Profilbild von TochterAlice

TochterAlice

Lesejury Star
offline

TochterAlice ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit TochterAlice über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 23.01.2018

1944 war ein schlimmes Jahr

Unter der Drachenwand
0

Für den jungen Soldaten Veit Kolbe ergibt sich im letzten Kriegsjahr eine Zwangspause: nach einer Verletzung wird er auf unbestimmte Zeit in den Krankenstand versetzt und auf Erholungsurlaub nach Wien ...

Für den jungen Soldaten Veit Kolbe ergibt sich im letzten Kriegsjahr eine Zwangspause: nach einer Verletzung wird er auf unbestimmte Zeit in den Krankenstand versetzt und auf Erholungsurlaub nach Wien zu seinen Eltern geschickt, wo er es bald jedoch nicht mehr aushält. Er verzieht sich ins Salzburger Land, an den idyllischen Mondsee, wo er auf andere Gestrandete wie die junge Mutter Margot aus Darmstadt oder auch eine aus Wien verschickte Schulklasse mit 13jährigen Schülerinnen trifft. Dazu kommen die Ansässigen, teilweise durchaus stramme Nazis, dem Regime noch treu ergeben.

Frei nach John Fante: 1944 war (auch) ein schlimmes Jahr. Ein absolut grauenvolles sogar, eines mit wenig Hoffnung. Überall. Auch in Mondsee. Doch Arno Geiger zeigt vor allem durch seinen Protagonisten Veit Kolbe, dass es weitergeht Für ihn persönlich vor allem dadurch, dass ihm völlig unerwartet und zunächst zögerlich in Gestalt von Margot die Liebe begegnet.

Obwohl es eine ausweglose Situation zu sein scheint, schmieden Veit und Margot - und nicht nur sie - Pläne für die Zukunft. Konkrete, so wie die Absprache möglicher Treffpunkte für die Zeit "danach", aber auch solche genereller Art, nämlich für ein gemeinsames Familienleben. Ein Familienleben in friedlicher Zeit, auch wenn der Begriff "Frieden" hier gar nicht genutzt wird. Dazu ist der Krieg auch in Mondsee zu präsent - ständig überfliegen Kriegsflieger, also Luftwaffen auf dem Weg an die letzten Schauplätze des Krieges, den Ort, die ersten Vertriebenen kommen an, junge Mädchen befinden sich in der Verschickung aus ihrer Heimatstadt Wien.

Veit beginnt nicht erst jetzt, an seinem "Dienstherrn"- so bezeichnet er nicht ohne Sarkasmus das nationalsozialistische Regime - zu zweifeln und bringt sich nicht nur durch entsprechende Aussagen mehrfach in Schwierigkeiten. Veit ist unser Auge, er ist derjenige, durch den der Leser die Welt - die im Roman dargestellte - betrachtet.

Mondsee wird zum Mikrokosmos, in dem unterschiedliche Gesinnungen, ja verschiedene Welten, aufeinanderprallen. Der eigentlich idyllische Ort wird von den Schrecken des Krieges und allem, was dieser mit sich bringt, eingeholt - so finden auch Schicksale von Menschen andernorts in Briefform Eingang in die Geschichte, beispielsweise das eines Juden, der mit seiner Familie auf der Suche nach einem Fluchtweg aus Wien ausgerechnet nach Budapest reist, wo er erkennen muss, dass die Nazis ihm einen Schritt voraus sind.

Arno Geiger stellt mit diesem Roman seine Leser vor eine Herausforderung: sein Erzählstil ist sehr speziell, doch wenn man einmal hineingefunden hat, dann erscheint er als der einzig Richtige, um die Situation darzustellen. Ein besonderer Roman auf jeden Fall, auch ein schmerzhafter, dieses Werk, das das (Über)Leben, das Alltägliche im letzten vollständigen Kriegsjahr beschreibt. Und dem Rezipienten deutlich macht, was für ein Glück es ist, im "Danach" geboren zu sein und zu leben. Ein Glück, mit dem man achtsam umgehen sollte.

