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Veröffentlicht am 21.02.2018

Parallel leben

Fliegenpilze aus Kork
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Das tut die Ich-Erzählerin dieses Buches bereits in jungen Jahren.

Ein Mädchen und ihr Vater sind die Hauptakteure dieses Buches, das Mädchen als Berichtende, als Protagonistin, der Vater sozusagen als ...

Das tut die Ich-Erzählerin dieses Buches bereits in jungen Jahren.

Ein Mädchen und ihr Vater sind die Hauptakteure dieses Buches, das Mädchen als Berichtende, als Protagonistin, der Vater sozusagen als Hauptperson. Getrennt sind die Eltern des namenlosen Mädchens bereits sehr früh - das bedeutet für das kleine Kind zwei parallele Leben nebeneinander zu leben. Wächst es bei der Mutter sehr behütet, also eher klassisch, auf, führt es bei dem Vater ein gewissermaßen hippiehaftes Nomadenleben, das zudem geprägt ist von Mangel - dem Mangel an Gegenständen, am Essen, nicht jedoch an Liebe, auch wenn der Vater - immer mal wieder psychisch krank, wie sich mit der Zeit herausstellt - diese seiner Tochter auf ausgesprochen unkonventionelle Art und Weise mitgibt.

Eine Beziehung im Wandel der Jahre - genau dokumentiert wird das Alter des Mädchens stets vom Kindergarten- bis zum Erwachensenenalter, so dass man die Ereignisse, vor allem ihre Sicht der Dinge, stets gut einordnen kann.

Kein leichtes Leben ist es, weder für den Vater, noch für das Mädchen, doch ist es abseits von Konventionen und konventionellen Bedürfnissen ein durchaus reiches Leben, auch wenn es nicht immer genug zu Essen gibt: der Vater zeigt seiner Tochter vieles, führt sie an Kunst, Kultur, auch Politik heran: dumm sterben wird sie wegen ihm, der nur schlecht schreiben kann, jedenfalls nicht.

Ein Leben abseits dem, was angesagt ist, abseits bürgerlicher Gepflogenheiten, die dem Mädchen doch durchaus bekannt sind durch die Zeit mit der Mutter. Auch wenn sich die Tochter manchmal für den Vater schämt, wie es Kinder eben tun, steht sie doch zu ihm.

Die junge österreichische Autorin Marie Luise Lehner hat mit "Fliegenpilze aus Kork" ein ungewöhnliches, gleichwohl faszinierendes Werk geschaffen, das mir lange im Gedächtnis bleiben wird. Ich empfehle es Lesern, die auf der Suche nach etwas Neuem, ungewöhnlichem sind und einen Sinn für schöne Bücher haben, der Verlag Kremmayer & Scheriau gestaltet seine literarische Reihe nämlich ganz besonders orginell und liebevoll.

Veröffentlicht am 21.02.2018

Ein Ösi in Köln

Anton zaubert wieder
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Das ist die Ermittlerin Willa Stark, die es bereits zum zweiten Mal aus Graz in die rheinische Tiefebene verschlägt, wo sie sich überaus wohlfühlt. So wohl, dass sie am liebsten für immer dort bleiben ...

Das ist die Ermittlerin Willa Stark, die es bereits zum zweiten Mal aus Graz in die rheinische Tiefebene verschlägt, wo sie sich überaus wohlfühlt. So wohl, dass sie am liebsten für immer dort bleiben würde, denn in Graz hat sie so einige Altlasten zurückgelassen, ohne die es sich für sie weitaus leichter leben lässt.

Jetzt ist ihr Typ wieder gefragt, da ein Landsmann von ihr - sogar ebenfalls gebürtiger Grazer, allerdings schon im Kindesalter von Kölschen adoptiert und somit auch im Rheinland zu Hause - eines Serienmordes an Frauen verdächtigt wird, an älteren. Dennoch ist eventuell sogar ein Mord aus Leidenschaft zu vermuten. Auch dieser Mann, Anton, hat wie Willa eine Last in Graz zurückgelassen: er hat als kleines Kind den Mord an seiner Mutter mitansehen müssen, ein Erlebnis, das ihn - wie könnte es anders sein - fürs Leben geprägt hat.

