Ein Rückblick aufs ganze Leben
All die JahreNora Rafferty, Irin in erster Generation in den Vereinigten Staaten von Amerika, wird mit Anfang siebzig zu einem Rückblick auf ihr bisheriges Leben gezwungen. Aus einem Anlass, der alles andere ...
Nora Rafferty, Irin in erster Generation in den Vereinigten Staaten von Amerika, wird mit Anfang siebzig zu einem Rückblick auf ihr bisheriges Leben gezwungen. Aus einem Anlass, der alles andere als ein beneidenswerter ist: nämlich der Unfalltod ihres ältesten Sohnes, zugleich ihr Liebling.
Nora blickt auf ein intensives und wechselvolles Leben zurück - ein Rückblick, in den der Leser einbezogen wird. Mit Anfang 20 ist sie aus einem kleinen irischen Ort ihrem Verlobten Charlie in das Land der unbegrenzten Möglichkeiten gefolgt und zwar nicht allein. Sie reiste gemeinsam mit ihrer jüngeren Schwester Theresa, zu der sie bereits seit vielen Jahren keinen Kontakt mehr hat.
Doch was sind die Gründe? Nicht nur Nora, inzwischen verwitwet, Mutter von vier - nun, jetzt nur noch drei Kindern - sondern die gesamte erweiterte Familie Rafferty, blickt zurück und zieht eine Bilanz - jeder für sich, wodurch das Bild eines komplexen Gefüges, in dem Geheimnisse eine große Rolle spielen, sichtbar wird.
Die Autorin J. Courtney Sullivan lässt ihre Charaktere sich schonungslos öffnen, ihr tiefstes Inneres preisgeben - wenn auch in vielen Fällen nur dem Leser. Denn in der Familie Rafferty ist ein jeder auf seine Art einsam, der eine mehr, der andere weniger. Bei dem einen betrifft dies nur das Familiengefüge bzw. Teile davon, beim anderes geht es tiefer, durchdringt all seine Lebensbereiche. Dazu kommt im Verlauf der Lektüre die Erkenntnis, dass das Gefüge "Familie" auf verschiedenerlei Art existieren kann, auch innerhalb eines einzigen Familienverbandes. Familie: das kann so vieles sein. Oder eben auch nicht!
Und es gibt Dinge, die sich nicht so einfach aus der Welt schaffen lassen - vor allem nicht, wenn man als Irin in die Staaten kommt und dort eine neue Existenz aufbaut. Nora hat vieles hinter sich gelassen - in jederlei Hinsicht.
Ein Buch, das aus meiner Sicht eine gewisse Ähnlichkeit mit den Romanen von Alison Lurie hat, Teile davon rücken für mich auch in die Nähe der großartigen Anne Tyler. Wobei hier der Aspekt der Einwanderung, die Frage der eigentlichen Heimat zumindest für die Generation Noras, die ältern also, eine große Rolle spielt. Was ist Heimat und wie kann man die Sehnsucht nach ihr befriedigen? J. Courtney Sullivan schreibt sehr mitreißend und eindringlich, kolpotiert das eigentlich schwere Thema mit gekonnter Leichtigkeit, stellenweise auch mit Humor. Das Buch lässt sich leicht weglesen, entbehrt aber durchaus nicht einer gewissen Tiefe, eines wahrhaftig hohen inhaltlichen Anspruchs. Es bleibt ein tiefer Eindruck, der sich nicht so schnell verflüchtigen wird. Gerade deswegen ist es aus meiner Sicht ein richtiger Schmöker - einer mit Niveau, ein Buch, das ich mit Genuss und Gewinn gelesen habe!