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Veröffentlicht am 20.03.2018

Wagemutiges Abenteuer eines verwegenen Helden, der seinen Träumen nachging

Louis oder Der Ritt auf der Schildkröte
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Der Roman mit dem verwegenen Titel „Louis oder Der Ritt auf der Schildkröte“ ist der erste aus der Feder von Michael Hugentobler. So ein wenig lässt der Titel bereits ahnen, dass die Geschichte in Richtung ...

Der Roman mit dem verwegenen Titel „Louis oder Der Ritt auf der Schildkröte“ ist der erste aus der Feder von Michael Hugentobler. So ein wenig lässt der Titel bereits ahnen, dass die Geschichte in Richtung Abenteuer geht. Louis ist der Protagonist des Romans, Louis de Montesanto hat der Autor seinen Protagonisten mit vollständigem Namen benannt. Das fiktive Leben der Hauptfigur ist angelehnt an eine reale Person, nämlich an die des Schweizers Louis de Rougemont. Der Titel steht in Bezug zu einem Foto, das den Louis des Romans gemeinsam mit einer Schildkröte zwischen den Beinen zeigt, so dass leicht der Eindruck entsteht, er würde auf ihr reiten. Aber vielleicht hat er das ja auch.

Geboren wurde Louis als Hans Roth in einem kleinen Dorf in den Schweizer Bergen Mitte des 19. Jahrhunderts. Sein Vater war Kutscher und starb vier Jahre nach seiner Geburt. Im Verhältnis zu seinem Kopf war sein Körper recht klein, so dass er physisch auffiel. Bereits als Kind wurde er verspottet und daher verließ er seine Heimat mit dreizehn Jahren, um sein Glück in der Fremde zu suchen. Nach einigen Monaten beim Pfarrer im Tal nahm er dort seinen Abschied und zog durch die Gegend. Seinen Lebensunterhalt sicherte er mehrere Jahre lang durch Gelegenheitsjobs. Als er die Schauspielerin und Schriftstellerin Emma kennen lernt folgt er ihr nach Paris, um ihr den Haushalt zu führen. Hier wird Hans zu Louis. Das ist jedoch erst der Beginn einer langen Reise, die ihn nach England, Amerika, Australien und viele weitere Orte der Welt bringt. Kurz vor der Jahrhundertwende wird er für seine Reiseerzählungen bekannt und bei einem wichtigen Vortrag in London als Lügner tituliert.

Michael Hugentobler liebt das Reisen und lässt seine Leidenschaft in seinen Roman einfließen. Mit Louis de Rougemont hat er ein Vorbild für seinen Protagonisten gefunden, das wenig bekannt, aber überaus interessant ist. Was von den Geschichten, die der reale Louis erzählte, tatsächlich wahr ist, bleibt rätselhaft. Für seinen eigenen Louis erfindet der Autor einen ganz eigenen Ablauf der Erlebnisse, die heldenhaft, verträumt, versponnen und manchmal auch grotesk sind. Unterbrochen werden die Schilderungen durch einen Sprung in die 1960er Jahre in der eine Australierin, offensichtlich auf den Spuren von Hans Roth, die Szene betritt. Diese rätselhafte Gestalt nimmt im Laufe der Erzählung immer mehr Konturen an. Neben unerwarteten Wendungen im Leben von Louis sorgt sie für einen geheimnisvollen Touch der Erzählung.

Der Roman zeigt auf, dass die Menschen sich immer schon für tollkühne, aberwitzige Geschichten besonders interessiert haben, wenn sie gut erzählt und präsentiert wurden. Dazu reichte das Printmedium der Zeitschrift oder Zeitung bereits aus, unterstützt von Mund-zu-Mund-Propaganda. Auch die damaligen Konsequenzen ähneln den heutigen, denn sobald ein vermeintliche Lüge aufgedeckt wird, echauffieren sich die Gutgläubigen, wenden sich im besten Fall ab und im schlechteren sorgen sie für weitere Häme des Betroffenen.

„Louis oder der Ritt auf der Schildkröte“ ist das wagemutige Abenteuer eines verwegenen Helden, der seinen Träumen nachgegangen ist und sich dabei gelegentlich in ihnen verstrickt hat. Der Roman erzählt von der Liebe, dem Leben eines Freigeistes, nicht ohne dabei die Schattenseiten der Unabhängigkeit zu vergessen. Ich empfehle den Roman allen Leser, die sich gedanklich gerne auf ereignisreiche Reisen begeben.

