DER Poirot/Christie Klassiker (Poirot 8)
Mord im OrientexpressO: "Murder on the Orient-Express", erschienen 1. Januar 1934 (US Version: "Murder on the Calais Coach", umbenannt zur Vermeidung einer Verwechslung mit einem Buch von Graham Greene von 1932, „Stamboul ...
O: "Murder on the Orient-Express", erschienen 1. Januar 1934 (US Version: "Murder on the Calais Coach", umbenannt zur Vermeidung einer Verwechslung mit einem Buch von Graham Greene von 1932, „Stamboul Train“, das in den USA veröffentlich wurde als „Orient Express“, siehe englischsprachige Wikipedia). Mein Buch heißt „Der rote Kimono“, ein alternativer Titel, der sich weiter unten in meinem Text erklärt, und so zuerst 1934 in deutscher Sprache erschien. Ich lese das Taschenbuch von 1984 aus dem Goldmann-Verlag mit der Uhr auf dem Cover (als Referenz zu der später gefundenen). Alte Rechtschreibung, bei den Zitaten erkennbar.
„Hoffen wir, daß sie im Taurus nicht einschneien.“ S. 6 So wünscht man es dem Meisterdetektiv Hercule Poirot, als er in Aleppo, Syrien, den Taurus-Expreß besteigt, um dann nach Besuch Istanbuls in den Orient-Express wechseln zu können. Beim Aufenthalt zwischen den beiden Zugfahrten erhält er ein gutdotiertes Angebot von dem US-Amerikaner Ratchett, der nach Erhalt von Drohbriefen Schutz wünscht. Der Meisterdetektiv lehnt ab. Beide besteigen den Orient-Express im selben Wagen, es finden sich weitere Mitreisende. Bald hat Poirot eine unruhige Nacht: „Mit einem Sprung war er aus dem Bett, riß die Tür auf und schaute hinaus. Nichts! Nur zur Rechten ging eine Frau in scharlachrotem Kimono den Gang hinab.“ S. 29 Dann wird morgens Ratchett erstochen aufgefunden – da der Zug in einer Schneewehe zwischen Vincovci und Brod fest steckt, nimmt Poirot die Ermittlungen auf.
Die Handlung ist Christie/Poirot extrem: generell erhält der Leser hier „Whodunnits“, kennt die Beteiligten und kann selbst mitermitteln. Es gibt nicht den unbekannten, durchreisenden Täter. Allerdings gibt es mehrere Fälle, in denen vermeintliche Nebenpersonen sich als Täter entpuppen, gar der Ich-Erzähler oder ein vermeintliches Opfer. Hier hingegen stellt sich der Kreis der Verdächtigen aufgrund der Kammerspiel-Situation von vorneherein als geschlossen dar (o.k., nicht ganz…). Ein Zug im Schnee, keiner konnte rein, keiner kommt raus, die Türen zu den anderen Zugteilen waren nicht nutzbar. Dazu ist der Leser quasi an der Seite von Poirot bei der Ausführung des Verbrechens dabei und entdeckt gemeinsam mit ihm so einiges an Spuren.
Vermutlich kenne ich diese Romanhandlung am besten von allen Christies, auch wegen der von mir geliebten Verfilmung mit unter anderem Ingrid Bergman, Lauren Bacall, Sean Connery, Vanessa Redgrave, Michael York und Anthony Perkins. Ich lese das Buch und sehe die Schauspieler aus dem Film vor mir, den ich als sehr werkgetreu empfinde (siehe dazu weiter unten). Nur die übliche „Konfrontation“ aller mit ihren kleinen Geheimnissen verläuft im Buch zunächst einzeln oder grüppchenweise, erst dann erfolgt der Showdown, im Gegensatz zum Film, bei dem man dieses zusammengefasst hat. Die Schauspieler sind gut, gerade Ingrid Bergman mit ihrer Darstellung als reichlich schlicht und dem Gerede über ihre „armen braunen Babys“...
