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Veröffentlicht am 11.04.2018

Innere Leere hinter äußerer Idylle

Kleine Feuer überall
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„In diesem Sommer redeten alle in Shaker Heights darüber, wie Isabelle, das jüngste Kind der Richardsons, schließlich durchdrehte und das Haus niederbrannte.“

Während das ländliche Idyll der ...

„In diesem Sommer redeten alle in Shaker Heights darüber, wie Isabelle, das jüngste Kind der Richardsons, schließlich durchdrehte und das Haus niederbrannte.“

Während das ländliche Idyll der Familie Richardson in Flammen aufgeht, und sie gezwungen sind, zu verstehen, warum ihre jüngste Tochter in jedem Zimmer Benzin vergossen hat, entwirft die Autorin das Bild einer allzu perfekten Familie in einer vorbildlichen Wohngegend. Beide Eltern erfolgreich im Beruf, vier größere Kinder, die anscheinend ebenso gut wie ihre Eltern geraten sind und nichts, was das eingegrenzte Lebensbild der Richardsons durcheinanderbringen könnte. Erst als sie ihr Zweithaus an eine Künstlerin mit jugendlicher Tochter vermieten, beginnt sich das Geflecht zu lösen, denn Mia, die bald auch die Putzhilfe der Richardsons wird, um ihre Miete überhaupt zahlen zu können, wirbelt eine Menge Staub auf. Nicht nur, dass sie die Kinder der Richardsons magisch in ihren Bann zieht und die junge Izzy direkt unter ihre Fittiche nimmt, auch deren Tochter Pearl verdreht den Söhnen Trip und Moody gehörig den Kopf. Was zunächst wie eine ganz normale Freundschaft unter Jugendlichen wirkt, wird zunehmend zur Gefahr, denn Elena Richardson merkt sehr wohl, dass ihre Kinder in der fremden Frau viel mehr sehen als nur eine x-beliebige Bekannte. Als sie beginnt in der Vergangenheit der Zugezogenen zu stochern, deckt sie einen Skandal auf und ist sich sicher: „Meine Kinder kann ich dieser Frau nicht überlassen.“ Doch bitter bekommt sie zu spüren, dass Zuwendung und Entgegenkommen manchmal viel tiefere Bande schafft als Geld und Ansehen …

Nachdem ich den Debütroman der Autorin Celeste Ng „Was ich euch nicht erzählte“ regelrecht verschlungen habe und äußert begeistert war, wollte ich ihr zweites Buch ebenfalls lesen. Und auch hier, konnte mich die Autorin von ihrem schriftstellerischen Können überzeugen. Ich empfinde ihren Schreibstil und die Wortwahl, ebenso wie die Charakterisierung der handelnden Personen nahezu perfekt. Sie entwirft weniger ein erschreckendes Szenario, sondern konzentriert sich ganz klar auf Zwischenmenschliches, auf die Verfehlungen und Unterlassungen ihrer Protagonisten, sie bemüht sich deren Sorgen und Nöte darzulegen und stellt die dramatischen Folgen als eine ganz logische Handlung dar, die man als Leser durchaus erwartet, weil man anders als die Figuren selbst, ein viel tieferes, umfangreiches Bild ihrer Gefühlswelt erworben hat. Diese Fokussierung auf die Innerlichkeit des Menschen hat mir auch in diesem Buch ausgesprochen gut gefallen, zeigt sie doch, wie zerrüttet Manches ist, was nach außen nahezu unproblematisch erscheint, bis es eines Tages zum Ausbruch kommt.