Veröffentlicht am 13.03.2018

Lebendige und aufwühlende Erzählung

Engele
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„Engele“ ist der Debütroman von Claudia Tieschky. Der Titel ist dem Nachnamen von Siegfried, dem Großvater der Protagonisten Lotte, entlehnt. Lotte sucht nach Freiheit und scheut jede feste Bindung. Bereits ...

„Engele“ ist der Debütroman von Claudia Tieschky. Der Titel ist dem Nachnamen von Siegfried, dem Großvater der Protagonisten Lotte, entlehnt. Lotte sucht nach Freiheit und scheut jede feste Bindung. Bereits das Buchcover vermittelte mir ein kleines Stück dieses Wunsches mit dem Blick der abgebildeten Figur in den endlos wirkenden Himmel.

So ähnlich wie sie schaut nun zu Beginn des Romans Lotte in einem Berliner Hotelzimmer in die Dunkelheit der Nacht, hinter ihr im Bett liegt Frieder, der geliebte Mann. Lotte ist Journalistin und wohnt in München. Mit Frieder trifft sie sich in unregelmäßigen Abständen in Berlin. Die Stadt verbindet sich für beide im Laufe der Zeit mit der Liebe, Lotte verbindet damit aber auch die aufregenden Jahre ihrer Großmutter Ruth, zu der ihre Gedanken schweifen, während sie in den Nachthimmel schaut. Frieder und Lotte erzählen sich gerne Geschichten, die den anderen überraschen, wahrscheinlich, um das Schweigen zwischen ihnen zu überbrücken und nicht von sich und ihrem Alltag erzählen zu müssen. Lotte beschließt, ihre Erinnerungen an Ruth zu teilen.

Ruth kam als junge Frau 1936 auf der Suche nach Unabhängigkeit nach Berlin und ging dort einer Anstellung als Kinderpflegerin im Krankenhaus von Virchow nach. In ihrer Freizeit frönte sie dem Laster. Zigaretten, Alkohol und Liebeleien gehören für sie zu ihrer Vorstellung von Freiheit. Sie gibt sich mondän und genießt ihr Leben in vollen Zügen, bis sie 1942 den einige Jahre älteren Siegfried trifft. Er ist Offizier, aber gleichzeitig auch Musiker und angehender Komponist. Einige Zeit nach der Geburt von Clara, der Mutter von Lotte, ziehen sie wegen des Kriegs in die Heimat von Siegfried in den Süden Deutschland. Ruth arrangiert sich mit den veränderten Verhältnissen und lebt nun eine andere Art von kleinem Glück, bis dieses je beendet wird, als Siegfried ein Verbrechen begeht.

Die Autorin hat sich von ihrer eigenen Familiengeschichte zu diesem Roman inspirieren lassen. Mit großem Einfühlungsvermögen erzählt sie ihre Geschichte so, dass sie realistisch erscheint. Obwohl die Erzählung durch die gedanklichen Sprünge von Lotte, die sich zu verschiedenen Zeiten an unterschiedlichen Orten erinnert, stückweise erzählt wird, ergibt sie ein zusammenhängendes Bild. Sah ich zunächst noch mit Ruth eine junge Frau mit Zöpfen und Koffer am Bahnhof ihrer Heimat stehen auf dem Weg nach Berlin, so zog ich im Folgenden Anfang der 1970er mit ein in das neue Einfamilienhaus von Claras kleiner Familie und landete wieder in der Gegenwart an Lottes Seite.

Claudia Tieschky distanziert sich an einigen Stellen bewusst von ihrer Protagonistin, scheinbar ordnend, um den Augenblick zu vergegenwärtigen und dann wieder in die Gedankenwelt von Lotte einzusteigen. Mehrfach sucht Ruths Enkelin nach Gründen, warum sie ausgerechnet jetzt dem Leben ihrer Großmutter nachgeht. Immer mehr wird ihr bewusst, wie stark sie von ihr geprägt wurde. Allein aus Erzählungen macht sie sich ein Bild von ihr, das stark geprägt ist von Willenskraft und Selbstbewusstsein, aber auch Hartnäckigkeit verbunden mit klaren Ansagen. Fotos zeigen ihren Hang zum Besonderen, das jedoch im Zeitablauf an Extravaganz verloren hat. Lotte kann sich selbst aber noch an das gebliebene Durchsetzungsvermögen erinnern.