Dafür ist das Buch bissiger. Da darf sich Poirot freuen: „Noch vor einer Stunde überlegte ich, wie ich mir über die Langeweile unseres erzwungenen Aufenthalts hinweghelfen könnte, und nun wird mir das herrlichste Problem beschert.“ S. 36 Übersetzt: Wie schön, jemand ist ermordet worden! Weiter: „„Mit mehr Kraft als Ritterlichkeit brachte der Direktor die ohnmächtige Dame auf einem Stuhl unter…“ S. 116
Andere Gedanken bringt: „Auch Poirot wußte über Mrs. Hubbards Tochter schon hinlänglich Bescheid, und mit ihm jedermann im Zug, der einigermaßen die englische Sprache verstand! Daß sie und ihr Gatte zu dem Lehrerkollegium einer großen amerikanischen Schule in Smyrna gehörten und daß dies Mrs. Hubbards erster Aufenthalt im Orient gewesen war, und was sie von den Türken und ihrer schlampigen Art hielt und von dem hanebüchenen Zustand ihrer Straßen.“ S. 24 Bevor jemand sich auf die Zehen getreten fühlt: nicht Agatha Christie übt hier Kritik, sondern Mrs Hubbard. Es gibt einiges, was man der Autorin anlastet (ich bin da noch unentschlossen), unter anderem einen gewissen Nationalchauvinismus: in diesem Buch spielt sie munter mit den Vorurteilen jeder Art. Die US-Amerikaner ziehen über die Briten her und umgekehrt, der belgische Bekannte von Poirot wähnt den italienischstämmigen US-Amerikaner natürlich bei der Mafia und so fort. Im Prinzip findet wohl die meisten von Christies Lesern etwas, dem sie heimlich zustimmen und in die komfortable Situation geraten, es nicht selbst sagen zu müssen…während ich den Eindruck gewann, dass die Autorin einen Heidenspaß dabei gehabt zu haben schien. Herrlich unterhaltsam statt humorfreier Political Correctness (ja, ich weiß, es gibt auch andere Textstellen in anderen Büchern, die mindestens fraglich sind).
Trivia
Poirot spricht deutsch! Zumindest steht das so in meiner deutschen Ausgabe, er führt dort das Verhör mit der Zofe der Prinzessin in deutscher Sprache S. 107.
Das Buch spielt eindeutig an auf die Entführung des Lindbergh-Babys
Zum Film von 1974:
der Freund Poirots bei der Eisenbahngesellschaft hat im Film einen anderen Namen, eher ein Italiener statt eines Belgiers. Martin Balsam spielt diesen Signor Bianchi statt M. Bouc aus dem Buch
Der Diener wird im Film gespielt von John Gielgud und heißt Mr. Beddoes statt Masterman. Mehr dazu https://de.wikipedia.org/wiki/MordimOrient-Expre%C3%9F_(1974)
Der Film ist wirklich toll!!
Zeitgeist
Wieder finde ich gehäuft Ausdrücke, die ich noch nie (mindestens in dieser Nutzung) gehört habe – oder seeeehr lange nicht mehr:
„Nimm ein Heftchen mit Abonnementskarten für das Essen; dann hast du keine Weiterungen.“ S. 21 Weiterungen?
S. 27 „Babuschen“ Puschen?
S. 47 „schnurrig“ ich LIEBE dieses Wort schon lange.
S. 53 „Nun können wir ungesäumt mit dem Verhör beginnen.“ Ähnlich wird ungesäumt auf S. 148 genutzt, es erschließt sich aus der gemeinsamen Wortherkunft mit versäumen bzw. aus dem Gegensatz dazu.
„Und der andere willfahrte seinem Wunsch.“ S. 97 willfahren?
S. 97 „gutsagen“ anscheinend statt bürgen
S. 123 „revidieren“ für durchsuchen – wir kennen den Revisor in Banken.
…von der schieren Anzahl dieser Begriffe her ist das wohl der bisher „altmodischste“ Poirot, dennoch wirkt der Text auch mich frisch, charmant.
Kognak hilft gegen Mrs. Hubbards Ohnmacht S. 116.
S. 123 ein Fehler – einmal steht Mrs. Hardman statt Mr. Hardman.
S. 151 ein Fehler – die achte Tochter statt die echte Tochter
S. 170 man kann am Bett einen Uhrhaken – für die Taschenuhr
Bleibt nur die Frage, warum JEDER aus dem Kreis der Verdächtigen anscheinend ehrlich erschrickt, wenn bei ihnen etwas gefunden wird (Hildegarde und der Inhalt ihres Koffers, Mrs Hubbard und ihr Schwammbeutel) sowie die Frage, wie realistisch ein von den anderen Waggons abgeschirmter Waggon ist. Nun ja.
6 Sterne. Immer und immer und immer wieder.