Berlin 1949: Als die Redakteurin Vera Lessing vom Tod ihres Kollegen und engen Freunds Jonathan Jacobsen erfährt, ist sie zutiefst erschüttert. Kurz darauf hält sie die letzten Recherchen von Jonathan in den Händen: er war ehemaligen Kriegsverbrechern auf der Spur, deren Spuren über die Alpen bis zu dem Gefangenenlager in Rimini führen. Eigentlich wollte Vera das alles und die damit verbundenen persönlichen traumatischen Erfahrungen hinter sich lassen, aber ihr ist klar, dass sie es ihrem toten Freund schuldig ist, dessen Aufgabe zu Ende zu bringen. Noch weiß Vera nicht, dass ihre Nachforschungen sie in die höchsten Geheimdienstkreise führen werden. Zeitgleich versucht Vera Marie Weißenburg finden, mit der Jonathan in Kontakt stand.
Mit Spannung habe ich den dritten Roman von Claire Winter erwartet – und meine Erwartungen wurden mehr als erfüllt. Der Autorin gelingt es hervorragend, historische Fakten mit Fiktion zu verbinden und dadurch eine komplexe Handlung auferstehen zu lassen. Das Ergebnis ist eine tragische und spannende Geschichte mit Thriller-Elementen, die einen Einblick in unsere eigene Vergangenheit gibt. Sie ist um die Geburtsstunde der Bundesrepublik Deutschland angesiedelt, mit der die NS-Diktatur ein für alle mal überwunden und ein politischer Neuanfang auf demokratischen Prinzipien eingeleitet werden sollte.
Der Roman zeichnet sich durch zwei mutige Frauen aus: zum einen Vera Lessing in Berlin, die während des Krieges ihren Mann und ihre Familie verloren hat und die ihrem Freund Jonathan das Leben verdankt. Daher ist für sie schnell klar, dass sie den letzten Willen ihres toten Freundes erfüllen möchte, auch wenn sie dazu in Abgründe steigen muss, aus denen es kein Zurück mehr gibt. Vera ist sehr mutig, zumal sie nicht weiß, wem sie überhaupt trauen kann, aber sie geht ihren Weg und setzt schlussendlich alles auf eine Karte.
Zum anderen haben wir die junge Marie Weißenburg, die in Bonn als Sekretärin im Parlamentarischen Rat unter Adenauer arbeitet, der die neue Verfassung für die junge Republik ausarbeiten soll. Marie und ihrer Familie geht es verhältnismäßig gut, auch wenn sie immer noch unter dem Verlust ihres geliebten Vaters leidet, der im Krieg gefallen ist. Über Politik hat sie sich bis zur ihrer Arbeit für den Rat nicht allzu viele Gedanken gemacht, bis sie eines Tages aus der Zeitung davon erfährt, dass ein alter Kollege und Freund ihres Vaters in den Nürnberger Prozessen unter Anklage steht. Marie plagen zunehmend Zweifel und Fragen über die frühere Tätigkeit ihres Vaters im Reichsicherheitshauptamts. Diese Fragen werden für sie immer drängender, je mehr sie auf eine Mauer des Schweigens und der Ablehnung innerhalb ihrer Familie trifft.
Als Marie bei den Nürnberger Prozessen Lina Löwy kennenlernt, eine junge Jüdin, die beinahe ihre komplette Familie im Holocaust verloren hat, will sie unbedingt die Wahrheit herausfinden und ist nicht mehr gewillt, wegzusehen. Die Freundschaft zwischen den beiden jungen Frauen ist so berührend beschrieben, zumal die Autorin verraten hat, dass es für diese ungewöhnliche Freundschaft ein reales Vorbild gibt.
Die Handlung ist in zwei sich abwechselnde Erzählstränge aufgeteilt: im ersten Strang begleiten wir Vera, wie sie den Spuren von Jonathan und seinen Recherchen folgt. Der zweite Erzählstrang spielt einige Monate und Wochen vorher und begleitet Jonathan und Marie, was mir sehr gut gefallen hat, denn nach den Erinnerungen von Vera an ihren alten Freund hatte ich es anfangs bedauert, nicht mehr von ihm erfahren zu haben.
Neben diesen beiden Frauen, die sich gegen alle Widerstände mutig der Vergangenheit stellen, bekommt der Leser auch einen Einblick in historische Fakten, die in ihrer Gesamtheit erschütternd und einfach nur skandalös sind. Es geht um ehemalige Kriegsverbrecher, die sich über die sogenannte Rattenlinie über die Alpen nach Italien abgesetzt haben und deren Spuren sich dort entweder verloren haben oder deren Akten nachträglich beschönigt wurden, so dass diese Menschen plötzlich mit einer weißen Weste dastanden und es ihnen damit möglich war, mächtige Positionen in der jungen Republik einzunehmen. Und das alles mit dem stillschweigenden Einverständnis der Alliierten bzw. der Unterstützung der italienischen katholischen Kirche, welche damals äußerst zweifelhafte Prioritäten setzte, um eine Machtergreifung der Kommunisten zu vermeiden.
Es handelt sich dabei nicht um Einzelfälle, sondern um Zahlen, die mich einfach sprachlos zurücklassen. Um politische Interessen zu wahren, wurde die Moral mit Füßen getreten und das Schlimme dabei ist, dass das kein Einzelfall war bzw. sein wird. Zudem fragt man sich, inwiefern die Übernahme der alten Welt- und Feindbilder in die Geheimdienststrukturen der jungen Republik sich auch heute noch auswirken.
Ein tolles und wichtiges Buch, das aufwühlt und zum Nachdenken anregt. Auch wenn wir erst März 2018 haben, so wage ich doch zu behaupten, dass dieses Buch eines meiner Highlights dieses Jahres darstellen wird.