Clara wirkt im direkten Vergleich mit Ruth farblos, möglicherweise weil sie dadurch gegen ihre Mutter und deren Verhalten rebelliert. Ist Lotte zunächst nicht bewusst, warum Clara das tut, so wird ihr der Grund später klar. Der Schlüssel dazu ist Siegfried. Er bietet ihr eine finanzielle Absicherung. Sein Verstoß gegen Anstand und Gesetz lässt Ruths Arrangement mit dem gesitteten Leben einer Ehefrau platzen und neue Wesenszüge auftreten. Sie wird zu der Frau, an die Lotte sich erinnert und mit der sie sich nun vergleicht.

„Engele“ ist ein Roman über drei auf ihre ganz eigene Weise starke Frauen, deren Leben eng miteinander verknüpft ist. Er spielt vor den realen geschichtlichen Begebenheiten und bildet ganz nebenbei ein Bild unserer Gesellschaft ab. Von Beginn an lauert im Hintergrund das Unbegreifliche, dem ich mich an der Seite von Lotte zaudern näherte. Die Folgen, mit denen Ruth all die Jahre gelebt hat, drückt diese immer wieder durch ein Abgleiten ins Vulgäre aus. Die Erzählung wird dadurch lebendig und aufwühlend. Eine unerwartete Wendung sorgt für einen furiosen Abschluss des Romans. Leise Töne, Kraft und Ausdruck vereinen sich hier zu einer wunderbaren Geschichte, die ich gerne weiterempfehle.

Veröffentlicht am 09.03.2018

Ein Sommer, so flüchtig wie ein Windhauch

Der endlose Sommer
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Eine Gruppe von Personen verschiedenen Alters, die sich in Dänemark auf einem ehemaligen Gutshof zusammen finden, steht im Mittelpunkt des Romans „Der endlose Sommer“ der dänischen Performance-Künstlerin, ...

Eine Gruppe von Personen verschiedenen Alters, die sich in Dänemark auf einem ehemaligen Gutshof zusammen finden, steht im Mittelpunkt des Romans „Der endlose Sommer“ der dänischen Performance-Künstlerin, Autorin und Sängerin Madame Nielsen. Dieser eine Sommer brachte den Hofbewohnern Liebe wie Leichtigkeit und gleichzeitig Leidenschaft. Das Glück der Erde, das bekanntlich auf dem Rücken der Pferde liegt, kann der Charaktere der Mutter als Reiter genießen, das Festhalten an den unbeschwerten Tagen gelingt aber nur auf dem Papier. Daher ist Madame Nielsens Roman wie ein Abgesang auf die Jugend, von der wir uns wünschen, dass sie nie zu Ende geht.

Die Erzählung beginnt mit einem 19-jährigen Jungen, der ein 17-jähriges Mädchen kennenlernt und zu ihrem festen Freund wird. Das Mädchen lebt mit Mutter, Stiefvater und zwei kleinen Halbbrüdern auf dem „weißen“ Hof. Sie hat außerdem noch einen besten Freund und Vertrauten, der sie gerne besucht. Ihr krankhaft eifersüchtiger Stiefvater, dem der Hof gehört, ist längst verschwunden, als das Mädchen eines Tages von der Schule nach Hause kommt und vom portugiesischen Brieffreund ihrer Sitznachbarin und dessen Freund erzählt, die zu Besuch in Deutschland sind. Die beiden Portugiesen im Alter von dem Mädchen ziehen zu ihr und die Mutter verliebt sich in einen von ihnen. Die Gruppe wird noch ergänzt von einem Freund der Jungen aus Odense. Gemeinsam genießen sie die scheinbare Auflösung des Unmöglichen auf dem Scheitelpunkt ihres Lebens.

Ausdrücklich, weil mehrfach, betont Madame Nielsen, dass der Junge mit dem alles beginnt, vielleicht ein Mädchen ist. Dabei habe ich mich gefragt, wie viel die Autorin aus ihrem eigenen Leben in den vorliegenden Roman eingebracht hat. Ohne lange Umschweife geriet ich als Leser in den endlosen Sommer durch endlos erscheinende Sätze, denn die Schicksale der Figuren verknüpft Madame Nielsen mit zahlreichen Nebenhandlungen in Teilsätzen. Ich geriet in eine Erzählfolge, die unmittelbar nach der Vorstellung des Jungen am Anfang des Romans mit einer offenen Klammer beginnt, die niemals geschlossen wird und die dadurch den Gedankenfluss nicht abreißen lässt. Die Autorin weist dadurch dem Jungen eine vorrangige Bedeutung zu. Der Rest ist Erinnerung, flüchtig, nicht mehr zurückholbar und erscheint manchmal sogar unwirklich, nie dagewesen. Dennoch versucht Madame Nielsen diesen Windhauch der Vergangenheit einzufangen in Worte.

