Der Hase im Rausch
Blasse HeldenDer Deutsche Anton lebt im Russland der 90er. Er kam bewusst für das Neue, die Freiheit, und lebt gut mit und von den Unwägbarkeiten, der Korruption, den Mängeln, den unglaublichen Möglichkeiten für Reichtum ...
Der Deutsche Anton lebt im Russland der 90er. Er kam bewusst für das Neue, die Freiheit, und lebt gut mit und von den Unwägbarkeiten, der Korruption, den Mängeln, den unglaublichen Möglichkeiten für Reichtum auf krummen Pfaden, wie sie die neuen Russen gehen. „Diese Stadt war für ihn geschaffen, sie verzieh alles, auch seinen Mangel an Grundsätzen, Substanz, Tiefe.“ S 142 Er ist der „Mr. Fix-it“, sein Chef gibt den „Grußaugust“. Mit Anton hangelt sich der Leser durch die Kuriositäten des post-sowjetischen Alltags, von Bären, die auf Privatfeiern verloren gehen, über als angebliche Zwangs-Sanierungen getarnte Wohnungsenteignungen bis hin zum Versicherungsbetrug mit Nichts. Vieles wirkt skurril-surreal, so beim Polizeiprotokoll zu einer zerschossenen Scheibe, von den Polizisten verharmlost: „Anton unterschrieb als Franz Kafka, und sie verabschiedeten sich.“ S. 256
Der Realität entflieht Anton durch die Oper, das Theater, Literatur – und die Frauen, natürlich. Dabei bleibt er meist Spötter: „Anton überlegte, ob Dascha sich vielleicht aus Trübsinn über die desolate Ehe der Kirche zugewandt hatte. Jemand musste die schöne Frau vor derlei Unfug bewahren.“ S. 271 Kein beständiges Fundament. Eine post-pubertäre Klassenfahrt mit gehobenem Kulturprogramm und viel Taschengeld.
So wie die Frauen in Antons Leben nur Episoden bleiben, so hangelte sich in meiner anfänglichen Wahrnehmung der Roman (zunächst) episodenhaft voran. Ich bin kein begeisterter Leser von Kurzgeschichten, doch hier wollte ich definitiv weiter lesen, auch wenn ich noch in den ersten zwei, drei Kapiteln jeweils Pausen brauchte, um das Gelesene sacken zu lassen. Alles passt gut zu meinen schwammigen Erinnerungen: der Angriff auf das (russische) Weiße Haus, die Exzesse der „Neuen Russen“, Dokumentationen im Weltspiegel – ich haderte dennoch gute 100 Seiten mit der naturgemäßen Unüberprüfbarkeit des Alltagswahnwitzes, auch wenn ich glaubhafte Bestätigungen, ähnliche Geschichten anderer dazu hörte, ich bin schlicht komplett ohne Russlanderfahrung.
Die Geschichte war zu Beginn rasant, doch meine überprüfende Haltung ließ mich langsam vorankommen; dann wurde ich mitgerissen. Sprachlich bietet der Debütroman von Arthur Isarin, ein Pseudonym, viel, seltener einzelne Sätze zum Zitieren, häufiger eine treffende, bildhafte Erfassung des Charakters einer Situation: „Anton wollte nicht mehr aufstehen. Als er das letzte Mal im Bad war, fotografierte er eine Kakerlake neben einer Schachtel Zigaretten, damit man ihre Ausmaße erkannte. Sie war zu groß, um durch den Abfluss zu entkommen. Vergeblich versuchte sie, die Wände der Dusche zu überwinden. Ihre Situation war mit seiner vergleichbar.“ S. 194
„Flucht war die Konstante seines Lebens“ S. 223
4 ¾ Sterne für dieses sprachlich starke und bildhafte Debüt – insgesamt eine durchaus differenzierte Darstellung Russlands mit Höhen und Tiefen, ironischem Spott und liebevollem Unterton, die mir das Gefühl gab, sehr viel vermittelt bekommen zu haben.
Der Hase im Rausch ist übrigens eine in Versform verfasste Fabel des russischen Schriftstellers Sergei Wladimirowitsch Michalkow, der auch verantwortlich zeichnet für den Text der Hymne der Russischen Föderation und der Hymne der Sowjetunion
https://www.youtube.com/watch?v=O5bI7ZUlQy8 Die Mischung aus Selbstüberschätzung, Trinkerei, rauschendem Fest, Schmeichelei, Stärke, List usw. passt hier gut, finde ich.