenkörper steckt, aber ein Vorleben als Mann besitzt. Daheim angekommen, muss sie um vor Gericht ihr Erbe kämpfen, da sie für tot erklärt war und für einen Mann gehalten worden ist, es gelingt ihr aber, den Sitz ihrer Ahnen wieder zurückzuerhalten. Orlando sucht die Nähe von Literaten ihrer Zeit, spricht viel über Literatur und was sie bedeutet. Und immer wieder erprobt sie sich als Frau in einer Männerwelt oder als Frau gegenüber Frauen. Besonders intensiv erlebt sie die Beziehung mit ihrem späteren gatten, dem Kapitän Marmaduke Bonthrop Shelmerdine, in dem sie dessen weiblichen Seiten erkennt. Am Ende des Romans ist Orlando eine weitestgehend ungebundene, selbstbewusste Frau, die sie immer gewesen ist, die mit ihrem gereiften ‚Eichenbaum‘ immerhin zu den ernsthaften Literaturschaffenden gezählt wird und die - mit der Zeit gehend - die Fahrt mit ihrem Automobil schätzt.
Und überhaupt: die Zeit. Der Roman spannt sich vom elisabethanischen England bis in das Jahr 1928, in dem „Orlando“ erschienen ist, ohne im wesentlichen das Älterwerden Orlandos zu thematisieren, Auch andere Figuren - etwa der Kritiker Greene - leben die Jahrhunderte, was weder erklärt noch hinterfragt wird. Die Jahre ist aufgehoben, es gilt nur ein Vorher und Nachher, denn Woolf benötigt die Jahrhunderte, um Orlando in ihnen die beiden großen Anliegen spiegeln zu lassen, um die es geht: um die Stellung der Frau (in der Gesellschaft und zu sich) und die Literatur.
Wie Orlando als Frau denkt, sich vom Mannsein in das Frausein bewegt (und wieder zurück, zumindest gedanklich); wie sie Unterschiede entdeckt, Grenzen berührt und überschreitet, Geschlechterspezifisches erkennt, benennt und übersteigt - das sind die starken Momente dieses ansonsten leider arg in die Jahre gekommenen Romans. Hier verbirgt sich der zeitlose Wert „Orlando“ hinter einer Sprache, die altertümlich wirkt (meine deutsche Ausgabe ist von 1964) und heutige Leser wohl nicht mehr erreicht. Die Gedanken über die Literatur hingegen haben mit ihren Namen Staub angesetzt, auch wenn bis heute gilt, was am Schreiben das Schwierigste ist: „Das Leben? Die Literatur? Eins ins andere zu verwandeln?“ (S. 253)
Auf mich wirkte „Orlando“ nicht mehr wie in Literatur verwandeltes Leben, weshalb ich, der ich mit großen Erwartungen in die Lektüre gestartet war, in folgendem Satz auf der letzten Seite die Figur Orlando selbst widererkannte: „Alles war erleuchtet, wie für die Ankunft einer toten Königin.“ (S. 292)

Veröffentlicht am 03.04.2018

Kein strahlender Rubin

Die Wolfsgrube
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Szilárd Rubin (1927-2010) war ein ungarischer Schriftsteller, der erst kurz vor seinem Tod mit seinen Hauptwerken Ruhm auch außerhalb Ungarns erntete. „Die Wolfgrube“ ist keines dieser Hauptwerke, sondern ...

Szilárd Rubin (1927-2010) war ein ungarischer Schriftsteller, der erst kurz vor seinem Tod mit seinen Hauptwerken Ruhm auch außerhalb Ungarns erntete. „Die Wolfgrube“ ist keines dieser Hauptwerke, sondern ein Kabinettsstück über sechs Grundschulfreunde, die sich 15 Jahre nach dem Schulabschluss wiedertreffen und feststellen müssen, dass einiges gleich, aber vieles anders geworden ist. Haller wurde Arzt, Schwabik Apotheker, Decsi Biochemiker, Vértes Dichter, Baksay Journalist und Beke wurde Polizist und Offizier der ungarischen Spionageabwehr. Dass er diese beiden Beruf für das Treffen der Freunde würde gebrauchen können, konnte vorher keiner ahnen.