Doch es ist nicht nur die Handlung, es ist auch die Atmosphäre, die Figuren, mit denen die Autorin Isabelle Archan beeindruckt. Man hat sie förmlich vor Augen, sowohl das vielschichtig dargestellte Kölner Kripo-Team als auch die Charaktere, die in die Mordfälle verwickelt sind.

Düster und beklemmend ist das Szenario an vielen Stellen, auch wenn ab und zu eine gewisse Leichtigkeit aufblitzt. Gestört hat mich lediglich, dass die Opfer eher als Randfiguren fungierten - wenn überhaupt: außer dem ersten Opfer blieben sie eigentlich ganz im Hintergrund, wie auch ihre Hinterbliebenen, das gesamt Umfeld.

Dennoch: ein stilsicher und damit elegant und wortgewandt erzählter Krimi, den ich mit Genuss gelesen habe, gerade auch als Kölnerin. Für Krimifans im Rheinland und darüber hinaus sehr zu empfehlen!

Veröffentlicht am 21.02.2018

Augen auf und durch

Suleika öffnet die Augen
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heißt es für die junge tatarische Bäuerin Suleika, nachdem ihr Mann vor ihren Augen erschossen wird - einfach so. Er ist einer der wohlhabenderen Bauern seiner Region, ein Kulak also und weigert sich, ...

heißt es für die junge tatarische Bäuerin Suleika, nachdem ihr Mann vor ihren Augen erschossen wird - einfach so. Er ist einer der wohlhabenderen Bauern seiner Region, ein Kulak also und weigert sich, den Befehlen des stalinistischen Regimes beugen - bedingungslose Abgaben und Umsiedlung. So wird Suleika, deutlich jünger als ihr Mann und bisher nicht an Selbständigkeit gewöhnt, auf eine Odyssee geschickt, die über ein Gefängnis in Kazan mitten in die Taiga, nach Sibirien führt, in bisher unbesiedeltes Gebiet, wo sie mit anderen Leidensgenossen, die aus unterschiedlichen Gründen verschickt wurden - Kulaken wie sie, Intellektuelle, "richtige" Straftäter, eine Kolonie gründet. Ja, Suleika öffnet in der Tat erst jetzt ihre Augen und das zieht so einiges nach sich!

Ein etwas anderer Road-Movie ist dies, in dem ein Häufchen Deportierter einfach so durch die sowjetische Landschaft geschickt wird, bis sie - eher durch Zufall - an einem Ort landen, an dem sie seßhaft werden können, einer der ganz besonders tragischen Art. Denn keiner dieser Menschen wollte seine gewohnte Umgebung verlassen, sie sind allesamt dazu gezwungen worden - wie Millionen anderer in den Jahren des Stalinismus.

Die Autorin Gusel Jachina stammt selbst aus Tatarstan und geht in ihrem Buch einem Teil der Geschichte ihrer Vorfahren nach, einem sehr schmerzhaften, den sie nichtsdestotrotz mit großartig gezeichneten Figuren, jede davon mit absolutem Wiedererkennungswert, sowie einer gehörigen Ladung Atmosphäre ausstattet. Nur pro forma erwähne ich, dass ihre Erzählungen obendrein auf sorgfältigen Recherchen basieren.

Ein spannendes Buch, wenn auch die Autorin aus meiner Sicht (noch) nicht ganz die Faszination erreicht, die bspw. eine Sofi Oksanen mit ähnlichen Themenkreisen zu vermitteln vermag, ein ausgesprochen eindringliches noch dazu, das ich mit Sicherheit nicht so schnell vergessen werde, und dem trotz der ganzen Tragik, die durchgehend mitschwingt, eine Prise Leichtigkeit innewohnt.