Dennoch empfand ich die Handlung des Buches etwas ungeordnet, so dass ich mir einen strikteren Verlauf gewünscht hätte. Während man einmal der Mutter der 4 Kinder nahekommt und erkennt, warum sie so geworden ist, schweift der Text danach zu einem aktuellen Sorgerechtsstreit in der Gemeinde ab, nur um im Folgenden die Vergangenheit, der neuen Nachbarin zu durchleuchten. Dabei ist jeder Handlungsstrang für sich erzählt sehr genial, nur die Verbindung, die damit bezweckte Gesamtheit der Erzählung, bleibt etwas auf der Strecke. Dadurch fällt es mir schwer, eine Bedeutungsschwere, eine durchschlagende Aussagekraft herauszufiltern. Es sind eher die kleinen Spannungsherde, die wirken als die große Frage danach: „Was macht eine gute Mutter aus?“ Und so findet man auch keine abschließende Wahrheit, dafür aber die Gewissheit, dass es nicht darauf ankommt, welche Fehler man begeht, sondern darauf, ob man bereit dazu ist, sich den Menschen zuzuwenden, sie anzunehmen und nicht zu verurteilen, selbst auf die Gefahr hin, dass sie ganz anders werden, als man es sich gerade als Mutter, für sie erhofft hat.

Fazit: Ich vergebe 4 Lesesterne für diesen intensiven Roman, selbst wenn ich gerne 5 gegeben hätte, weil mich einfach der bruchstückenhafte Handlungsverlauf etwas geärgert hat. Ansonsten aber eine wunderbare, vielfältige Menschenstudie, mit vielen Protagonisten, die einem alle irgendwie ans Herz wachsen und bei denen man fast traurig ist, dass man sich nun von ihnen trennen muss. Ich empfehle das Buch all jenen Lesern, die gerne hinter die äußere Fassade blicken, die sich mit vielen Gefühlen auseinandersetzen möchten und denen es in den Fingern krabbelt, die wahren Beweggründe für menschliche Entscheidungen zu verstehen. Eines steht fest: Den nächsten Roman der Autorin muss ich unbedingt wieder lesen …


Veröffentlicht am 10.04.2018

Das Leben muss immer die Oberhand gewinnen

Drei Tage und ein Leben
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„Man würde wieder dorthin zurückkehren. Antoine würde keine zweite Chance bekommen. Erneut spürte er, wie sehr er sich danach sehnte, dass dieses Gewitter, das seit zwei Tagen über ihm schwebte, endlich ...

„Man würde wieder dorthin zurückkehren. Antoine würde keine zweite Chance bekommen. Erneut spürte er, wie sehr er sich danach sehnte, dass dieses Gewitter, das seit zwei Tagen über ihm schwebte, endlich ausbrach.“


Inhalt


Für den 12-jährigen Antoine endet seine Kindheit von einem auf den anderen Moment, nachdem er seinen kleinen Freund Remy, der gerade 6 Jahre alt ist, im Affekt erschlägt. Allein mit dieser Schreckenstat, hilflos im Angesicht der schrecklichen Bedeutung, die ihm sehr wohl bewusst ist, wirft er die Leiche in eine tiefe Grube im heimischen Wald, in der Hoffnung, dass man ihm, den Täter wider Willen nicht unmittelbar auf die Schliche kommen wird. Seine Gewissensbisse und Befürchtungen übertreffen die Ermittlungen um ein Vielfaches, denn die Polizei und Anwohner gehen eher von einem Unglück oder gar einer Entführung aus. Und so bleibt der Junge verschwunden und wird bald schon nicht mehr gesucht, denn ein Unwetter mit schwerwiegenden Schäden, macht eine Spurensuche im Wald unmöglich. Doch Antoine lebt sein eigenes Leben wie in einer Blase, pendelnd zwischen Flutverhalten und Düsternis, lauernd auf den Tag, an dem man Remy ausgraben wird … Als Jahre später die Leiche gefunden wird, und DNA-Spuren den Täter überführen könnten, trifft Antoine eine zweite Entscheidung, die sein Herz bricht, doch die Wahl zwischen einer vernichtenden Wahrheit und einer reuigen Lüge, lässt ihm keinen Spielraum.