Was nun folgt sind Skizzen vieler Leben, von denen einige sich streifen. Von Beginn an stellt die Autorin fest, dass die Erzählung nicht gut ausgeht, denn der Tod lauert auf alle von uns, aber für einige tragischer Weise früher als auf andere. Die Stränge der Geschichte behält sie fest in der Hand, verweist ausdrücklich auf den Beginn um danach um etliche Ecken abzubiegen, zahlreichen Nebenfiguren Leben einzuhauchen, kurz innezuhalten, nach vorne zu schauen und auf der Geraden sich wieder dem endlosen Sommer zuzuwenden. Zeitlos, geschlechtslos, alterslos, ortungebunden kommt dieser daher, obwohl jeder Charakter nach Identität strebt. Aber der Alltag holt jeden ein, auch die kleine Hofgruppe.

Wie ein expressionistisches Gemälde, mit schnellen Strichen zu Papier gebracht, und Ereignissen wie Farbkleckse, präsentiert sich „Der endlose Sommer“. Entsprechend einem Bild entdeckte ich bei näherer Betrachtung beziehungsweise dem erneuten Lesen vorangegangener Seiten weitere Nuancen und Feinheiten, die mich noch tiefer eintauchen ließen in diese einzigartige Jahreszeit, bei der es keinem gelingt, sie festzuhalten. Lesen, erinnern, träumen!

Veröffentlicht am 28.02.2018

So spannende und vielfältig wie das Leben

Leinsee
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„Leinsee“ ist der Debütroman von Anne Reinecke und benannt nach dem Ort, an dem die Eltern des Protagonisten Karl bis zur schweren Erkrankung der Mutter in 2005 wohnen und der Vater mit 57 Jahren in Aussicht ...

„Leinsee“ ist der Debütroman von Anne Reinecke und benannt nach dem Ort, an dem die Eltern des Protagonisten Karl bis zur schweren Erkrankung der Mutter in 2005 wohnen und der Vater mit 57 Jahren in Aussicht des Todes seiner Frau Selbstmord begeht. Karl ist zu Beginn der Geschichte erst 26 Jahre alt und lebt als Künstler in Berlin. Seine Eltern sind seit vielen Jahren in der Welt der Kunst zu hohem Ansehen gelangt. Karl ist mit der Begründung, ihm die bestmögliche Erziehung zukommen zu lassen, im Internat aufgewachsen. Dort hat er einen neuen Nachnamen angenommen unter dem er selber nun erfolgreich ist. Seit seinem Abitur vor sieben Jahren war er nicht mehr zu Hause. Jetzt fährt er nach Süddeutschland an den Leinsee, um die Beerdigung seines Vaters zu organisieren und seine todkranke Mutter ein letztes Mal zu sehen. Zum großen Erstaunen erholt sie sich jedoch.

Karl Gefühlswelt ist im Aufruhr. Seine Freundin Mara möchte, dass er wieder nach Berlin zurückkehrt. Doch Karl ist in seinem Leben seiner Mutter noch nie so nah gewesen wie jetzt. Die Bindung und Nähe der Eltern zueinander, sowohl bei ihrer Arbeit wie auch in der Freizeit, war so eng, dass er sich immer ausgeschlossen fühlte. Seine Entscheidung, in Leinsee zu bleiben, wird stark von der achtjährigen Tanja beeinflusst, die eines Tages in einem Baum auf dem Anwesen hockt. Zu ihr entsteht ein ganz besonderes Verhältnis, das sich im Roman über zehn Jahre hinweg entwickelt.