Das kurze Geleitwort der großen russischen Autorin Ludmilla Ulitzkaja fällt euphorisch aus, was ich wirklich gut nachvollziehen kann - ich hoffe auch, dass Gusel Jachina weiterschreibt und dabei thematisches Neuland beschreitet. Sehr zu empfehlen für jeden, bei dem das Interesse für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts internationaler Natur ist und der neben historischen Fakten eine gute Geschichte zu schätzen weiß.

Veröffentlicht am 21.02.2018

Zum Warten verdammt

Hier sind Drachen
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ist die Journalistin Caren - und sind es mit ihr viele andere Passagiere - am Flughafenterminal in London Heathrow. Es ist Samstag, der 14. November 2015, der Tag nach dem Pariser Anschlag und eben Paris ...

ist die Journalistin Caren - und sind es mit ihr viele andere Passagiere - am Flughafenterminal in London Heathrow. Es ist Samstag, der 14. November 2015, der Tag nach dem Pariser Anschlag und eben Paris ist das Ziel der Reise - Caren soll von dort für ihr Blatt über den Anschlag berichten. Doch nun gibt es eine Verzögerung aus unklaren Gründen - die Wartenden sind auf sich gestellt. So kommt Caren mit einem Herren ins Gespräch, den sie Wittgenstein nennt, da er ein Buch ebendieses Philosophen liest.

Und es stellt sich heraus - nicht nur, aber auch durch diesen Wortwechsel - dass jeder seiner eigene, subjektive Wahrnehmung von Dingen, ja von allem, was um ihn herum passiert, hat. Jedenfalls ist es so, dass am Ende dieser Warterei Carens gesamtes Leben auf den Kopf gestellt wurde. Ihr Leben, von dem sie glaubte, es bestens im Griff zu haben - sowohl ihren Bereich als auch ihr Verhältnis zu den Menschen um sie herum.

Caren hat ein ganz besonderes Verhältnis zu Terroranschlägen, kann man sagen: sie hat ihre persönlichen Bezüge sowohl zu Ground Zero als auch zu Charlie Hebdo. Sie hat dem Drachen ins Auge geschaut, kann man sagen, doch wie ist es mit den Drachen in ihrem persönlichen, dem ganz privaten Bereich?

Einerseits ein leises Buch, andererseits so explosiv, wie eben ein Anschlag sein kann. Der Pariser Terroranschlag wird in einen Vergleich zu einem Anschlag auf Carens Leben gestellt und zeigt eindringlich, wie achtsam man stets sein sollte - sowohl, was sein eigenes Leben als auch, was das Leben der anderen betrifft. Ein Anschlag der persönlichen, der stillen Art kann uns jederzeit ereilen, völlig unerwartet - so wie hier.

Ein Buch, das den Leser - jedenfalls mich - auf der einen Seite fassungslos, auf der anderen ein bisschen unbefriedigt hinterlassen hat. Manches war zu viel, anderes wieder fehlte. Doch das waren Kleinigkeiten, die mich nicht davon abhalten, dieses durchaus ungewöhnliche Buch der Kölner Autorin Husch Josten von Herzen zu empfehlen. Es ist ein sehr internationales Buch, so weltoffen, wie man in diesen Zeiten nicht immer ist, aber unbedingt sein sollte - finde ich jedenfalls.

Veröffentlicht am 21.02.2018

Eine ungewöhnliche Geschichte aus Belgien

Heute leben wir
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Dass Belgien im Zweiten Weltkrieg - einmal mehr nach dem großen Leid, das dem Land und seinen Einwohnern bereits im Ersten Weltkrieg zugefügt wurde, unglaubliche Schäden zugefügt wurden, ist bekannt. Wie ...

Dass Belgien im Zweiten Weltkrieg - einmal mehr nach dem großen Leid, das dem Land und seinen Einwohnern bereits im Ersten Weltkrieg zugefügt wurde, unglaubliche Schäden zugefügt wurden, ist bekannt. Wie groß das Ausmaß dieser Leiden vor allem und gerade auch in Bezug auf Einzelschicksale ist, das konnte ich bisher nur erahnen.