Außer dem Leser, denn schon auf den ersten Seiten erfahren wir, welcher Schulfreund durch einen westlichen Geheimagenten ausgetauscht wurde. Auch zwei andere Schulfreunde haben geheime Machenschaften am Laufen, wie sich im Laufe des Treffens herausstellt. Die Zusammenkunft wird durch drei Frauen bereichert - eine Ehefrau, eine Assistentin und eine Tänzerin, hinter der alle Männer her sind. Bei dem harmlosen Gesellschaftsspiel „Mord im Dunkeln“ kommt es zu einem echten Mord, und Beke muss nun ermitteln. Der sympathische Ermittler deckte einige Geheimnisse auf, die sich die Freunde einander nicht zugetraut hätten. Dennoch ist Ermittlung so verworren, der Tathergang so kompliziert, dass man kaum mitkommt und die Auflösung am Ende nur hinnehmen kann. Und obwohl es nur zehn handelnde Personen sind, gehen die Figuren einem ständig durcheinander.
Neben der Handlung aber ist die der Darstellung innewohnende Betrachtung der ungarischen Gesellschaft in der „Wolfsgrube“ verborgen, und hier gibt Rubin Einblicke in ein Ungarn der 1960er Jahre, das dem westlichen Leser unbekannt ist. In den sich auseinandergelebten Freunden erkennt man die zerfallende ungarische Gesellschaft wieder, die sich kaum traut, alles öffentlich zu sagen, die vieles im Verbogenen abhandelt und vor Ohrenbläsern und Denunzianten auf der Hut ist. Auch der Nachhall des Zweiten Weltkrieges und der zweifelhaften Rolle Ungarns im Krieg klingt in Rubins Roman an.

Kurzum: „Die Wolfsgrube“ gehört zurecht nicht zu Rubins wichtigsten Werken, besticht aber immerhin durch politische Raffinesse und einen gerade am Anfang humorvoll beschwingten Tonfall.

Veröffentlicht am 10.01.2018

Die Witwe einer Generation?

Olga
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Bernhard Schlink kann es mir nicht recht machen. Oder ist es Olga? Jedenfalls hinterlässt die Lektüre von „Olga“ bei mir den faden Geschmack eines zu lange offenen Weines: Auch wenn die Idee „Südhang“ ...

Bernhard Schlink kann es mir nicht recht machen. Oder ist es Olga? Jedenfalls hinterlässt die Lektüre von „Olga“ bei mir den faden Geschmack eines zu lange offenen Weines: Auch wenn die Idee „Südhang“ ist (um im Bild zu bleiben), die Reben erste Wahl und der Winzer ein Könner, ist am Ende das Produkt ein in drei ungleiche Teile zerfallendes Stückwerk.

Olga ist Ende des 19. Jahrhunderts geboren, wächst als Waise ungeliebt von der Großmutter bei ebendieser im schlesischen Nirgendwo auf, verbringt die Jugend mit Herbert Schröder, dem Sohn des neureichen Gutsherrn, wird seine Geliebte und heimliche Verlobte, kämpft sich gegen die widrige Rückständigkeit der gestrigen Männerwelt durch höhere Schule, Studium und Schuldienst, verliert Herbert als Arktisforscher im ewigen Eis, um ertaubt als Näherin die Nachkriegszeit am Rhein zu erleben. Hier inspiriert sie den jungen Ferdinand mit ihren Erzählungen vor allem ihres geliebten Herberts in ähnlicher Mentorschaft wie den Jungen Eik in ihrer Lehrerstelle bei Tilsit. Sie stirbt mit einem Knalleffekt, den Schlink uns am Ende des Romans beschert.