Ich kann nur empfehlen, diese Herausforderung anzunehmen: dieses Buch ist ein besonderes Geschenk an die Leser - eines, das tatsächlich neue Welten - in diesem Fall neue Sichtweisen, Perspektiven, auch Einsichten - aufzeigt und dazu beiträgt, das Bewusstsein zu erweitern. Man muss es nur zu nehmen - vielmehr zu lesen - wissen. Dann könnte es ein Roman fürs Leben werden.

Veröffentlicht am 21.01.2018

Ein Rückblick aufs ganze Leben

All die Jahre
0

Nora Rafferty, Irin in erster Generation in den Vereinigten Staaten von Amerika, wird mit Anfang siebzig zu einem Rückblick auf ihr bisheriges Leben gezwungen. Aus einem Anlass, der alles andere ...

Nora Rafferty, Irin in erster Generation in den Vereinigten Staaten von Amerika, wird mit Anfang siebzig zu einem Rückblick auf ihr bisheriges Leben gezwungen. Aus einem Anlass, der alles andere als ein beneidenswerter ist: nämlich der Unfalltod ihres ältesten Sohnes, zugleich ihr Liebling.

Nora blickt auf ein intensives und wechselvolles Leben zurück - ein Rückblick, in den der Leser einbezogen wird. Mit Anfang 20 ist sie aus einem kleinen irischen Ort ihrem Verlobten Charlie in das Land der unbegrenzten Möglichkeiten gefolgt und zwar nicht allein. Sie reiste gemeinsam mit ihrer jüngeren Schwester Theresa, zu der sie bereits seit vielen Jahren keinen Kontakt mehr hat.

Doch was sind die Gründe? Nicht nur Nora, inzwischen verwitwet, Mutter von vier - nun, jetzt nur noch drei Kindern - sondern die gesamte erweiterte Familie Rafferty, blickt zurück und zieht eine Bilanz - jeder für sich, wodurch das Bild eines komplexen Gefüges, in dem Geheimnisse eine große Rolle spielen, sichtbar wird.

Die Autorin J. Courtney Sullivan lässt ihre Charaktere sich schonungslos öffnen, ihr tiefstes Inneres preisgeben - wenn auch in vielen Fällen nur dem Leser. Denn in der Familie Rafferty ist ein jeder auf seine Art einsam, der eine mehr, der andere weniger. Bei dem einen betrifft dies nur das Familiengefüge bzw. Teile davon, beim anderes geht es tiefer, durchdringt all seine Lebensbereiche. Dazu kommt im Verlauf der Lektüre die Erkenntnis, dass das Gefüge "Familie" auf verschiedenerlei Art existieren kann, auch innerhalb eines einzigen Familienverbandes. Familie: das kann so vieles sein. Oder eben auch nicht!

Und es gibt Dinge, die sich nicht so einfach aus der Welt schaffen lassen - vor allem nicht, wenn man als Irin in die Staaten kommt und dort eine neue Existenz aufbaut. Nora hat vieles hinter sich gelassen - in jederlei Hinsicht.

Ein Buch, das aus meiner Sicht eine gewisse Ähnlichkeit mit den Romanen von Alison Lurie hat, Teile davon rücken für mich auch in die Nähe der großartigen Anne Tyler. Wobei hier der Aspekt der Einwanderung, die Frage der eigentlichen Heimat zumindest für die Generation Noras, die ältern also, eine große Rolle spielt. Was ist Heimat und wie kann man die Sehnsucht nach ihr befriedigen? J. Courtney Sullivan schreibt sehr mitreißend und eindringlich, kolpotiert das eigentlich schwere Thema mit gekonnter Leichtigkeit, stellenweise auch mit Humor. Das Buch lässt sich leicht weglesen, entbehrt aber durchaus nicht einer gewissen Tiefe, eines wahrhaftig hohen inhaltlichen Anspruchs. Es bleibt ein tiefer Eindruck, der sich nicht so schnell verflüchtigen wird. Gerade deswegen ist es aus meiner Sicht ein richtiger Schmöker - einer mit Niveau, ein Buch, das ich mit Genuss und Gewinn gelesen habe!

Veröffentlicht am 14.01.2018

Ein Traum in Vinyl

Mister Franks fabelhaftes Talent für Harmonie
0

1988 in einer eher bescheidenen englischen Stadt: Frank ist Herr der schwarzen Scheiben, nämlich derer, über die Musik erklingt. Der guten alten Schallplatten also, die sich zu der Zeit bereits auf dem ...

