Ich trete dem Drachen gegenüber!!!
Achtung! Achtung! ICH (ja, ich) bin begeistert (!) – über ein Buch mit „alternate history“, somit einem Untergenre von Science Fiction. Das hier ist sozusagen S/F „soft“ beziehungsweise Science Fiction ...
Achtung! Achtung! ICH (ja, ich) bin begeistert (!) – über ein Buch mit „alternate history“, somit einem Untergenre von Science Fiction. Das hier ist sozusagen S/F „soft“ beziehungsweise Science Fiction (gefühlt) ohne Science Fiction (es wurde für Preise in dem Genre nominiert, auch wenn lb es unter „Krimi“ listet). Über weite Teile liest sich das ganze auch wie ein cozy Krimi – das hatte mich in der Leseprobe beruhigt (unbedingt bitte testen für jeden, der hier ähnliche Vorbehalte hat wie Ich – es lohnt sich!!!). Was mich dann weiter zögern ließ: alternative Geschichte spielt ein „was hätte sein können, wenn“ durch, in diesem Fall die Folgen des Flugs von Rudolf Hess nach Großbritannien, um einen separaten Friedensvertrag auszuhandeln (https://de.wikipedia.org/wiki/RudolfHe%C3%9F#FlugnachGroßbritannien). In diesem Buch ist die Ausgangslage, dass es acht Jahre zuvor zu diesem separaten Frieden tatsächlich kam.
Der Grundgedanke gruselte mich – die Leseprobe beginnt mit folgendem und überzeugte mich zum Kauf:
"This novel is for everyone who has ever studied any monstrosity of history, with the serene satisfaction of being horrified while knowing exactly what was going to happen, ....
....rather like studying a dragon anatomized upon a table, and then turning around to find the dragon's present-day relations standing close by, alive and ready to bite."
bzw. (nicht so toll übersetzt)
„Für alle, die sich jemals mit den Ungeheuerlichkeiten der Geschichte beschäftigt haben, schaudernd eigentlich, doch vor Überraschungen sicher, als ginge es um die Autopsie eines toten Drachen, nur um im nächsten Augenblick den sehr lebendigen Nachkommen des Drachen gegenüberzustehen und ihnen ins offene Maul zu starren.“ (Hervorhebungen durch mich)
Ja, insofern kann ich historische Romane zur Nazizeit (bislang eher) lesen, eben WEIL ich das Ende vor Augen habe – aber gut, ich stelle mich dem lebenden Drachen.
Es gibt zwei Hauptpersonen in diesem Buch: einmal Lucy Kahn, geborene Eversley, die mit ihrem Mann David, einem britischen Juden, 1949 ihre Eltern besucht (Jude zu sein ist nach dem Separatfrieden KEIN Vergnügen in Großbritannien, es gibt Quoten für die höhere Ausbildung, zukünftige Kinder werden wohl keine Debütanten sein und so weiter). Die Eltern Lucys gehören zum sogenannten „Farthing Set“, der Gruppe, aus der heraus es zu dem Friedensschluss kam; namensgebend ist das Landgut der Familie und der Handlungsort der Geschichte. Es kommt dort während des Besuchs zu einem Mord, dem Toten wurde ein Davidstern angeheftet. Aufklären soll dies die zweite Hauptperson der Geschichte, Inspektor Carmichael. Er erkennt bald: “There is one law for rich and poor alike which prevents them equally from stealing bread and sleeping under bridges.“ S. 187 (das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen)
Der Beginn des Buches suggeriert mitnichten „alternative Geschichte“, weshalb mir der Einstieg leicht fiel – Lucy besucht 1949 ihre Eltern. Der Plauderton erinnert mich angenehm an etliche Agatha Christie - Krimis (sonst für mich ein Sakrileg, dieser Vergleich). Allmählich werden erste Details eingestreut, die die Zeit klären und das „alternative Setting“. Geschickt der Wechsel zwischen Lucy als Ich-Erzählerin, die eindeutig im Rückblick erzählt, und Inspektor Carmichael in personaler Erzählsituation, also dritte Person mit Innensicht des Inspektors, wesentlich distanzierter dadurch. Die Mordermittlung deckt einige sehr bizarre Umstände auf, Zeugenaussagen lassen Fragen offen und der Leser kann durch die wechselnden Perspektiven durchaus sehr stark mitkombinieren. Mit dieser klassischen Situation des „whodunnit“ lullte mich Autorin Jo Watson quasi ein.
Dann folgt ein Attentatsversuch, die Ereignisse überstürzen sich und die politische Situation drängt sich umso mehr dem Leser auf. Wie die jüdische Köchin der Familie so treffend sagt: “It wasn’t Hitler who broke my window. It wasn’t one mad German – it was the hate that everyone has inside them against the Jews.“ p 243 Ja, ich hatte schon Recht damit, dass mich dieses „alternative Geschichte“-Ding gruselt. Ich hatte schon früh so einige Theorien nach dem altmodischen Krimi-Denken und wurde dann doch überrascht, speziell auch davon, wie wirkungsvoll diese „Verpackungsart“ für das Thema ist.
Ich bin absolut beeindruckt und empfehle dieses Buch, gerade auch in heutiger Zeit angesichts des länderübergreifenden Erstarkens politischer Kräfte, die ich nicht an der Macht sehen mag. In deutscher Sprache unter dem Titel: „Die Stunde der Rotkehlchen“ (nach dem Symbol der Bewegung); dieses Mal meckere ich nicht über die Übersetzung, denn ein Farthing ist eine englische Münze, die im deutschsprachigen Raum wohl kaum jemand kennt. https://en.wikipedia.org/wiki/Farthing(British_coin) – mit dem besagten Rotkehlchen auf der Rückseite. Außerdem ist Farthing der Name des Landsitzes der Handlung (andererseits tragen die Folgebände ebenfalls die Namen von Münzen, während die deutsche Ausgabe „nur“ eine weitere Krimireihe suggeriert, das ist nun mit Verlaub lahm). Die Grundidee ist also ein Alternativ-Buch zu „The Man in the High Castle“/“Das Orakel vom Berge“ von Philip K. Dick, für Großbritannien statt die USA (eines meiner Folgebücher, jetzt gewiss).
6 Sterne.
Manko? Der „Athenian“-Teil erschien mir etwas zahlenmäßig überbeansprucht, soll das jetzt Zuspruch ausdrucken über die einmalige Nutzung für den Plot oder aus Solidarität oder was? (nicht weiter erklärbar ohne Spoiler). Stört aber nicht wirklich.