Christoph Maria Herbst liest einfach großartig. Alle Figuren haben ihre einzigartige, unverwechselbare Stimme, so dass man gut verfolgen kann, wer gerade redet. Er liest mit einer wundervollen Betonung, die die Geschichte noch aufregender macht. Ja, ich muss sagen, dass ich mich mit seiner Stimme und seiner Art zu lesen wirklich wohlgefühlt habe.
Der Schreibstil von Michael Ende ist wirklich toll. So ausführlich, dass man sich alles sehr gut vorstellen kann, sei es Lummerland mit seinen Bewohnern Emma, Lukas, der Lokomotivführer, Jim Knopf, Herrn Ärmel, Frau Waas und nicht zuletzt ihrem König, Alfons der Viertel-vor-Zwölfte. Wörter, die Kinder wahrscheinlich nicht kennen, wie z. B. kalfatern oder Tender werden sofort erklärt und so habe ich auch noch ein bisschen was dazu gelernt, denn auch ich kannte das Wort „kalfatern“ bisher nicht. Mir ist das früher gar nicht so aufgefallen, aber neben einer spannenden Geschichte lernen Kinder hier auch wirklich viele Dinge kennen. So erklärt Lukas uns, was eine Fata Morgana ist und wie sie entsteht oder wir steigen in einen Vulkankrater hinab.
Die Geschichte ist für mich so wundervoll, wie sie es vor 30 Jahren war. Oft ist es ja so, dass man, wenn man als Erwachsener geliebte Kinderbücher wieder zur Hand nimmt, man eher enttäuscht ist. Hier war das nicht der Fall. Ich konnte mich von der ersten Minute an wieder auf die Geschichte von Jim und Lukas einlassen. Ich wartete förmlich schon auf geliebte Szenen. Sei es das Zusammentreffen mit PingPong in Mandala oder das Treffen mit dem Scheinriesen. Spannend wurde das Ganze dann natürlich nochmal, als Jim, Lukas und Emma in der Drachenstadt ankamen und auf Frau Mahlzahn trafen. Ja, ich muss wirklich sagen, dass mich auch als Erwachsene die Geschichte von Jim und Lukas noch mitten ins Herz trifft.
Lukas hat das Herz am rechten Fleck. Er ist mutig und trotz seiner Behäbigkeit wirklich schlau. Nicht im Sinne von über eine Schule gebildet, sondern einfach klug. Er durchdenkt Dinge und findet eine Lösung dafür. Er passt auf Jim und Emma gut auf und geht keine unnötigen Risiken ein. Er ist bereit, auch mal zu flunkern, wenn es der Sache dienlich ist, macht den Hörern aber immer gleich klar, dass das eigentlich nicht gut ist. Dies geschieht aber nie mit erhobenem Zeigefinger, sondern eher so nebenbei.
Jim ist ein aufgeweckter kleiner Junge. Ab und an rutscht ihm auf der großen Reise schon das Herz in die Hose, aber mit Lukas an seiner Seite kann nichts passieren. Wenn es nötig ist, dann beweist auch Jim einen Löwenmut.
Was man definitiv erwähnen muss ist, dass die Szenen nicht an die heutige Zeit angepasst wurden, was wahrscheinlich auch relativ schwierig wäre, ohne den Sinn des Buches zu verändern. Bei einigen Kinderbüchern wurde dies ja gemacht, wie z. B. mit Pippi Langstrumpf, wo es aber den Sinn nicht verändert. Hier wäre es sicher an einigen Stellen auch möglich, aber wohl eher nicht im gesamten Buch. Jim Knopf ist ein Neger (so nennt König Alfons der Viertel-vor-Zwölfte Jim nach wie vor) und Frau Waas findet, dass seine schwarze Farbe ganz bezaubernd zu ihre rosafarbenen Einrichtung passt. So ziehen sich durch dieses Buch so einige Szenen, bei denen einem heute doch ein Schaudern über den Rücken läuft. Es ist von den Figuren nicht böse gemeint, denn alle lieben den kleinen schwarzen Jim Knopf, dennoch ist es, aus heutiger Sicht, eindeutig rassistisch und würde heute so nicht mehr geschrieben werden. Ich bin ein bisschen zwiegepalten, wie ich das finden soll. Mir hat es die Hörfreude nicht getrübt, ich bin nur kurz innerlich zusammengezuckt, aber ich kann durchaus nachvollziehen, dass sich Betroffene davon sehr berührt fühlen und ein solches Buch nicht hören möchten.
Nicht schlimm finde ich persönlich, dass auch die Kinder so beschrieben sind, wie es eben zu der Zeit, als Michael Ende Bücher geschrieben hat, war. Die Mädchen haben Angst, als sie auf Emma unterwegs sind, eben weil Mädchen nicht mutig sind und Li Si freut sich total über ein Waschbrett, das sie von Jim zur Verlobung erhält. Ich weiß, dass auch dies einigen Lesern sauer aufstoßen könnte. Mich persönlich stört sowas nicht. Aber ich will es hier erwähnen, dann kann jeder selbst entscheiden, ob er eine solche Geschichte hören möchte bzw. seinen Kindern zum hören geben will.
Tja… was soll ich sagen. Ich habe lange überlegt, wieviele Federn ich vergebe. Darf man einem Buch, das aus heutiger Sicht eindeutig rassistische Inhalte besitzt eigentlich 5 Sterne geben? Ich weiß es ehrlich gesagt nicht wirklich. Ich weiß aber, dass ich mich letzten Endes für 5 Sterne entschieden habe. Ich liebe Jim Knopf und Lukas als Figuren und ich liebe die Gesamtgeschichte. Ich finde die Abenteuer von Jim und Lukas nach wie vor unheimlich spannend geschrieben und habe jede einzelne Minute des Buches genossen. Bei Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer handelt es sich um einen Kinderbuchklassiker, der aus meiner Sicht einfach grandios geschrieben ist. Sicher muss man darüber diskutieren und den Kindern, denen man es vorliest vermitteln, dass einiges in dem Buch heute gesellschaftlich nicht mehr angebracht ist, aber das macht das Buch für mich nicht weniger zu einem Meisterwerk seiner Zeit. Der wunderbare Sprecher, Christoph Maria Herbst, schafft es, nochmal eine Schippe draufzulegen und den Hörer in den Bann der Geschichte zu ziehen.
Jeder muss für sich entscheiden, ob er das Buch heute noch hören möchte oder nicht.