Wem diese Zusammenfassung zu nüchtern erscheint, der lese den ersten Teil des Romans: Der Tonfall ist ähnlich distanziert, verknappend, deskriptiv. Ich hatte das Gefühl, das Exposé zu einem Roman zu lesen, nicht aber einen Roman. Schlink lässt uns nicht nah an die Figuren heran, weder an Olga noch an Herbert Schröder noch an dessen eifersüchtige Schwester. „Die Angst, schwanger zu werden, können sich Menschen heute nicht vorstellen“, lese ich auf Seite 51 und kann es mir auch nicht vorstellen, weil Schlink uns diese Angst nur bezeichnet, aber nicht vorführt. Das ist schade, denn Olgas Leben ist außergewöhnlich, ich hätte gern mit ihr gefühlt. Übrigens ist ihr Herbert auch außergewöhnlich, denn es handelt sich um den tragischen deutschen Arktisforscher Herbert Schröder-Stranz, dessen Leben einen eigenen Roman wert wäre und dessen Schicksal im ewigen Eis vielleicht sogar am Anfang von Schlinks Idee zu „Olga“ gestanden haben mag. Aber die Geschichte eines gescheiterten Arktisforschers im Spiegel der zurückbleibenden Geliebten zu schreiben, mag zwar pfiffig sein, bleibt aber eine Arktisforschergeschichte ohne Arktis …

Der zweite Teil des Romans wird von Ferdinand bestritten, dem Olga eine Mentorin gewesen ist, indem sie ihm als Näherin in der Familie mit Literatur und den Geschichten aus ihrer Zeit und ihrem Leben eine Richtung gegeben hat. Hier wird Olga zu „Fräulein Rinke“, und jetzt erst wird klar, dass der erste Teil Olgas Leben referiert hat, sozusagen wie Ferdinand es sich aus den Erzählungen Fräulein Rinkes zusammengebastelt hat. Ferdinand erzählt nun den letzten Teil von Olgas Leben, den er miterlebt hat. Ferdinand selbst ist zwar der beste Olga-Kenner seit Herberts Tod, aber sein ganzes Leben passt auf die Seiten 168 bis 170: vom Ende des Studiums bis zur Pensionierung. Irgendwie … fad.

Im dritten Teil spürt Ferdinand Olgas Leben nach und hebt findig den Schatz ihrer Briefe an den verschollenen Herbert. Diese Briefe bilden den dritten Teil des Buches und schließen die Lücke zwischen der jungen Olga und dem alten Fräulein Rinke. Diese Briefe klingen in dem emotionalen Ton, dem liebevollen Detail und der persönlichen Nähe des Romans, wie ich sie zuvor so vermisst habe. Nun aber werfen sie die Frage auf, wie die drei Olgas eigentlich zusammengehören? Passen sie eigentlich? Will Schlink uns sagen, dass unsere Persönlichkeiten so facettenreich sein können, dass wir einander nie ganz kennen können? Wenn ja, dann habe ich das schon deutlich raffinierter gelesen, wenn nein, dann ist die ganze Figur so eine Art Unfall.

Schlink will mit dem Roman, der mehr als ein Jahrhundert überspannt und in seinen Figuren von Bismarck über Wilhelm II., die Nazis, Adenauer bis hin zu Rudi Dutschke berührt, offenbar aber auch große deutsche Fragen klären, womöglich sogar großdeutsche. Olga schreibt über ihr Leben, sie sei nicht Herberts Witwe, nicht die Witwe eines möglichen Heiratsaspiranten unter ihren Kollegen in Tilsit, sondern „Bernhard Schlink kann es mir nicht recht machen. Oder ist es Olga? Jedenfalls hinterlässt die Lektüre von „Olga“ bei mir den faden Geschmack eines zu lange offenen Weines: Auch wenn die Idee „Südhang“ ist (um im Bild zu bleiben), die Reben erste Wahl und der Winzer ein Könner, ist am Ende das Produkt ein in drei ungleiche Teile zerfallendes Stückwerk.

Olga ist Ende des 19. Jahrhunderts geboren, wächst als Waise ungeliebt von der Großmutter bei ebendieser im schlesischen Nirgendwo auf, verbringt die Jugend mit Herbert Schröder, dem Sohn des neureichen Gutsherrn, wird seine Geliebte und heimliche Verlobte, kämpft sich gegen die widrige Rückständigkeit der gestrigen Männerwelt durch höhere Schule, Studium und Schuldienst, verliert Herbert als Arktisforscher im ewigen Eis, um ertaubt als Näherin die Nachkriegszeit am Rhein zu erleben. Hier inspiriert sie den jungen Ferdinand mit ihren Erzählungen vor allem ihres geliebten Herberts in ähnlicher Mentorschaft wie den Jungen Eik in ihrer Lehrerstelle bei Tilsit. Sie stirbt mit einem Knalleffekt, den Schlink uns am Ende des Romans beschert.

