"Der Ochse spürt sein Joch", sagt sie, "aber spürt der Vogel das Gewicht seiner Flügel?"
Nach "King of Scars" und "Wonder Woman - Kriegerin der Amazonen"" ist die Grisha-Trilogie nun mein drittes Projekt von Leigh Bardugo. Wo "Grisha - Goldene Flammen" inhaltlich als auch sprachlich nur an der Oberfläche kratzte, lässt uns der zweite Teil, "Grisha - Eisige Wellen" schon mehr vom eigentlichen Talent der Autorin sehen. Mit viel Elan, neuen Ideen und interessanten Entwicklungen starten wir in die Fortsetzung und bekommen trotz einiger Schwächen eine atmosphärisch dichte, spannende Überleitung zwischen Auftakt- und Finalband.
Die Gestaltung ist wieder ein Traum und passt wunderbar zu der von Band 1. Erst vor einigen Tagen hat der Knaur Verlag, der schon "King of Scars" und der "Krähen"-Reihe Geburtshilfe geleistet hat, eine neue Auflage der vormals im Carlsen-Verlag erschienenen Grisha-Reihe in einem praktischen Schuber herausgebracht. Neu übersetzt, mit wunderschöner Karte und den hinreißenden Originalcover ausgestattet kann ich jedem Grisha-Fan die neue Ausgabe wirklich nur ans Herz legen. Wie auf dem Originalcover ist auf dunklem Grund die Silhouette eines majestätischen Drachen in hellem Türkis mit goldenen Schlieren zu sehen, wodurch nach dem Hirsch von Band 1 der zweite von Morozovas Kräftemehrern aufgegriffen wird, der in diesem Mittelteil eine wichtige Rolle spielt. Der goldene Titel, Autorenname und die türkisenen Verzierungen in den Ecken runden die Gestaltung gelungen ab.
Erster Satz: "Früher, lange bevor sie die Wahre See befuhren, hatten der Junge und das Mädchen immer wieder von Schiffen geträumt: Schiffe, randvoll mit Geschichten, verzauberte Schiffe mit Masten aus wohlriechendem Zedernholz und mit Segeln aus purem Gold, von Jungfrauen gesponnen."
Auch innerhalb der Buchdeckel bleibt sich die Autorin treu und umschließt ihre Geschichte mit einem kurzen "davor" und "danach" aus der dritten Person. Anscheinend hat sich Leigh Bardugo die Kritik zu ihrem Auftaktband zu Herzen genommen, denn der zweite Band startet mit einer geschickten Wiederholung der Ereignisse des ersten Teils, die schwierigen Orts-, und Personennamen werden beiläufig erklärt und am Ende des Buches wartet ein hilfreiches Glossar auf uns. Die Karte zu Beginn und die Übersicht über die verschiedenen Grisha-Orden helfen dabei, den Überblick zu behalten. Die grundlegenden Konzepte von Bardugos magischer Welt erschließen sich zumeist aus dem Zusammenhang und dem Wortlaut. So haben die Korporalki (Entherzer, Heiler, Bildner) Macht über den menschlichen Körper, Ätheralki sind Beschwörer, die durch gekonnte Manipulation ihre Umwelt kontrollieren können (Feuer = Inferni, Winde = Stürmer und Wasser =Fluter), und Materialki haben sich auf die Beeinflussung von Metallen (Durasten) oder Gifte (Alkemi) spezialisiert.
"Warum kann ein Grisha nur einen Kräftemehrer besitzen? Ich will stattdessen folgende Frage beantworten: Was ist unendlich? Das Universum und die Gier des Menschen."
Neben der magischen Welt der Grisha, die im sogenannten "kleinen Palast" in Ravkas Hauptstadt Os Alta leben, lernen und arbeiten, gibt es auch eine politische Sphäre mit einem Zar und einer Zarin, die im "großen Palast" leben. Und auch abseits der Hauptstadt hält die slawische Fantasywelt voller uralter Wesen, schwarzer Magie und Wunder viel zum Entdecken bereit. Ob mächtige Kräftemehrer aus vergangenen Zeitaltern, die geheimnisvolle Schattenflur voller alptraumhafter Kreaturen oder die kalte Wildheit der Wälder Ravkas - die Autorin erschafft eine einnehmende Welt abseits der sonst so präsenten Vampir-/ Werwolf-/ Zauberer-/ Feen-/ Elfen-/ Zwergen-/ Fae-/ Drachen-/ Nixen-Fantasy.
"Sie dich vor, Nikolai"; sagte Mal leise. "Prinzen bluten genauso wie andere Menschen auch." Nikolai zupfte eine unsichtbare Staubfluse von einem Ärmel. "Ja", sagte er, "aber sie bluten in besserer Kleidung."