Meinung


Der französische Autor Pierre Lemaitre, der Preisträger des Prix-Goncourt wurde, erschafft mit dem vorliegenden Roman ein intensives, erschreckendes Bildnis einer aus dem Ruder gelaufenen Situation und deren weitreichenden Folgen. Er versteht es hervorragend, den Hauptprotagonisten Antoine menschlich und zwiegespalten zu charakterisieren, er haucht dessen Handlungen und Beweggründen Leben ein und zieht den Leser damit ganz klar auf die Seite dieses unglückseligen Jungen, der so scheint es, nur ein einziges Mal einen Fehler begangen hat, der ihn nun für den Rest seines Lebens zeichnen wird.


Doch er versteht sich auch darauf, die Nebencharaktere und ihre Entscheidungen im Handlungsverlauf gekonnt einzuflechten, so dass ein rundes Bild der kleinen Gemeinde Beauval entsteht, in der sich die Menschen kennen und gewisse Ansprüche aneinander stellen. Die Handlung des Romans konzentriert sich auf zwei Zeitebenen. Zunächst die Vergangenheit, kurz nach dem Verbrechen und die Ereignisse drei Tage danach und im zweiten Teil, eine Zeit, gut 12 Jahre später, in der nicht nur der Protagonist erwachsen geworden ist, sondern auch die Menschen aus seinem Umfeld viele Jahre mit Höhen und Tiefen erlebt haben. Besonders intensiv steht dabei nicht nur die Frage nach der tatsächlichen Schuld im Raum, sondern vielmehr die Bedeutung einer scheinbar festgeschriebenen Zukunft, unwiderruflich, bitter und ohne jegliches Entkommen. Gerade Antoine, tritt hier als ein tiefgründiger Charakter auf, der sich zwar, wie wohl jeder eine unbescholtene Weste wünscht, doch überzeugt davon ist, sie längst verloren zu haben.


Damit erzeugt der Autor eine sehr vielschichtige, äußerst spannende Szenerie, die sich auf innerliche Belange ebenso konzentriert, wie auf äußere Entscheidungen. Der Leser weiß mehr als alle anderen, leidet mit Antoine und kann ihm doch nicht ganz folgen, kann nicht restlos verstehen, was ihn zu seinen Taten bewogen hat. Mein einziger Kritikpunkt besteht in dem abrupten Bruch in der Mitte des Textes, nicht nur der Zeitsprung, den man als Leser an dieser Stelle erwartet, sondern in erster Linie der Schwenk auf das Äußere hat mich gestört. Zunächst, fühlt man sich Antoine nämlich so nah, als würde man ihn schon immer kennen, während sein Leben im zweiten Teil immer blasser wird, der Mann von heute, nicht mehr die Verzweiflung von damals ausstrahlt, sich sein Leben irgendwie weiter entwickelt hat, während ich eigentlich auf den großen Knall gewartet habe. Und so verwischt der Verlauf des Lebens, der Zahn der Zeit auch ein wenig die Emotionen des Lesers. Am Ende bleibt mir Antoine fremd und ich habe nicht das Gefühl, ihn tatsächlich verstanden zu haben, was mich zugegeben etwas grämt.


Fazit


Ich vergebe sehr gute 4 Lesesterne für diesen aufrüttelnden, bewegenden Roman über einen Menschen in der absoluten Ausnahmesituation. Intensive Momentaufnahmen, ergreifende Schicksale und traurige Wahrheiten inbegriffen. Es lohnt sich, dieses Buch zu lesen und für einen kurzen Augenblick sehr froh zu sein, anders, unbescholten und hoffnungsfroh durchs Leben gehen zu können und dennoch zu spüren, dass es ganz anders sein könnte, wenn das Schicksal einen anderen Weg eingeschlagen hätte. Gespannt werde ich mich nun dem preisgekrönten Roman „Wir sehen uns dort oben“ des Autors zuwenden und auf ebenso ergreifende Lesestunden hoffen.