Wem diese Zusammenfassung zu nüchtern erscheint, der lese den ersten Teil des Romans: Der Tonfall ist ähnlich distanziert, verknappend, deskriptiv. Ich hatte das Gefühl, das Exposé zu einem Roman zu lesen, nicht aber einen Roman. Schlink lässt uns nicht nah an die Figuren heran, weder an Olga noch an Herbert Schröder noch an dessen eifersüchtige Schwester. „Die Angst, schwanger zu werden, können sich Menschen heute nicht vorstellen“, lese ich auf Seite 51 und kann es mir auch nicht vorstellen, weil Schlink uns diese Angst nur bezeichnet, aber nicht vorführt. Das ist schade, denn Olgas Leben ist außergewöhnlich, ich hätte gern mit ihr gefühlt. Übrigens ist ihr Herbert auch außergewöhnlich, denn es handelt sich um den tragischen deutschen Arktisforscher Herbert Schröder-Stranz, dessen Leben einen eigenen Roman wert wäre und dessen Schicksal im ewigen Eis vielleicht sogar am Anfang von Schlinks Idee zu „Olga“ gestanden haben mag. Aber die Geschichte eines gescheiterten Arktisforschers im Spiegel der zurückbleibenden Geliebten zu schreiben, mag zwar pfiffig sein, bleibt aber eine Arktisforschergeschichte ohne Arktis …

Der zweite Teil des Romans wird von Ferdinand bestritten, dem Olga eine Mentorin gewesen ist, indem sie ihm als Näherin in der Familie mit Literatur und den Geschichten aus ihrer Zeit und ihrem Leben eine Richtung gegeben hat. Hier wird Olga zu „Fräulein Rinke“, und jetzt erst wird klar, dass der erste Teil Olgas Leben referiert hat, sozusagen wie Ferdinand es sich aus den Erzählungen Fräulein Rinkes zusammengebastelt hat. Ferdinand erzählt nun den letzten Teil von Olgas Leben, den er miterlebt hat. Ferdinand selbst ist zwar der beste Olga-Kenner seit Herberts Tod, aber sein ganzes Leben passt auf die Seiten 168 bis 170: vom Ende des Studiums bis zur Pensionierung. Irgendwie … fad.

Im dritten Teil spürt Ferdinand Olgas Leben nach und hebt findig den Schatz ihrer Briefe an den verschollenen Herbert. Diese Briefe bilden den dritten Teil des Buches und schließen die Lücke zwischen der jungen Olga und dem alten Fräulein Rinke. Diese Briefe klingen in dem emotionalen Ton, dem liebevollen Detail und der persönlichen Nähe des Romans, wie ich sie zuvor so vermisst habe. Nun aber werfen sie die Frage auf, wie die drei Olgas eigentlich zusammengehören? Passen sie eigentlich? Will Schlink uns sagen, dass unsere Persönlichkeiten so facettenreich sein können, dass wir einander nie ganz kennen können? Wenn ja, dann habe ich das schon deutlich raffinierter gelesen, wenn nein, dann ist die ganze Figur so eine Art Unfall.

Schlink will mit dem Roman, der mehr als ein Jahrhundert überspannt und in seinen Figuren von Bismarck über Wilhelm II., die Nazis, Adenauer bis hin zu Rudi Dutschke berührt, offenbar aber auch große deutsche Fragen klären, womöglich sogar großdeutsche. Olga schreibt über ihr Leben, sie sei nicht Herberts Witwe, nicht die Witwe eines möglichen Heiratsaspiranten unter ihren Kollegen in Tilsit, sondern „die Witwe einer Generation“. (S. 289). Das ist dann doch ein wenig zu groß - und zu Großes hat Olga an den Deutschen, den deutschen Männern immer gehasst. Zu recht.

Zu große Ideen in einem zu kleinen Roman in drei ungleichen Teilen - das gefällt mir nicht. “. (S. 289). Das ist dann doch ein wenig zu groß - und zu Großes hat Olga an den Deutschen, den deutschen Männern immer gehasst. Zu recht.

