Franz Schneider und sein Enkel Martin haben keine große Bindung und doch schlägt Martin seinem Großvater vor, mit ihm in dessen Vergangenheit zu reisen: in die USA. Während ihres Aufenthalts schweifen Franz‘ Gedanken immer wieder in seine Zeit im Gefangenenlager in Texas und Utah ab. Nachdem er in der Normandie kurz vor Ende des 2. Weltkrieges von den Amerikanern gefangen genommen wurde, führte ihn seine „Reise“ in die USA. Zunächst kam ihm das Gefangenenlager wie ein Feriencamp vor: Essen gab es genügend, die Gefangenen wurde gut behandelt, ihre Unterkunft war sauber und ihre Arbeit auf den Feldern während der Kartoffel- und Baumwohlernte annehmbar. Doch gab es unter den deutschen Kriegsgefangenen zwei Lager: die Hitlertreuen, die immer noch felsenfest an den Endsieg glaubten und die Kriegsmüden, die sich Frieden, Freiheit und ein rasches Ende der Kämpfe wünschten.
Was für Martin eher als viel zu spontane und wenig durchdachte Idee begann, wird zu einer spannenden Reise für beide: der Enkel erlebt den sonst so reservierten, kühlen und streng nach seinen Überzeugungen lebenden Großvater sehr nachdenklich und manchmal geradezu träumerisch. Martin hört seinem Großvater zu und spürt ganz deutlich dessen Zerrissenheit, seine Scham, Angst und auch Schuld. Und er selbst beginnt über sein eigenes Leben nachzudenken.
Eine wichtige Rolle spielt Franz‘ Steinsammlung zur Erinnerung und nachvollziehbar für sein Leben – für ihn legen die Steine Zeugnis für seine Lebensreise dar. Durch den Geschmack der Steine – ja, er nimmt sie in den Mund, um das Land/die Erde zu schmecken – hält er die Erinnerungen am Leben und kann sie jederzeit wieder erfahrbar machen. Seine ganz eigene Methode gegen das Vergessen!
Franz ist ein verantwortungsvoller Mann, denn er stand zur schwangeren Johanna und hat dafür auf seinen Traum, in die USA auszuwandern und ein neues – ein mögliches – Leben mit Wilma verzichtet. Seine Zerrissenheit, Angst und Scham, aber auch seine konsequente Lebenseinstellung und die Verdrängung und spätere Aufarbeitung seiner Erlebnisse sowie die Ohnmacht beim Aufspüren von Verbrechern aus der Naziherrschaft beherrschen diesen Roman und hinterlassen einen langen Nachhall beim Leser.
Die Tochter Barbara, die nach ihrer heimlichen Hochzeit mit Konstantin von ihrem Vater aus dem Haus geworfen wurde, hat ihrem Vater nie verziehen. 10 Jahre lang herrschte absolute Funkstille zwischen den beiden und erst der Enkel Martin hat die beiden wieder aufeinander zugeführt. Keine besondere emotionale Bindung, Verletzungen aus der Vergangenheit halten beide zurück, wirklich aufeinander zuzugehen. Franz macht einen Schritt auf Barbara zu, als er ihr die vielen Dokumente, die sein Leben belegen, schickt und sie in seine Vergangenheit eintauchen lässt.
Hannes Köhler erzählt sehr anschaulich und authentisch von einer zerrütteten, kühlen Vater-Tochter-Enkel-Beziehung, die es allen Beteiligten schwer macht, den anderen so zu akzeptieren, wie er ist. Zudem taucht der Leser tief in die Vergangenheit von Franz Schneider und dessen Leben kurz vor Ende des 2. Weltkriegs ein.
Das um 45 Grad gedrehte Cover steht als Sinnbild für die Weite der amerikanischen Landschaften und eine Möglichkeit, die jedoch unerfüllbar ist. Der Titel „Ein mögliches Leben“ ist gut gewählt, denn es weist auf die Zerrissenheit des Hauptcharakters Franz hin und stellt dem Leser die Frage: Welches Leben wäre möglich gewesen?
Anfangs war der Roman schwierig zu lesen, denn die Vergangenheit, in die Franz immer wieder eintaucht, hebt sich nicht bildhaft von der Gegenwart ab. Doch bald bemerkt der Leser, dass Franz‘ Vergangenheit im Präsens und die Gegenwart in der Vergangenheitsform geschrieben ist.
Für mich war dieser Roman ein absoluter Lesegenuss und die Geschichte hat mich noch lange beschäftigt. Ich kann das Buch jedem empfehlen, der sich gerne mit der Vergangenheit aber auch mit den Parallelen zu den heutigen Strömungen in unserem Land auseinandersetzt.