Veröffentlicht am 03.04.2018

Der Widerhall einer zerstörten Kindheit

Das Echo der Bäume
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„Ich hatte mir gewünscht, dass er ebenso empört sein würde wie ich, doch ich wusste auch, dass die Schuld der einen Seite am Ende nicht die Unschuld der anderen beweisen konnte.“


Inhalt


Mit 20 Jahren ...

„Ich hatte mir gewünscht, dass er ebenso empört sein würde wie ich, doch ich wusste auch, dass die Schuld der einen Seite am Ende nicht die Unschuld der anderen beweisen konnte.“


Inhalt


Mit 20 Jahren studiert die Kroatin Ana Jurić an einer Universität in Amerika, sie lebt mittlerweile seit 10 Jahren in den USA und versucht nun im jungen Erwachsenenalter ihre traumatische Kindheit zu verarbeiten. Durch ein Hilfsprogramm der UNO konnte sie damals mehr durch glückliche Zufälle und Bekanntschaften dem serbischen Bürgerkrieg entfliehen und gemeinsam mit ihrer jüngeren Schwester Rahela dem Gemetzel in ihrer Heimat entkommen. Doch anders als Rahela, die damals noch ein Baby war, weiß Ana sehr genau, welche Hölle sie hinter sich gelassen hat. Verschanzt hinter Baracken, den Tod stets vor Augen, bewaffnet bis unter die Zähne und nur mit Cleverness, Schnelligkeit und Glück lies sich der Tag überleben. Nun möchte sie zurück, um die Menschen, die einst ihre Freunde und Ersatzfamilie waren, aufzusuchen und sie muss sich der bitteren Wahrheit stellen, dass ihre Eltern irgendwo verscharrt in einem Massengrab liegen, dem sie selbst nur durch einen gefährlichen Schachzug entkam …


Meinung


Die junge kroatischstämmige Autorin Sara Nović, setzt sich in ihrem Debütroman mit einem grausamen Kapitel des Nah-Ost-Konfliktes auseinander – mit dem jugoslawischen Bürgerkrieg zwischen Serben und Kroaten, der zu Beginn der 90-iger Jahre tobte und wie jede kriegerische Auseinandersetzung eine Vielzahl unschuldiger, ziviler Opfer forderte. Dabei geht sie ganz gezielt auf das Empfinden eines Kindes ein, welches einerseits abhängig von den Entscheidungen der Eltern ist, andererseits aber gezwungen wird, sich allein durchzuschlagen in der Gewissheit, dass es die eigene Familie nicht mehr gibt.


Die gewählte Ich-Perspektive der Erzählerin lässt das Geschehen umso dramatischer und vernichtender wirken. Sehr geschickt werden dabei die Vorfälle in verschiedenen Kapiteln verpackt. Der Leser lernt Ana deshalb auch in drei Lebensphasen kennen: als kleines Mädchen in Kroatien direkt im Krieg, als erwachsene Frau in der modernen amerikanischen Welt und letztlich als Suchende zurück in der zerstörten doch kriegsberuhigten Heimat. Die Vielfalt des Romans beruht auf einem emotionalen Erzählton, der mehr reflektiert und beschreibt, welche Belange das Individuum durchlebt und welche Schäden die Seele trägt, die der Willkür eines totalitären Staates ausgeliefert ist.


Immer durchlebt man die Gefühlswelt der Protagonistin aus einem Blickwinkel, der sehr tief reicht, selbst wenn das große Ganze ausgeblendet wird. Dadurch wirkt das Buch zunehmend bedrückend und schwermütig. Denn schnell wird klar, das eine ehrliche, unkomplizierte Gestaltung der Gegenwart unmöglich ist, solange die Schatten der Vergangenheit immer noch die Gedanken umklammern.