Zu große Ideen in einem zu kleinen Roman in drei ungleichen Teilen - das gefällt mir nicht.

Veröffentlicht am 16.08.2017

„Unterschiedlich ist nur die Größe der Blase“ - oder wie man anspruchsvoll scheitert

Swing Time
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Alles beginnt mit dem Ende: Die Erzählerin, deren Namen nie genannt wird, verliert publikumswirksam ihren Job als persönliche Assistentin eines Superstars der Musikindustrie und steht kurz im Rampenlicht ...

Alles beginnt mit dem Ende: Die Erzählerin, deren Namen nie genannt wird, verliert publikumswirksam ihren Job als persönliche Assistentin eines Superstars der Musikindustrie und steht kurz im Rampenlicht öffentlicher Schaulust. Der Druck durch die Gaffer erhöht sich durch ein Video aus Kindertagen, das die Erzählerin und ihre beste Freundin Tracey veröffentlicht: „Jetzt weiß endlich jeder, wer du wirklich bist“, ist der gehässige Kommentar. Nach diesem Prolog entwickelt sich die Erzählung, die genau der Frage nachgeht: Wer ist sie denn eigentlich wirklich? Wie wurde sie, was sie ist? Und wie sind die anderen? Es geht um die jeweilige Wahrnehmung, um die „Blase“, in der sich der Einzelne befindet, jeder in seiner. „Unterschiedlich ist nur die Größe der Blase“, in der man seine Welt einrichtet und die so verletzlich schimmert: „Die dünne Außenhaut der Blase.“ (S. 620)

Sieben Kapitel in kurzen Szenen geben die zwei Geschichten der Erzählerin in sich abwechselnden Episoden wieder: die Kindheit und ihr Verhältnis zu Tracey sowie die zehn Jahre vor dem Eklat, die sie bei der Sängerin Aimee verbringt und in ihrem Weltverbesserungsprojekt in Afrika. Die Erzählerin entstammt der Ehe einer engagierten Schwarzen aus Jamaika und einem passiven Weißen aus London, gilt also in der Schule und dem Studium als Schwarze, als Migrantin. In Afrika hingegen wechselt ihre Identität: Sie wird als weiße wahrgenommen. Die Zeiten und Personen sind verbunden durch Tanz: Swing Time ist ein Roman über tänzerischen Ausdruck und Körperlichkeit. Seinen Namen hat sich der Roman aus dem Tanzmusical „Swing Time“ von 1936 mit Fred Astair entliehen, über den die namenlose Erzählerin nachdenkt und die Autorin Zadie Smith zu Wort kommt, indem sie Programm des Romans liefert, das einen großen Bogen aufmacht:

„Ging es in allen Freundschaften - in allen Beziehungen - um einen (…) Austausch von Qualitäten, einen Austausch von Macht? Ließ sich das auch auf Völker und Nationen ausdehnen, oder war es etwas, das nur zwischen Einzelpersonen stattfand? Was gab mein Vater meiner Mutter - und umgekehrt? (…) Was gab ich Tracey? Was gab Tracey mir?“ (S. 171)

Die gefeierte englische Autorin Zadie Smith wird oft als „Stimme der Migranten“ wahrgenommen, weil sie mit viel Gefühl, Sachverstand und Erfahrung das Thema „fremd daheim“ immer wieder ins Zentrum ihrer Texte stellt. Selbst Tochter einer Jamaikanerin und eines weißen Engländers aus dem armen Norden Londons, erzählt sie immer wieder auch ihre Geschichte als Kind zweier Hautfarben. In „Swing Time“ spricht Smith große Themen an: Identität, Freundschaft, Rassenproblematik, Armut, Einfluss von Reichtum und/oder Geld, Emanzipation, Bildung, Schaden und Nutzten von Entwicklungshilfe etc. Wem die Aufzählung zu lang vorkommt, hat das Problem erfasst, das ich mit „Swing Time“ hatte: Zadie Smith wollte zu viel, erklärte zu viel, redet zu viel.