Nach dem kurzen Prolog treffen wir in Novyi Zem wieder auf Alina und Mal, die nach dem Kampf auf der Schattenflur gegen den Dunklen abermals auf der Flucht sind. Alina plagen Schuldgefühle und sie weiß nicht, ob sie einfach vor ihrem Schicksal davonlaufen kann. Die Entscheidung, nach Ravka zurückzukehren wird ihr aber schlussendlich vom Dunklen abgenommen, der wider Erwarten überlebt hat und nun Jagd auf seine wertvollste Trophäe macht. Alina und Mal müssen sich entscheiden: wollen sie weiter davonlaufen oder stellen sie sich ihrer Verantwortung und bereiten sich auf den alles entscheidenden Kampf vor, um Ravka vor der Macht des Dunklen zu retten...?
"Die Nichtwesen. Ich erschauderte, als ich mich an ihr Surren und Scharren und ihre gähnenden Mäuler erinnerte. Meine Schulter pochte schmerzhaft.
"Was sind sie?"
(…) Er legte mir eine Hand auf die Wange, und als er sprach, klang er beinahe zärtlich.
"Sie sind nur der Anfang"
Mit dieser Frage beschäftigen sich die 23 kurzen Kapitel, in denen wieder Alina aus der Ich-Perspektive von ihren Erlebnissen und Abenteuern erzählt. Dabei ist die Geschichte nicht so homogen wie der erste Teil aufgebaut sondern lässt drei größere Teile erkennen. Zu Beginn steigen wir mit einer großen Portion Action und mit hohem Tempo in die Geschichte ein. Ganz so als wolle die Autorin alle wichtigen Handlungspunkte schon auf den ersten hundert Seiten abhaken ist das erste Drittel voll mit spannenden und prägenden Szenen. Die Flucht vor dem Dunklen, die Konfrontation mit seiner gesteigerten Macht, die Reise auf einem Walfänger, die Jagd auf den zweiten Kräftemehrer, der Kampf mit einem Eisdrachen, eine blutige Meuterei, eine spektakuläre Flucht mit einem fliegenden Boot, ein weiterer Kampf auf der Schattenflur - all dies passiert auf weniger als hundert Seiten.
"Die Welt verändert sich", sagte Nikolai, und der harte Ton schlich sich in seine Stimme. "Entweder wir verändern uns auch, oder nur der Staub wird sich an uns erinnern."
Und das wäre auch vollkommen in Ordnung so, wenn auf den temporeichen Beginn nicht das lange, sich ziehende Nichts folgende würde, das sich Mittelteil nennt. Denn sobald sich Alina dazu entscheidet, in den Kleinen Palast nach Os Alta zurückzukehren, endet die verrückte Reise durch das fremde, schillernde Ravka wieder und wir fokussieren uns stattdessen auf das Innenleben unserer Protagonistin und ihre Bemühungen, die Zweite Armee zu leiten. Was zuvor auf wenigen Seiten passierte, zieht sich nun in ewigen Wiederholungen hin. Lange Ratssitzungen, trockene Strategiebesprechungen gepaart mit unnötigem Beziehungsstress, alltäglichen Selbstzweifel und ziellose Grübeleien sind ein hundertprozentiger Killer für jegliche aufkommende Spannung. Versteht mich nicht falsch - gegen düstere Stimmung, tiefere Charakterentwicklung, Politik, Intrigen und Beziehungskrisen ist natürlich nichts einzuwenden. Doch leider geht über der Mischung aus all diesen Aspekten die Vorbereitung auf den Kampf gegen den Dunklen zusammen mit der Spannung unter und so dümpelt die Handlung vor sich hin, bis urplötzlich der fulminante Showdown beginnt.
"Glaubst du, ich bin wie der Dunkle?" Ich musterte ihn - die goldblonden Haare, die schneidige Uniform, die etwas zu gerissen dreinblickenden braungrünen Augen. "Nein", sagte ich gedehnt. "Glaube ich nicht. Aber ich habe mich schon einmal geirrt."
Über den plötzlichen Stillstand im Mittelteil, Alinas und die angeknackste Beziehung zwischen Mal und Alina schafft es nur eine einzige Person hinwegzutäuschen, die sich direkt nach ihrer Einführung zu meinem Lieblingsprotagonisten gemausert hat: der Freibeuter Sturmhond, der mit seinem überschäumenden Selbstbewusstsein, seinem charmanten Witz und dem lockeren Abenteuergeist Schwung in die depressive Stimmung bringt. Außerdem ist auch er nicht ganz, was er zu sein scheint und auch wenn für mich die Wendung dank "King of Scars" leider vorhersehbar war, ist sein Auftritt eine herrlich überraschende Bereicherung für die Geschichte, die viel düsterer und erwachsener wirkt als Band 1.
"Der Dunkle wird dich für den Rest deiner Tage jagen."