Fazit


Ich vergebe gute 4 Lesesterne für diesen intensiven, schonungslosen Roman, der gleichermaßen das Porträt einer verletzten Menschenseele ist, wie die historische Auseinandersetzung mit einem Staatenkonflikt und seinen weitreichenden Folgen. Die Thematik Hilflosigkeit, sinnloses Töten und Traumatisierung wird perfekt inszeniert, doch man muss sie als Leser auch aushalten können, muss innerlichen Abstand gewinnen, um nicht ebenso wie die Protagonistin die Schrecken an sich heranzulassen. Ein lesenswerter Debütroman, voller Emotionen, aus persönlichem Blickwinkel betrachtet, der eine Lücke in der belletristischen Landschaft schließt, weil er sich so aktuell und präsent zeigt.

Veröffentlicht am 26.03.2018

Eine steinige Reise in die Untiefen der Menschlichkeit

Heimkehren
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„Sein Vater hasste die Weißen abgrundtief. Es war ein Hass wie eine mit Steinen gefüllte Tasche, ein Stein für jedes Jahr, in dem die Ungleichheit weiterhin die Norm in Amerika war. Diese Tasche trug er ...

„Sein Vater hasste die Weißen abgrundtief. Es war ein Hass wie eine mit Steinen gefüllte Tasche, ein Stein für jedes Jahr, in dem die Ungleichheit weiterhin die Norm in Amerika war. Diese Tasche trug er immer mit sich.“


Inhalt


Die beiden dunkelhäutigen Halbschwestern Effia und Esi wachsen getrennt voneinander auf und durchleben ganz verschiedene Schicksale. Während Effia einen Sklavenhändler heiratet und das Leid der Menschen nur aus der Ferne miterlebt. Muss Esi eingepfercht mit zahllosen anderen rechtlosen Frauen, die Reise nach Amerika antreten, nur um dort mit ihren Nachkommen in den anscheinend nie enden wollenden Strudel des Menschenhandels zu versinken. Doch eigentlich umfasst dieser Roman viel mehr als diese zwei Protagonisten, denn der Leser begleitet kapitelweise die Nachfahren der beiden und bekommt einen Einblick in deren Leben und auch in die Entwicklung der Sklaverei, die zwar mit dem Verlauf der Zeit andere Formen annimmt aber Menschen mit dunkler Hautfarbe auch Jahrhunderte später noch als zweitklassig behandelt.


Meinung


Dieser Debütroman der in Ghana geborenen jungen Autorin Yaa Gyasi, stand wochenlang auf den Bestsellerlisten in den USA und setzt sich sehr vielschichtig und ehrlich mit der Thematik der Sklaverei auseinander, in dem er Einzelschicksale aufgreift und ein wahres Netzt an Verbindungen zwischen den Menschen knüpft, die alle kein einfaches Leben führen dürfen, einfach nur weil sie nicht die „richtige“ Hautfarbe haben. Dabei legt die Autorin großen Wert auf eine bunte, abwechslungsreiche Geschichte, der man aus ganz verschiedenen Blickwinkeln näherkommt, ohne sie abschließend tatsächlich bewerten zu können. Denn alle handelnden Personen versuchen angestrengt ihrer Herkunft zu entkommen, da sie lernen mussten, dass genau diese der dunkle Fleck in ihrem Leben ist. Gleichsam suchen sie verzweifelt nach Halt und anderen Menschen, die sie lieben und achten, unabhängig von der gelebten Vergangenheit. Sie ertragen Schmerzen und Demütigungen, stehen aufrecht und nehmen ihr Schicksal an, ohne jemals zu vergessen oder zu verzeihen. Ihrer aller Leben ist die Suche nach einem Ort, einem Zuhause, das sie nicht mehr verlieren können, weil es in ihren Herzen weiterlebt.


Der Schreibstil des Roman ist eingängig und interessant, denn immer wieder trifft man als Leser auf die Namen bereits bekannter Vorfahren und erlebt nicht nur die Veränderung der Ansichten, die Lockerung der Gesetzt oder ihre Verschärfung, man kommt direkt in der Familiengeschichte vorwärts, hat beinahe das Gefühl, die Menschen hinter der Geschichte zu kennen und nähert sich ihnen dennoch nicht endgültig an, da ein Abschnitt meist dort endet, wo man glaubt, dass derjenige seinen Weg gefunden haben könnte, doch man erfährt es nicht bis ins letzte Detail. Diese Erzähltechnik stört mich dennoch nicht, weil sich im Folgenden wieder neue Impulse aufbauen, die entdeckt und verarbeitet werden wollen.