Karl hat sich, ohne vom Erfolg seiner Eltern zu profitieren, einen sehr guten Ruf mit eigenen Arbeiten geschaffen und ist zu Recht stolz darauf. Niemals wird er jedoch den ganz eigenen Lebensstil von Vater und Mutter vergessen, der in ihre Arbeiten einfloss und auch das Fundament für seine eigene Karriere bildet. Denn nur auf dieser Grundlage konnte er seine eigene Persönlichkeit entwickeln und sich deutlich von dem Werk der Eltern abheben. Er weiß genau, was er will, kommt aber durch die nun veränderte Situation in eine unbekannte Lage, die sehr an seiner gewohnten Ordnung zerrt.

Bei seiner Ankunft in Leinsee begegnet ihm der Assistent der Eltern, dem er skeptisch entgegensteht. Obwohl er solange nicht vor Ort war, nimmt er sich alle Rechte eines Sohns. Dennoch bleibt er nahezu unberührt über den Tod des Vaters und ohnmächtig gegenüber der schweren Erkrankung seiner Mutter. Seine Gefühle sind verwirrt und das Kind im Baum bringt eine unbesorgte ungeahnte Leichtigkeit in sein Leben. Sie kommt immer wieder und regt seine Kreativität zu neuen Höhepunkten an so wie er ihre zum Leuchten bringt. Es ist wie ein Spiel mit ihr, in dem er ein Stück seiner eigenen Kindheit und Jugend wieder gibt.

Jedes Kapitel ist mit einer Farbe überschrieben, die ein Adjektiv in sich trägt. Dadurch kommt eine ungewöhnliche Farbenpalette zusammen, die synonym für die Vielfalt von Karls Gefühlen steht. Anne Reinecke schreibt auf den Punkt und scheut auch nicht vor der Beschreibung schwieriger Situationen mit Hass, körperlicher Liebe, großer Traurigkeit und kindlicher Freude zurück. Karl ist ein offener, einfallsreicher Charakter mit Blick für das Neue und gewissen Extravaganzen. Seine Entwicklung im Roman über die Jahre hinweg hat mich sehr berührt.

„Leinsee“ ist ein Roman, so spannend und vielfältig wie das Leben mit Trauer und Trübnis, mit Liebe und Lachen und der Gabe sich und anderen viel Freiraum zur Selbstentfaltung zu gewähren. Er erzählt von einer besonderen Eltern-Kind-Beziehung, vor allem aber auch eine ungewöhnliche Liebesgeschichte. Sehr gerne empfehle ich das Buch weiter.

Veröffentlicht am 22.02.2018

Ein Ende, das erst der Anfang ist

Der Abfall der Herzen
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Das Buch „Der Abfall der Herzen“ ist das erste, das Thorsten Nagelschmidt, der auch kurz „Nagel“ genannt wird, unter seinem realen Namen veröffentlicht. Es handelt auf zwei Ebenen, nämlich zum einen in ...

Das Buch „Der Abfall der Herzen“ ist das erste, das Thorsten Nagelschmidt, der auch kurz „Nagel“ genannt wird, unter seinem realen Namen veröffentlicht. Es handelt auf zwei Ebenen, nämlich zum einen in der Gegenwart und zum anderen im Rückblick auf den Sommer des Jahres 1999. Während der Autor zu Beginn des Romans autobiographisch beschreibt, wie es zu dem Buch gekommen ist, verschwimmen seine Erinnerungen an die Vergangenheit immer mehr. Daher hat er nicht nur neue Charaktere als seine damaligen Freunde erfunden, sondern auch die Ereignisse fiktionalisiert.

Versteht sich „Abfall“ im geläufigen Sinne als Rest der da bleibt, so ist der Titel passend zu den Versatzstücken zu sehen, die wir mit dem Blick auf frühere Jahre in unserem Gedächtnis gespeichert haben. Die tief in unseren Herzen vergrabenen Gefühle spielen uns dabei manches Mal einen Streich und lassen Szenen ganz anders erinnern als sie sich tatsächlich ereignet haben. Das Cover ist haptisch sehr schön gestaltet. Der sepiafarbene Hintergrund ist fühlbar längs gestreift und spiegelt mit dieser klaren Linie die Regeln und Gesetze der Erwachsenenwelt wieder. Um sich genau davon bewusst abzuheben und den Trotz widerzuspiegeln erscheinen die Jugendlichen im unteren Drittel in den kräftigen Farben türkisblau und orange bei ihrem wagemutigen, aber verbotenen Sprung in den Baggersee.

