Der Vergleich zwischen lebendig und tot
„Der Tod nicht nur als Weg aus diesem Leben heraus, sondern als Lebensweg. Sich dort einbringen, wo dieses Dasein nicht allein durch die Beschwerlichkeit des Existierens zur Marter wird, sondern Bitterkeit ...
„Der Tod nicht nur als Weg aus diesem Leben heraus, sondern als Lebensweg. Sich dort einbringen, wo dieses Dasein nicht allein durch die Beschwerlichkeit des Existierens zur Marter wird, sondern Bitterkeit erfährt durch das Vorhandensein der Mitmenschen.“
Inhalt
Karl Heidemann, der als Baby nur schreit, weil er die Geräuschkulisse der Welt nicht erträgt, der seine Kindheit nach der erschreckenden Einsicht seiner Eltern in einem umgebauten Kellerraum verbringt und erst beim Selbstmord seiner Mutter an die Oberfläche kommt, entdeckt voller Faszination die Metamorphose zwischen lebendig und tot. Und ihm ist ausschließlich und endgültig klar, dass die Menschen einen großen Fehler begehen, wenn sie ihr Leben über die Schönheit, den Frieden, die Stille des Todes stellen. Wozu all das Aufbegehren, wenn doch die Erlösung erst mit dem Tod eintritt? Er beschließt nun selbst dafür zu sorgen, seinen Mitmenschen das Wunder des Sterbens näherzubringen, in dem er sich zum Mörder entwickelt. Und erst als er in seiner Jugend das taubstumme Mädchen Marie kennenlernt, die von ihrem gewalttätigen Vater misshandelt wird, tritt ein Motiv in sein Bewusstsein. Karl kann nicht nur töten, er wird sich auch rächen und er hat dafür alle Zeit der Welt.
Meinung
Thomas Raab, der erfolgreiche österreichische Autor, der sich mit seinen Kriminalromanen um den Restaurator Willibald Metzger einen Namen gemacht hat, entwirft mit seiner Chronik über einen Mörder, ein faszinierendes, tiefgründiges und beeindruckendes Porträt über einen verzweifelten Menschen, der einfach auf Grund eines körperlichen Defizits und daraus resultierender Fehler seiner Erzieher, eine dunkle Seite entwickelt hat, die er bald vielversprechender erachtet als ein Leben in der menschlichen Gemeinschaft. Und auch wenn sich dieser Thriller scheinbar an der Idee von Patrick Süßkinds Roman „Das Parfum“ orientiert, steht er diesem in nichts nach. Während hier der Hörsinn der Auslöser für die Geburt eines Mörders ist, war es dort der Geruchssinn und beide Bücher sind doch ganz einmalig und in ihrer Gesamtheit ein erschreckendes Bildnis über die Verfehlungen der menschlichen Seele.
Der Autor widmet sich intensiv und von Kindesbeinen an der Entwicklung des Karl Heidemann, so dass der Leser sehr gut die eigentlichen und die endgültigen Verfehlungen der Umgebung unterscheiden kann. Dabei wählt er eine distanzierte Erzählperspektive, die alles sehr objektiv und ohne Melodramatik auskommen lässt. Generell ein formschöner Satzbau, der Nachklang erzeugt und nicht auf Effekthascherei abzielt. Er legt Wert darauf zu zeigen, dass auch im landläufigen Begriff von „böse“ manchmal nur die Unkenntnis von „gut“ verankert ist und sich durchaus ein alternativer Lebensweg beschreiten lässt, sofern die äußeren Möglichkeiten gegeben sind. Und dieser Fakt ist das Besondere des Buches. Denn trotz der grausamen Handlungen des Täters, kommt man nicht umhin, in Karl einen Menschen zu sehen, der Gefühle hat, der sucht und Nähe finden möchte, dem aber die Still des Todes doch so angenehm erscheint, dass er sie dem Wirbel des Lebens vorzieht.
Thomas Raab vermag es, Mitgefühl und Verständnis heraufzubeschwören, dort wo eigentlich keines sein sollte. Er bedient sich gekonnt diverser Nebenfiguren, die Karl immer ein Stück des Weges begleiten, die ihn formen und prägen und dennoch nicht aufhalten können. Auch sein Schachzug mit der Liebe, die ganz plötzlich und unverhofft in Karls Leben tritt, ebnet den Weg hin zu einem Menschen, der sich Gedanken macht über den Sinn des Lebens und explizit über seine Stellung im Gefüge. Dieser Thriller, der mehr einer Studie der menschlichen Psychologie zu sein scheint, fängt so viele verschiedene Facetten ein, dass ich voller Begeisterung den Handlungsverlauf folgen konnte. Nie war es zu grausam, nie zu unverständlich, nie zu abstrakt, sondern eher wie eine fortwährende Spirale, die immer tiefer hinein in das Gedankengut eines Serienmörders führt.
Fazit
Ich vergebe 5 Lesesterne für diesen ungewöhnlichen, tiefgründigen Thriller, der viele Elemente eines guten Spannungsromans beinhaltet und sich mehr mit dem Seelenleben des Einzelnen, mit einer persönlichen Geschichte voller Unwegbarkeiten auseinandersetzt, als mit dem Ergebnis selbst. Dabei greift die Erzählung auf vielfältige Grundsätze zurück und beschäftigt sich mit Motivation ebenso wie mit Abwehr, mit Liebe gleichermaßen wie mit dem Tod, mit fehlendem Gewissen und greifbarer Gewissheit. Karl Heidemann - dass Synonym für einen Mörder, der sein Leben der Stille gewidmet hat und doch nicht bewirken konnte, dass andere ihn restlos verstehen, selbst ich nicht als Leser, doch das tut dieser grandiosen Geschichte keinen Abbruch.