Fazit


Ich vergebe gute 4 Lesesterne für diesen einfühlsamen wie unterhaltsamen Roman, der epochale Entwicklungen in der Geschichte der Sklaverei aufgreift und dennoch sehr persönlich auf mich wirkt, weil er nichts anders als eine langjährige Familientragödie ist, der man als Angehöriger nicht einfach so entkommen kann. Er scheint wie eine Reise, deren Ziel nicht ganz klar ist, bei der es aber um die Maßstäbe und Entdeckungen auf den einzelnen Etappen geht. Die Geschichte hat keine herkömmlichen Helden, die schillernd über dem Geschehen thronen, sie konzentriert sich auf einfache Menschen, die immer wieder aufstehen, die jegliche Strafe ertragen, die mit den Untiefen der Menschlichkeit in Berührung kommen und doch niemals verzweifeln, sei es auf Grund ihres Glaubens oder der Reinheit ihrer Gedanken. Sie alle sind nur ein winziges Körnchen im Getriebe und verändern doch ihre Umwelt ganz wesentlich, vielleicht weil sie es nicht nur in den Kopf des Lesers schaffen, sondern auch in sein Herz.

Veröffentlicht am 22.03.2018

Was wirklich bleibt

Eine Liebe, in Gedanken
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„Natürlich können wir Zukunftspläne schmieden, aber wir dürfen uns nicht in Tagträumen verlieren. Wir müssen fest in der Gegenwart stehen, denn die Gegenwart ist das Rohmaterial für die Zukunft.“


Inhalt


Edgar ...

„Natürlich können wir Zukunftspläne schmieden, aber wir dürfen uns nicht in Tagträumen verlieren. Wir müssen fest in der Gegenwart stehen, denn die Gegenwart ist das Rohmaterial für die Zukunft.“


Inhalt


Edgar und Antonia waren Mitte der 60-iger Jahre ein schönes Paar, sie wollten heiraten und sich eine gemeinsame Zukunft aufbauen. Er bekommt die Chance als Kaufmann nach Hongkong zu gehen und sich dort zu profilieren, sie möchte ihm gerne folgen, sobald klar sein wird, wie genau das Leben in Fernost aussehen wird. Sehnsüchtig wartet sie nicht nur auf die hunderten Briefe, die sich im Laufe der Zeit ansammeln, sondern auch auf ein Flugticket zum Geliebten. Doch für Edgar wird klar, dass er sich ein Leben mit Antonia in Hongkong nicht mehr vorstellen kann und so lässt er die Beziehung auslaufen. Ohne böse Worte, ohne große Abschiedsszene. Die junge Frau muss sich neu finden und einen anderen Lebensweg einschlagen, fernab vom Mann ihrer Träume, fernab von einer schillernden Zukunft mit zahlreichen Perspektiven. Doch sie lässt sich nicht entmutigen und beginnt, im Rahmen ihrer Möglichkeiten, dass beste aus der Situation zu machen – sie findet eine neue Liebe, bekommt eine Tochter und denkt nur noch manchmal an das, was sie verloren hat. Jahre später, nachdem Antonia gerade verstorben ist, beginnt ihre Tochter, sich auf die Suche nach der großen Liebe ihrer Mutter zu machen und versucht zu verstehen, warum Edgar Janssen bis zum Schluss ein wichtiger Pfeiler im Leben von Antonia war …