1988 in einer eher bescheidenen englischen Stadt: Frank ist Herr der schwarzen Scheiben, nämlich derer, über die Musik erklingt. Der guten alten Schallplatten also, die sich zu der Zeit bereits auf dem Rückzug befinden, denn das Zeitalter der CDs schreitet voran.

Und auch sonst ist so einiges im Wandel im der kleinen, ein bisschen schäbigen Unity Street, in der es die Bewohner doch so nett miteinander haben. Aber wie lange noch? Denn eine Baugesellschaft versucht alles aufzukaufen, was sie in die Finger kriegt.

Aber das ist nicht Franks einzige Sorge, denn ihm begegnet die Liebe - eine Liebe, mit der er sich aufgrund diverser Erfahrungen in seinem bisherigen Leben - und er ist immerhin schon vierzig - schwertut, zumal er zunächst gar nicht weiß, wie die Frau im grünen Mantel die Sache sieht.

Und dann werden die Akteure in der Unity Street vom Leben überrollt und es gibt einen Break. Einen, der ziemlich lange dauert.

Aber es gibt ein danach - und was für eines. Ziehen Sie sich warm an!

Eine Hymne auf die gute alte Schallplatte und mehr noch auf den Zusammenhalt alter Freunde, vor allem aber auf die Liebe! Diese kann nämlich ganz schön seltsame Wege gehen und ist nicht immer so offensichtlich, wie es zu wünschen wäre.

Die Autorin Rachel Joyce hat hier ein modernes Märchen verfasst, allerdings eins mit ganz schön vielen Ecken und Kanten. Und mit ganz viel Augenzwinkern dabei - eben very british! Wenn auch einiges nicht ganz rund ist, ist die ganze Geschichte so originell und warmherzig, dass ich bereit war, mich ganz und gar und vollkommen ohne Einschränkungen darauf einzulassen und mich darin zu verlieren - oder vielmehr wiederzufinden! Denn wer wünscht sich nicht ein wenig Märchenhaftes in seinen Alltag. Frank und die seiniges Leben das - zumindest in diesem Buch!

Ein Märchen in Vinyl also - mit Helden der anderen Art! Ein bisschen wie Du und ich, aber doch etwas ganz Besonderes! Dabei schrullig und sehr, sehr eigen! Engländer eben, die meisten zumindest! Ein Buch, mit dem man sich selbst und diejenigen, die man ganz besonders mag, versorgen sollte!

Veröffentlicht am 09.01.2018

Hamburg in der Zeit des Nationalsozialismus und in der Gegenwart

Die Oleanderfrauen
0

ist der Handlungsort des neuen Familienromans von Teresa Simon. In den 1930er Jahren hat Sophie, obwohl aus gutem, ja wohlhabenden Hause - nämlich einer sogenannten Kaffeehandelsdynastie - ein schweres ...

ist der Handlungsort des neuen Familienromans von Teresa Simon. In den 1930er Jahren hat Sophie, obwohl aus gutem, ja wohlhabenden Hause - nämlich einer sogenannten Kaffeehandelsdynastie - ein schweres Schicksal zu erleiden. Wobei das auch, aber nicht nur mit ihren persönlichen Erlebnissen zu tun hatte: Hamburg hatte im zweiten Weltkrieg viel, schwer und auch bereits relativ früh unter Bombardierungen zu leiden und auch in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg war das Leben für die Bürger der Stadt nicht gerade einfach.

Da hat es Jule, die es 2016 aus dem Erzgebirge in die Hansestadt verschlägt, trotz diverser Widrigkeiten doch vergleichsweise leichter. Ihre Probleme sind die steigende Miete für ihr Café "Strandperlchen" sowie Liebeskummer. Auf der anderen Seite jedoch macht sie in ebendiesem Café eine Reihe - meist angenehmer - interessanter Bekanntschaften, von denen nicht wenige ihr bei der Etablierung eines zweiten Standbeines, nämlich dem Recherchieren und Verfassen von Familienerinnerungen, behilflich sind - als Auftraggeber nämlich.

In diesem Zusammenhang stößt Jule auch auf Sophies Geschichte, diese hat nämlich Tagebuch geführt. Mit diesem entführt sie sowohl Jule als auch die Leser in eine spannende Vergangenheit.

