O: Lord Edgeware Dies 1933. Meine Version ist von 1986 bei Goldmann, übersetzt von Dr. Otto Albrecht van Bebber, schon für die deutsche Erstausgabe von 1934. von 2015 gibt es eine Neuübersetzung von Giovanni und Ditte Bandini für den Hamburger Atlantik-Verlag. Im Buch erscheint Poirot zum siebten Male, Hastings zum fünften, Inspektor Japp zum vierten Male.
Bei einem Theaterbesuch erleben Poirot und sein treuer Hastings Parodien der Schauspielerin Carlotta Adams. Im Verlaufe des folgenden geselligen Beisammenseins verkündet eine andere bekannte Schauspielerin, Jane Wilkinson: „M. Poirot, auf die eine oder andere Weise muß ich meinen Gatten loswerden!“ S. 12 Ihr Gatte ist Lord Edgeware. Und Lord Edgeware wird tatsächlich ermordet. Fortan gilt es einen Wust an Zusammenhängen, Verwechslungen, zufälligen Kommentaren und Hintergründen zu durchwaten, um den wahren Täter aufzuspüren.
Ich habe das Buch zum letzten Male vor sehr langer Zeit gelesen und konnte mich kaum erinnern. Jetzt ist mir gerade fast schwindelig aufgrund der rasanten Lösung und Lösungssuche. Wenn ich mich nicht irgendwo habe geschickt von Agatha Christie einwickeln lassen, passt die Lösung – mir passt jedoch nicht die angeblich zwingende Logik einiger von Hercule Poirot geäußerter Zusammenhänge (ich sage nur Goldzahn und weltweite Gebräuche – der sollte sich einige Regionen Osteuropas ansehen). Dazu waren einige Zufälle zwingend erforderlich für den Erfolg des Mordplans: Das Döschen durfte nicht entdeckt worden sein bis nach dem zweiten Mord und das Gift durfte nicht auf dem Weg vom Hotel nach Hause wirken, sondern erst dort (keine Sorge: das versteht erst, wer das GANZE Buch gelesen hat). Direkt: es ist ein wenig konstruiert in der Herleitung, dazu einige Zufälle von parallelen Handlungen.
Trivia
„Ein guter Titel übrigens: Lord Edgeware stirbt. Würde sich fabelhaft auf einem Bücherstand machen.“ S. 88 So äußert es hier einer der Protagonisten – was für einen Schalk im Nacken die Autorin hatte! So lautet ja dann auch der Originaltitel – der in Deutschland verwendete Titel geht zurück auf eine Gesellschaft, die im Buch beschrieben wird.
Laut Wikipedia heißt Martin Bryan im Original Bryan Martin. Sinn? Keiner. Geschickt wurde hingegen die fehlende Ecke umgesetzt – das würde hier jedoch spoilern. Wer interessiert ist, lese NACH dem Buch bitte hier https://de.wikipedia.org/wiki/Dreizeh...
Poirot liegt lange falsch, doch das hindert ihn nicht an Bemerkungen wie: „Sie, Hastings, kommen diesem hundertprozentig normalen Menschen jedenfalls so nahe wie möglich. Sie haben glänzende Momente, in denen Sie sich über den Durchschnitt erheben, und wiederum solche, in denen Sie – ich hoffe, Sie verzeihen mir! – in merkwürdige Tiefen der Stumpfheit und Blödheit hinabsteigen; doch alles in allem sind sie erstaunlich normal.“ S. 96 sowie „Im übrigen könnten sie genausoviel wissen wie ich, wenn sie den Verstand, den Ihnen der liebe Gott mitgegeben hat, gebrauchen würden. Manchmal freilich, mein guter Hastings, bin ich versucht zu glauben, daß er Sie aus Versehen bei der Verteilung überging…“S. 112 Also, ich persönlich würde ja auf solche Freunde verzichten – an Hastings Stelle.
Hastings ist verheiratet und lebt mit seiner Frau auf der gemeinsamen Ranch in Südamerika – aber ist immer wieder ziemlich lange bei Poirot in London, anscheinend nicht unbedingt aus geschäftlichen Gründen. Ich fände das nicht so toll, wäre ich Mrs. Hastings.
Es gibt einige Referenzen zu anderen Werken:
Es wird des Elisabeth-Canning-Falls erinnert in Kapitel 7, S. 50. Wikipedia vermutet einen Hinweis auf „Murder on the Links“ von 1923, deutsch „Mord auf dem Golfplatz“; wobei die Maße des Hinweises nicht stimmen – hier 4 Fuß, dort nur 2 Fuß Länge.