Meinung


Die Hamburger Autorin Kristine Bilkau, die bereits mit ihrem Debütroman „Die Glücklichen“ sehr erfolgreich geworden ist, greift hier auf eine äußerst nachvollziehbare, zu Herzen gehende Geschichte zurück. Sie erzählt von Dingen, die greifbar, akzeptabel und sehr nachvollziehbar sind. Sie wendet sich mit einem sanften, vorurteilsfreien Blick der Vergangenheit zu und beschreibt nichts anderes als den unberechenbaren Lauf des Lebens, mit Höhen, Tiefen und verpassten Chancen. Aber auch mit Hoffnungen, Wünschen und dem Glauben an das Gute. Dieser ehrliche, ungeschönte Blick auf die Ereignisse eines vergangenen Menschenlebens macht den Charme dieses Romans aus, zeigt Menschlichkeit und Empathie, ohne ins Pessimistische zu verfallen. Fast so, als würde man selbst erkennen, dass nicht immer alles so enden muss, wie man es erträumt hat, aber doch nicht schlecht ist und es sich lohnt, nach Fehlschlägen wieder aufzustehen und weiterzumachen, selbst wenn der Verlust größer ist, als man sich zunächst eingestehen möchte.


Die Ich-Erzählerin des Romans schildert aus der Gegenwart heraus die Erlebnisse ihrer Mutter, sie betreibt in gewisser Weise auch Vergangenheitsbewältigung, denn ihr eigenes Leben war von der Gestalt Edgar Janssen nicht unwesentlich geprägt, da ihre Mutter, eine offene, freiheitsliebende, ehrliche Person war und ihr Kind in ihre Lebensentscheidungen mit einbezogen hat. Durch diese übergeordnete, aus zweiter Hand bekommene Einsicht, blieben mir leider die beiden Hauptprotagonisten des Buches etwas fremd. Weniger ihre sichtbaren Eigenschaften, als vielmehr ihre Innerlichkeit. Über weite Teile des Buches, blieb mir die Handlung zu oberflächlich, die Gefühle von Antonia und Edgar leicht getrübt, was sicherlich daran lag, dass sie nicht selbst erzählen, sondern das die Tochter versucht, die Gedankengänge zusammenzuführen. In diesem Schachzug der Autorin liegt damit mein Hauptkritikpunkt: Ich hätte mir mehr Tiefgang, mehr Emotionen gewünscht, oder anders ausgedrückt, es hätte mir besser gefallen, wenn Antonia selbst die Erzählerin gewesen wäre.


Andererseits empfinde ich den Roman als eine äußerst gelungene Auseinandersetzung der Tochter mit dem Leben der Mutter – auch das ein interessanter Ansatzpunkt des Textes, der vor allem im letzten Drittel des Buches die Oberhand gewinnt und mich mit der Geschichte wieder aussöhnt. Erst hier kommen für mich all jene Gefühle zum Ausdruck, die ich mir bereits eher gewünscht hätte. Auch wenn es dann nicht mehr um die Liebe zwischen Mann und Frau, sondern zwischen Mutter und Tochter geht. Insgesamt ein wunderbarer Handlungsbogen, genau richtig, um zu reflektieren und Parallelen zu ziehen. Dazu ein sehr sanfter, leiser Erzählton, verfasst in eingängiger Sprache, einladend und zum Verweilen gedacht.


Fazit


Ich vergebe 4 Lesesterne für diesen Roman, der mit leichter Hand unterhält, eine schöne, wenn auch melancholische Geschichte offenbart, zahlreiche Überlegungen aufgreift, über die es sich nachzudenken lohnt und Menschen zeigt, die nicht perfekt sind, es auch nicht sein wollten und die trotzdem Spuren hinterlassen haben. Dieses Buch schildert das, was wirklich bleibt, von Handlungen, Erinnerungen, Wünschen und Träumen. Zeigt warum Liebe den Menschen nachhaltig prägt und warum man ein Leben im Schatten einer Möglichkeit lebt, ohne mit dem Alltag zu hadern. Dieser Punkt und seine vielschichtigen Ausführungen haben mich mit einer doch sehr distanzierten Liebesbeziehung versöhnt, deshalb kann ich diesen Roman durchaus weiterempfehlen.