"Dann hätten wir etwas gemeinsam, nicht wahr? Außerdem habe ich gerne mächtige Feinde. Gibt mir das Gefühl, wichtig zu sein."
Mal verschränkte die Arme vor der Brust und betrachtete den Freibeuter. "Bist du verrückt oder einfach nur dumm?"
"Schwer zu sagen", erwiderte Sturmhond, "ich habe so viele gute Eigenschaften."
Das hat hauptsächlich damit zu tun, dass Alina sich immens verändert. Vormals unscheinbar, völlig durchschnittlich - kurz: ein unsichtbarer Niemand - gewesen, muss sie jetzt mit der Macht zweier Kräftemehrer leben. Doch nicht nur ihre Macht, die sie immer noch nicht vollkommen versteht, belastet sie sondern auch die Verantwortung für die Rettung von ganz Ravka, die seit der Zerstörung von Novokribirsk durch den Dunklen auf ihren Schultern ruht. Als wäre das noch nicht genug, hat der Asket den Kult der Sonnenkriegerin ins Leben gerufen und schart nun eine Armee aus Pilgern um sich, die Alina als Heilige verehren. Am allermeisten ängstigt sie jedoch nicht, was der Dunkle, der Zar, der Asket oder die Bevölkerung Ravkas von ihr wollen, sondern vor allem, nach was es sie selbst verlangt.
"Ich sah zu den Sternen auf. Der Himmel war wie schwarzer Samt, übersäht von Edelsteinen. Auf einmal wurde ich von einem unstillbaren Verlangen erfüllt. Ich will es, dachte ich. All das Licht, die ganze Macht. Ich will alles."
Denn auch wenn sie es nicht wahrhaben will, beginnt ihr die Macht zu gefallen und sie sehnt sich insgeheim nach mehr. Sie hat Angst vor dem wahren Grund, weshalb sie den dritten von Morozovas Kräftemehrern, den Feuervogel, unbedingt finden muss, vor der dunklen Verlockung der Macht und vor der Wahrheit, wie tief das Band zum Dunklen wirklich ist, der ihr immer wieder erscheint. Wird sie verrückt, hat sie Halluzinationen oder sind die beiden tiefer verbunden als sie es ahnt...? All diese Ängste, Erwartungen und Sehnsüchte machen ihr sehr zu schaffen und so ist sie deutlich reizbarer, wankelmütig und verhält sich zunehmend unverständlich. Dies und auch die unterschiedliche Stellung am "kleinen Palast" treibt langsam einen Keil zwischen Mal und sie und schadet auch ihrer Beziehung zum Leser. Denn dass sie dem Weg des leichtesten Widerstands folgend Problemen aus dem Weg geht und Ignoranz, Arroganz und Machtgier die herrlich normale Identifikationsfigur überlagern, macht sie zu keiner wirklichen Sympathieträgerin mehr. Auf der einen Seite verleiht ihr das eine neue Tiefe und ich kann nur begrüßen, dass sie nicht zur mächtigen, heiligen, perfekten Überheldin wird wie das leider oft in Fantasy-Bücher passiert. Auf der anderen Seite sind ihre ständigen Selbstzweifel, ihre ziellosen Grübeleien über ihr Verhältnis zu Mal, dem Dunklen, oder -ganz neu - zu Nikolai sowie ihre Machtgier wirklich anstrengend.
"Ich hatte zu Mal gesagt, dass es das Mädchen nicht mehr gab, das ich einst gewesen war. Und er verschwand besser, bevor er merkte, wie wahr diese Worte waren. (…)
"Weißt du, wie es Helden und Heiligen ergeht, Nikolai?", fragte ich, klappte das Buch zu und ging zur Tür. "Am Ende finden sie alle den Tod."
Auch Mal bekommt im Mittelteil Zeit, sich zu verändern. Zuvor war er bloß der typisch treue, gutaussehende Freund und Schwarm, neben dem sie immer schlecht dastand - bis sie ihn durch ihre Macht in den Schatten stellt und ihn dazu zwingt, etwas anderes in ihr zu sehen, als seine beste Freundin. Nun hat sich ihr Verhältnis komplett gedreht und er ist das blasse, machtlose Anhängsel, das nicht so ganz in Alinas Welt im "kleinen Palast" passen will. Trotz dass mein Bild von ihm durch Eifersucht, Prügeleien und den Griff zur Flasche etwas verfremdet wird, gefiel mir gut, dass er mehr Farbe erhält und sich nicht in die langweilige "perfekter Freund und Unterstützer"-Ecke drängen lässt.
"Dein Freund amüsiert sich offenbar köstlich." Ich zuckte mit den Schultern. "Das ist typisch Mal. Wenn du ihn unter Meuchelmörder der Fjerdan absetzten würdest, würden sie ihn bald darauf auf den Schultern tragen. Er blüht an jedem Ort auf, an den man ihn stellt."