Der Eindruck der Geschwätzigkeit wird durch die Ich-Perspektive verursacht: Die Erzählerin berichtet nicht nur chronologisch über ihr Leben, sie reflektiert auch andauernd die Episoden, Momente und Erlebnisse, die sie referiert. Oft werden sie in größere Kontexte gestellt, Gedanken ausgeführt, das Übergeordnete angesprochen oder das Vergleichbare angeführt. Beim Lesen entsteht immer wieder das Gefühl, eigentlich noch über einen Satz nachdenken zu wollen, eigentlich noch verstehen zu wollen, während der Erzählfluss weiterströmt und die ganze Reflexion mit sich reißt. Im Erzählpogramm zu „Swing Time“ führt die Erzählerin angesichts der Darstellkunst Fred Astairs und seiner Selbstreflexion aus:

„(…) dass es nämlich vor allem darauf ankam, sich selbst wie jemand Fremdes zu behandeln, unabhängig und unvoreingenommen in Bezug auf sich selbst zu bleiben.“ (S. 171)

Das versucht die Erzählerin fortwährend, und man möchte ergänzen: leider. Obwohl sie ständig präsent ist, bleibt die Hauptperson unfassbar und unpersönlich, Sie ist bis zum Ende „jemand Fremdes“, und deshalb stellt sich unaufgefordert ständig die Frage: Warum soll ich das lesen? Was interessiert mich das Schicksal der Erzählerin ohne Namen oder das Traceys mit ihrer kaputten Persönlichkeit oder ihrem kaputten Hintergrund? Warum?

Am Ende enttäuscht das Buch, obgleich es flüssig geschrieben ist, weil es hinter seiner Geschwätzigkeit vermuten lässt, dass es an seinem großen Anspruch gescheitert ist.

Veröffentlicht am 24.01.2020

Die Erzählung gibt der Nebensache zu viel Raum

Der kleine Freund
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Donna Tartt hat ein großes Talent, Figuren zu zeichnen und ihre Wesen, Charakter, Motivationen und Hintergründe lebendig werden zu lassen. Wer ist nicht von der zwölfjährigen Harriet Cleve begeistert, ...

Donna Tartt hat ein großes Talent, Figuren zu zeichnen und ihre Wesen, Charakter, Motivationen und Hintergründe lebendig werden zu lassen. Wer ist nicht von der zwölfjährigen Harriet Cleve begeistert, die in diesem Sommer beschließt, den mysteriösen Mord an ihrem Bruder vor neun Jahren aufzuklären? Wer verliebt sich nicht heimlich in Großmutter Eddies schroffe Herzlichkeit? Schreckt nicht vor der tumben Grobheit der Redneck-Familie Racliff zurück? Mich hat auch beeindruckt, wie es der Autorin gelingt, den us-amerikanischen Süden mit seinem offenen und verdeckten Rassismus auferstehen zu lassen und den Leser gleichzeitig in diese heiße Sommerlandschaft zu versetzen. Hinzu kommt der spannende Hintergrund von Robins Tod vor neun Jahren - erhängt im eigenen Garten, als alle Cleves anwesend waren, aber doch keiner etwas gemerkt hatte. Dieses Mysterium zu enträtseln ist meine Motivation gewesen, diesen Roman weiterzulesen, obwohl ich schon auf Seite 200 absolut keine Lust mehr dazu hatte.

Die Erzählung gibt der Nebensache zu viel Raum. Anfänglich werden so die Figuren aufgeschlossen, handelnd vorgeführt und lebendig. Doch irgendwann verkommt das dahinplätschernde Ding namens Handlung zur Masche, zum Rauschen. Ich kam mir mitunter vor wie bei einer Natur-Doku, bei der ich zwar einerseits dem glitzernden Bach beim Plätschern bestaunen durfte, andererseits dasselbe auch Stunden später immer noch tun musste; oder bei einer Reality-Doku, in der ich irgendeinem Menschenschlag durch sein fremdes Leben folge, aber leider auch die Bettzeiten in Echtzeit verfolgen sollte. Aus gähnender Langeweile wurde bei mir fast schon aggressive Ablehnung.

Erst recht bei der Auflösung des ganzen - die ich hier nicht einmal andeuten möchte. Aber wer den Roman bis zu seinem äachzenden Ende durchgehalten hat, wird meine bodenlose Enttäuschung nachvollziehen können.

Das kann Donna Tartt besser, wie sie im „Distelfinken“ gezeigt hat.

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