Ein Verweis folgt auf einen Fall mit Lady Yardly S. 121
Da untersucht Poirot das Verschwinden der Stiefel eines Diplomaten – ein Kokainschmuggel S. 153 – laut Wikipedia identisch mit einem Fall von Tommy und Tuppence in „Partners in Crime“ von 1929, deutsch „Die Büchse der Pandora“. Die Haarfarbe der Täterin stimmt nicht überein.
Zeitgeist
Schwer verwirrt las ich dieses hier als zweites: „Sie war ein ausgeglichenes junges Mädchen mit einer angenehm weichen Stimme. …Ein vornehmer Charme umgab sie. Ihr fehlte vollkommen jedwede mißtönende, unangenehme oder kreischende Note. Wie ein menschgewordener sanfter Gleichklang erschien sie mir mit ihrem dunklen Haar, den ziemlich farblosen blauen Augen, dem blassen Gesicht und dem beweglichen, empfindsamen Mund. Ein Gesicht, das einem gefiel… S. 17, die schwärmerische Beschreibung von Carlotta Adams durch Hastings. Ich nenne das positiv.
Und zuvor hatte die Autorin ihren beiden Protagonisten folgendes in den Mund gelegt. Poirot: „Aber was Ihre Frage betrifft, so glaube ich, daß Miss Adams Erfolg beschieden sein wird. Sie ist schlau und noch etwas mehr. Zweifellos haben Sie bemerkt, daß sie Jüdin ist?“
Bisher hatte ich es zwar nicht bemerkt, aber nun, da mein Freund es erwähnte, sah auch ich die schwachen Spuren semitischer Vorfahren.
„Und da wir von Gefahren sprechen, so könnte für sie die Liebe zum Geld gefährlich werden. Liebe zum Geld lenkt solche einen Menschen oft vom klugen und vorsichtigen Pfad ab.“ S. 9f
Nun, es gibt in der Literatur über sie durchaus auch den Hinweis auf (mindestens) die Möglichkeit antisemitischer Strömungen. MEINE Lieblingsautorin? Ja, es gibt einen Passus wie den zweiten erwähnten (der zuerst im Buch auftaucht). Es gibt aber auch die Beschreibung der jungen Frau aus der Sicht von Hastings, die sehr positiv ist. Einfach nur Zeitgeist, eine damals übliche Bemerkung, wie das auch im Buch oft kolportierte Misstrauen gegenüber allem „Unenglischen“, Ausländern, sehr gepflegten Männern, Linken? Ich lasse das an dieser Stelle im Raum stehen - halte da aber ein deutlicheres Augenmerk darauf.
Der Begleiter von Carlotta - verwechselt Hastings: „Wenn wir eine Horde Chinesen wären, würden wir uns gegenseitig überhaupt nicht mehr erkennen.“ S. 18 und weiter, der gleiche „Jedenfalls bin ich kein verflixter Nigger!“ S. 19
Da gibt es einen Butler, schön wie ein griechischer Gott und mit weicher weiblicher Stimme – Hastings misstraut ihm. Später wird über den Butler berichtet „Scheint in ein paar der anrüchigsten Nachtclubs verkehrt zu haben – nicht etwa die landläufigen Lokale dieser Art. Nein, etwas viel Widerlicheres und Schmutzigeres, und deshalb von einer gewissen Menschengattung sehr gesucht.“ S. 108 Ich frage mich, ob das 1933 die Umschreibung für ein Bordell oder eine Schwulenbar sein sollte (nein, ich erkenne hier keine Homophobie bei Christie, eindeutig nur bei der Polizei und bei Hastings – und der lebt immerhin immer wieder mit Poirot zusammen, auch darüber ist irgendwo etwas geschrieben worden…)
Ausdrücke, die mich belustigten waren S. 53 „Heutigentags“ und „schwergehalten“ in S. 114 „Es hat schwergehalten“, sagte er, „aber etwas sind wir doch vorwärtsgekommen.“ sowie S. 120 altfränkisch – das hatte ich lange nicht mehr gehört. Dazu scheint mit einer „Droschke“ ein Taxi gemeint zu sein (man klopft an die Scheibe und der Droschkenkutscher hält das Taxi an S. 126).
Also: deutliche Schwächen, einige (mindestens sprachliche) Griffe deutlich daneben - ich verstand auch zunehmend nicht, was Hastings an Poirots Seite hielt.
Unterhaltsam. 3 ½ Sterne