Hier begegnen wir der kleinen Renée, einem siebenjährigen jüdischen Mädchen, das es in die Ardennen verschlagen hat - woher sie kommt, wer ihre Eltern sind, das erfahren wir nicht, denn auch Renée kann sich nicht mehr an sie erinnern, so lange ist sie schon auf sich selbst gestellt - unvorstellbar in der heutigen Zeit. Bisher hat sie es dank unterschiedlicher mutiger Menschen, denen sie begegnet ist und die sie unter ihre Fittiche nahmen, geschafft zu überleben, doch jetzt macht der belgische Geistliche, dem sie zuletzt anvertraut wurde, einen entscheidenen, aber verständlichen Fehler: er übergibt sie an amerikanische Soldaten - so denkt er. Dass dies in Wirklichkeit Deutsche sind, Angehörige der SS, die sich mit fremden Federn schmücken und so in den letzten Kriegsmonaten noch versuchen, ihre Seite auf besonders perfide Art zu stärken, das ahnt er - und viele andere um ihn herum auch nicht. Doch Renée gerät an einen ungewöhnlichen Vertreter der nationalsozialistischen Ideologie und der SS: Matthias, der nicht nur deutsche, sondern auch kanadische Wurzeln hat und lange Jahre bei einem Indianerstamm gelebt hat, also für damalige Verhältnisse eine sehr internationale Vergangenheit aufweist. Und dieser, obwohl eigentlich außergewöhnlich brutal und kaltschnäuzig agierend, kann sie einfach nicht umbringen, wie es sein Auftrag gewesen wäre. "Nicht er hat entschieden, sie nicht zu töten. Sie hat es entschieden." (S. 283)

Er bringt sie bei einer belgischen Bauersfamilie unter, die - wie könnte es in diesem Roman anders sein - auch in vielem ziemlich besonders ist, gleichwohl wie alle zu der Zeit unter den verschiedenen Besatzungsmächten, die alle auf ihr Recht pochen, leidet. Gerade auch an diesen Menschen - der Familie Paquet - kann man das Leid der Belgier, die als Zivilisten quasi mitten an der Front "hingen", sehr gut und sehr schmerzhaft nachvollziehen.

Ein Buch, das mir lange im Gedächtnis bleiben wird. Ein Buch, in dem nichts schwarz bzw. weiß bleibt, ein Buch, das den Leser dazu herausfordert, nicht eindimensional zu denken, ihn daran hindert, die Figuren in "gut" und "schlecht" aufzugliedern. Auch die Verteilung der Sympathien fällt nicht immer leicht, einige Figuren, nicht zuletzt die beiden Protagonisten Matthias und Renée, aber auch einige Nebendarsteller, wie bsp. Philibert, der mitten im Roman wie aus dem Nichts auftaucht, "nicht alle Fritten in derselben Tüte hat" (S. 139) und dem Geschehen eine entscheidende Wendung gibt, erschienen mir doch arg konstruiert und teilweise so unglaubwürdig, dass es mir streckenweise schwerfiel, der Handlung so richtig ernsthaft und engagiert zu folgen - so wie es ein Roman, der eine solch wichtige Episode der jüngeren Geschichte thematisiert und dabei ungewöhnliche Wege beschreitet, es eigentlich verdient hätte.

Auch erschienen mir einige Handlungsstränge so ungewöhnlich, dass es hilfreich gewesen wäre, auf der anderen Seite das alltägliche, das damals übliche, soweit man etwas, das sich während des Zweiten Weltkrieges abgespielt hat, überhaupt so bezeichnen kann. Aber Sie verstehen hoffentlich, was ich meine: wenn alles außergewöhnlich und seltsam ist, nutzt es sich irgendwann ab.

Zudem hatte ich das Gefühl, dass einige Darstellungen und auch Redewendungen sehr modern abgefasst sind - zu modern für die 1940er Jahre. Dennoch habe ich den Roman sehr gern und mit Genuss gelesen und empfehle ihn mit den erwähnten kleinen Vorbehalten gerne weiter.