"Und du?"
"Ich bin eher ein Unkraut", antwortete ich trocken.
Tamar grinste. "Ich mag Unkräuter", sagte sie und glitt von der Reling um die herumliegenden Taue aufzusammeln. "Sie sind Überlebenskünstler."
Sehr schön sind auch wieder die Nebenfiguren die auch zum Teil weiter entwickelt werden. Wir sehen hier einige bekannte Figuren wie die eigenwillige, geheimnisvolle Baghra, die wie eine Märchenhexe erscheint aber ein weiches Herz hat wieder, treffen die wunderschöne Genya, die ihr Herz an einen nerdigen Fabrikator verloren hat oder den erbarmungslose Botkin mit dem Meister-Yoda-ähnlichen Shu-Akzent wieder, bekommen mit Sturmhonds Crew und insbesondere auch den beiden Entherzern Tamar und Tolya spannende neue Nebenprotagonisten.
. Eine sehr spannende Figur ist außerdem immer noch der Dunkle (Symbol siehe rechts), der zu Beginn schwer einzuschätzen war, auch wenn ihn sein Name schon als "Bösewicht" der Geschichte entlarvte. Alle, die hinsichtlich seiner Ziele noch auf eine Wendung gehofft hatten, muss ich leider enttäuschen: der Dunkle bleibt leider der Böse und offenbart in seiner Rolle als Eroberer und Zerstörer immer mehr Abgründe.
"Einen Lidschlag stand sie in der Luft: mit durchscheinenden, schwingenartigen Flossen, schimmernden Schuppen, zornigen roten Augen. Wassertropfen flogen von ihrer Mähne, und als sie die gewaltigen Kiefer aufriss, zeigten sich eine rosafarbene Zunge und Reihen glitzernder Zähne. (…) Eine zweite Harpune traf ihr Ziel, und die Meeresgeißel setzte zu einem Gesang an, schöner als alles, was ich jemals gehört hatte - wie ein vielstimmiger Chor, der ein wortloses Klagelied intonierte. Nein, wurde mir bewusst, kein Lie. Die Meeresgeißel schrie, während sie sich in den Fluten wand und krümmte und die Widerhaken der Harpunen abzuschütteln versuchte.
Du musst kämpfen, flehte ich im Stillen.
Wenn er dich einmal in den Fängen hat, lässt er dich nie wieder los."
Was die Handlungsschwäche im Mittelteil aber eindeutig wett macht, ist die düstere, erwachsenere, dichtere Atmosphäre, die durch Leigh Bardugos gereiften, sichereren Stil geschaffen wird. Wo die Autorin zuvor noch auf vorsichtige Skizzen gesetzt hat, holt sie hier den Farbpinsel hervor und gibt so nicht nur ihrem Setting sondern auch ihren Protagonisten mehr Farbe und Kontur. Düster, magisch und spannend webt sie ihre Geschichte, nimmt uns mit an schillernde Schauplätze und schockt uns mit Überraschungen. Dabei tragen nie Kämpfe, Intrigen, Brutalität und Irrglaube den Sieg davon, sondern immer Mitgefühl, Freundschaft und Liebe, sodass sich die Geschichte liest wie ein Märchen: mal düster und bedrohlich, mal leuchtend bunt und immer wunderschön! Zwar ist der Umfang mit 448 Seiten immer noch im unteren Bereich für ein Fantasy-Roman und hie und da blitzt noch das Potential für mehr Epos und Detailreichtum hervor, sie reicht hier aber schon viel näher an die intensiven Gefühle, die imposante Bildgewalt und die drängende Bedeutung, die ich aus ihren anderen Werken kenne. Durch die schnell wechselnden Schauplätze und Situationen ist die Geschichte herrlich komplex und wir können weitere Teile des Grisha-Verse kennenlernen.
Ich freue mich nun sehr auf den letzten abschließenden Teil und hoffe, dass Alina, Mal, Genya, Nikolai und all die anderen den Dunklen ein für alle mal besiegen können.
"Ich blickte zur Sonne auf, spürte die Meeresbrise auf meiner Haut und sagte: "Ich will unbedingt frei sein."
"Solange der Dunkle lebt, bist du nicht frei. Genauso wenig wie dein Land. Und das weißt du."
Fazit:
Mit viel Elan, neuen Ideen und interessanten Entwicklungen starten wir in die Fortsetzung und bekommen trotz einiger Schwächen eine atmosphärisch dichte, spannende Überleitung zwischen Auftakt- und Finalband.
Eine magische Geschichte über Freundschaft, Schönheit, Selbstwahrnehmung, Dazugehören, unerwiderte Liebe, Manipulation, Verrat, Dunkelheit und Licht!