Ein wie immer sehr anschaulich und gut recherchiertes Buch, das ich mit Begeisterung gelesen habe und über weite Strecken nicht aus der Hand legen konnte. Da hat es mich auch nur wenig gestört, dass die Zufälle streckenweise Überhand nahmen und etwas zu konstruiert daherkamen.

Aber eines hat mich wirklich gestört und da kann die Autorin, deren Werke mir allesamt ans Herz gewachsen sind, nun wirklich nichts für: Sophies Tagebuch ist in einem Schriftbild abgedruckt, das zwar keineswegs zu klein, wohl aber zu filigran ist, um es problemlos lesen zu können! Eigentlich waren mir diese Passagen oft die liebsten, aber dennoch war ich immer froh, wenn eine davon vorbei war und ich mich wieder bei der Lektüre in der normalen Schrift "erholen" konnte. Dennoch, die Mühsal lohnt sich definitiv - einmal mehr ist Teresa Simon ein warmherziges, dabei historisch fundiertes Buch mit gut angelegten Charaktern gelungen, dessen Lektüre Spaß macht und gleichzeitig - quasi nebenbei - bildet bzw. informiert.

Veröffentlicht am 08.01.2018

Warte nicht bis zum Frühling mit Arturo Bandini

Der Weg nach Los Angeles
0

sondern gönne ihn Dir jetzt gleich - in einem ganz jungen Format ist er hier zu "erlesen", nämlich in einem Frühwerk des großen John Fante, dessen Ruhm, den er zu einem nicht geringen Teil Charles Bukowski ...

sondern gönne ihn Dir jetzt gleich - in einem ganz jungen Format ist er hier zu "erlesen", nämlich in einem Frühwerk des großen John Fante, dessen Ruhm, den er zu einem nicht geringen Teil Charles Bukowski verdankt, leider erst nach seinem Tod erstrahlte. Gerade auch dieses Buch, das erste des Autors zu DER von ihm geschaffenen Figur, ist tatsächlich auch in den Staaten erst 1984 und somit nach Fantes Tod erschienen.

Arturo Bandini - ein Italoamerikaner der ungewöhnlichen Art, ein Alter Ego des Autors: definitiv kein Mafiosi, wenn er auch längst nicht immer brav bleibt. Er ist genial, eingebildet, größenwahnsinnig, dreist, kindisch, frühreif, verwegen, feige und noch vieles mehr und in dieser Widersprüchlichkeit sozusagen eine normaler junger Mensch und auch gerade wieder nicht. Arturo Bandini will früh Schriftsteller werden und zwar nicht gerade irgendeiner. Aus kleinen Verhältnissen kommend, von Mutter und Schwester ständig niedergemacht, ein quasi unmögliches Unterfangen.

Fantes Literatur: das ist definitiv eher Männerliteratur, ebenso wie Bukowski. Finde ich als Frau. Aus meiner Sicht ist dies ein wirklich großes Werk, wenn ich es auch wahrscheinlich in seiner Gänze nicht wertschätzen kann, dafür habe ich es nicht gern genug gelesen. Aber das liegt nicht an der Qualität der Darstellung, sondern mehr am Thema - also eher mein Problem.

Was ich durchaus zu schätzen weiß, ist die außerordentlich liebevoll und gründlich aufbereitete Neuübersetzung durch Alex Capus, der selbst einige aus meiner Sicht nicht unbedeutende Romane verfasst hat. Wieviele Gedanken er sich gemacht hat, wie intensiv er sich sowohl mit der Person Fante in ihrer Gesamtheit als auch mit diesem konkreten Text beschäftigt hat, das zeigt das ausführliche Nachwort. Ich habe selbst schon häufiger übersetzt (wenn auch keine anspruchsvolle Literatur) und ich habe gerade auch die Ausführung zu seiner Übersetzungsarbeit, zur Auseinandersetzung mit dem Text als sehr bereichernd empfunden.

Kurzum: es ist ein Geschenk, das der Blumenbar Verlag uns hier mit diesem Band macht: wer gerne ein in jeder Hinsicht gelungenes Buch genießen möchte (auch Optik und Haptik betreffend), der greife hier bei dieser kleinen Kostbarkeit zu.