Der Roman beginnt mit dem Ende, nicht nur weil es vor Beginn des ersten Kapitels so geschrieben steht, sondern weil Thorsten Nagelschmidt zunächst erzählt, wie es dazu kam, dass er sich auf Spurensuche in seine Vergangenheit begibt. Er wohnt heute in Berlin und trifft sich dort eines Tages mit einem guten Freund, mit dem er Jahre vorher im Clinch lag, an der Bar eines Möbelgeschäfts. Plötzlich ist die Rede von einem Brief den er ihm 16 Jahre vorhergeschrieben hat nachdem der Streit angeblich beendet wurde und an den er sich partout nicht erinnern kann. Aber bereits damals hat der Autor Tagebuch geführt.

Das Lesen in den alten Kladden wirft jedoch immer neue Fragen auf, die ihn nicht mehr loslassen. Darum geht er einer Reihe von Anhaltspunkten nach und vereinbart Termine mit seinen Freunden und Bekannten aus Rheine, der Stadt, in der er 1999 gewohnt hat. Hier ist er aufgewachsen und wurde zum Sänger und Songschreiber der Band Muff Potter. Jeder erzählt ihm auf Nachfrage bestimmte Ereignisse aus seiner eigenen Perspektive. Die inzwischen verwaschenen Gedanken bieten ein breites Spektrum dessen, was sich abgespielt haben könnte anstelle von realen Begebenheiten. Erst langsam nähert Thorsten Nagelschmidt sich einer Wahrheit, die ihn gleichzeitig sich selbst ein wenig besser kennen und verstehen lässt. Der Sommer 1999 mit all seinen guten und schlechten Seiten, vor allem aber einer gehörigen Portion Liebeskummer lebt wieder auf für ihn.

Der Autor hat mir reichliche Denkanstöße gegeben, die auch mich in meine eigene Jugend entführt haben. Meine Familiengeschichte ist eng verknüpft mit der Stadt Rheine, so dass ich nicht nur rein gefühlsmäßig in die Vergangenheit gereist bin, sondern auch einige Örtlichkeiten des Romans kenne. Und wenn Thorsten Nagelschmidt mit der Bahn von Rheine nach Aachen fährt und „in einem Kaff namens Lindern“ (S. 167) aussteigt dann ist er nur drei Stationen vorher an meinem Wohnort vorbei gekommen.

Der Autor ist in den vorigen 16 Jahren auch immer wieder zu Besuch in seiner Heimat gewesen, aber eher aus Gewohnheit an den immer gleichen Stätten. Erst der nicht mehr erinnerte Brief führt ihn an Orte zurück, deren Veränderung er sich jetzt erst bewusst wird. Wie viele andere in seinem Alter hat er sich gegen das Erwachsen werden aufgelehnt mit der vollen Absicht, bloß nicht in ausgetretenen Pfaden zu laufen. Sein Studium ruht, die Karriere der Band letztlich ebenfalls, er hält sich mit gelegentlichen Jobs über Wasser. Dennoch ist da nie der Gedanke darüber, ob der eingeschlagene Weg der richtige ist. Viel Alkohol, sogar Drogen und unflätige Manieren sind angesagt, aber schließlich halten seine Freunde und Freundinnen es genauso. Ihr Verhalten ist provozierend, Raufereien unter Gleichaltrigen die anderer Meinung sind nichts Ungewöhnliches. Durch Songs, Filme, Bücher und Ereignissen mit deutschlandweiter Bedeutung wie beispielsweise der Sonnenfinsternis im August, an die ich mich sehr gut erinnere, konnte ich mich im Jahr 1999 verorten.

Thorsten Nagelschmidt nutzt eine schlichte Sprache und erzählt eine alltägliche Geschichte und dennoch machen das Sammelsurium der fiktiven Freunde, darunter Gedankenspinner und Lebenskünstler, die unterschiedlicher kaum sein könnten, die Geschichte abwechslungsreich und zu etwas Besonderem. Es war für mich interessant und spannend zu sehen, was ein Treffen mit einem alten Freund auslösen und wozu eine Suche in der Vergangenheit führen kann. Die Erzählung wirkt nicht nur echt, sondern ist es auch. Aus einer gewöhnlichen Erzählung über seine Jugend verbunden mit Freundschaft, Hass, Liebe und Ängsten gestaltet der Autor auf eine ganz eigene Weise eine mitreißende Reise in die Vergangenheit, die auf ihren Ausgang in der Gegenwart ungeduldig warten lässt. Lassen Sie sich davon mitnehmen!