Eine ungewöhnliche Geschichte aus Belgien
Heute leben wirDass Belgien im Zweiten Weltkrieg - einmal mehr nach dem großen Leid, das dem Land und seinen Einwohnern bereits im Ersten Weltkrieg zugefügt wurde, unglaubliche Schäden zugefügt wurden, ist bekannt. Wie ...
Dass Belgien im Zweiten Weltkrieg - einmal mehr nach dem großen Leid, das dem Land und seinen Einwohnern bereits im Ersten Weltkrieg zugefügt wurde, unglaubliche Schäden zugefügt wurden, ist bekannt. Wie groß das Ausmaß dieser Leiden vor allem und gerade auch in Bezug auf Einzelschicksale ist, das konnte ich bisher nur erahnen.
Hier begegnen wir der kleinen Renée, einem siebenjährigen jüdischen Mädchen, das es in die Ardennen verschlagen hat - woher sie kommt, wer ihre Eltern sind, das erfahren wir nicht, denn auch Renée kann sich nicht mehr an sie erinnern, so lange ist sie schon auf sich selbst gestellt - unvorstellbar in der heutigen Zeit. Bisher hat sie es dank unterschiedlicher mutiger Menschen, denen sie begegnet ist und die sie unter ihre Fittiche nahmen, geschafft zu überleben, doch jetzt macht der belgische Geistliche, dem sie zuletzt anvertraut wurde, einen entscheidenen, aber verständlichen Fehler: er übergibt sie an amerikanische Soldaten - so denkt er. Dass dies in Wirklichkeit Deutsche sind, Angehörige der SS, die sich mit fremden Federn schmücken und so in den letzten Kriegsmonaten noch versuchen, ihre Seite auf besonders perfide Art zu stärken, das ahnt er - und viele andere um ihn herum auch nicht. Doch Renée gerät an einen ungewöhnlichen Vertreter der nationalsozialistischen Ideologie und der SS: Matthias, der nicht nur deutsche, sondern auch kanadische Wurzeln hat und lange Jahre bei einem Indianerstamm gelebt hat, also für damalige Verhältnisse eine sehr internationale Vergangenheit aufweist. Und dieser, obwohl eigentlich außergewöhnlich brutal und kaltschnäuzig agierend, kann sie einfach nicht umbringen, wie es sein Auftrag gewesen wäre. "Nicht er hat entschieden, sie nicht zu töten. Sie hat es entschieden." (S. 283)
Er bringt sie bei einer belgischen Bauersfamilie unter, die - wie könnte es in diesem Roman anders sein - auch in vielem ziemlich besonders ist, gleichwohl wie alle zu der Zeit unter den verschiedenen Besatzungsmächten, die alle auf ihr Recht pochen, leidet. Gerade auch an diesen Menschen - der Familie Paquet - kann man das Leid der Belgier, die als Zivilisten quasi mitten an der Front "hingen", sehr gut und sehr schmerzhaft nachvollziehen.
Ein Buch, das mir lange im Gedächtnis bleiben wird. Ein Buch, in dem nichts schwarz bzw. weiß bleibt, ein Buch, das den Leser dazu herausfordert, nicht eindimensional zu denken, ihn daran hindert, die Figuren in "gut" und "schlecht" aufzugliedern. Auch die Verteilung der Sympathien fällt nicht immer leicht, einige Figuren, nicht zuletzt die beiden Protagonisten Matthias und Renée, aber auch einige Nebendarsteller, wie bsp. Philibert, der mitten im Roman wie aus dem Nichts auftaucht, "nicht alle Fritten in derselben Tüte hat" (S. 139) und dem Geschehen eine entscheidende Wendung gibt, erschienen mir doch arg konstruiert und teilweise so unglaubwürdig, dass es mir streckenweise schwerfiel, der Handlung so richtig ernsthaft und engagiert zu folgen - so wie es ein Roman, der eine solch wichtige Episode der jüngeren Geschichte thematisiert und dabei ungewöhnliche Wege beschreitet, es eigentlich verdient hätte.
Auch erschienen mir einige Handlungsstränge so ungewöhnlich, dass es hilfreich gewesen wäre, auf der anderen Seite das alltägliche, das damals übliche, soweit man etwas, das sich während des Zweiten Weltkrieges abgespielt hat, überhaupt so bezeichnen kann. Aber Sie verstehen hoffentlich, was ich meine: wenn alles außergewöhnlich und seltsam ist, nutzt es sich irgendwann ab.
Zudem hatte ich das Gefühl, dass einige Darstellungen und auch Redewendungen sehr modern abgefasst sind - zu modern für die 1940er Jahre. Dennoch habe ich den Roman sehr gern und mit Genuss gelesen und empfehle ihn mit den erwähnten kleinen Vorbehalten gerne weiter.