Die meisten Menschen in unseren Breiten haben von Gertrude Bell noch nie etwas gehört. In Großbritannien ist ihr Name natürlich wohl bekannt, ist sie ja eine Tochter der britischen Upper Class.
Wer war sie nun, diese Frau die den überwiegenden Teil ihres Lebens im Nahen Osten verbrachte, die von Freunden und Feinden ehrfurchtsvoll “Khattun” oder “Effendi” genannt wurde?
Geboren 1868 als Tochter von des reichen Industriellen Thomas Hugh Bell und seiner Frau Mary Shield, erlebt sie den Tod ihrer Mutter mit nur drei Jahren, die kurz nach der Geburt des Sohnes Maurice stirbt. Längere Zeit bleibt der Witwer unverheiratet und scheint dadurch eine enge Bindung zu seiner Tochter zu haben. Als Hugh 1876 die Schriftstellerin Florence Ollife heiratet, weiß noch niemand, dass die Stiefmutter eine enge Vertraute von Gertrude sein wird, mit der sie bis ans Lebensende steten Briefkontakt haben wird.
Gertrude ist außergewöhnlich wissbegierig und intelligent und darf in Oxford studieren. Sie absolviert die Universität. Der Doktortitel wird ihr, wie allen Studentinnen verweigert. Um ihr den letzten gesellschaftlichen Schliff zu geben, verbringt sie einige Zeit an der Britischen Botschaft in Bukarest.
Aufgrund ihres scharfen Verstandes findet sich kein Ehemann und eigentlich will sie ja auch gar nicht heiraten. Um sich von ihrer gesellschaftlichen Randposition abzulenken, reist sie mit ihrer Stieftante nach Teheran. Dort verliebt sie sich in Henry Cadogan, einem notorischen Spieler, der von der Familie als Ehemann abgelehnt wird. Gertrude beugt sich dem Willen des Vaters. Sie schreibt ihren ersten Reisebericht, lernt Farsi und übersetzt die Gedichte des persischen Dichters Hafiz die bis heute als die gelungendste Übersetzung gilt.
Die nächsten Jahre verbringt sie als Archäologin in Mesopotamien. Sie reist oft allein und wird, rothaarig und grünäugig, wie sie ist, von den Scheichs als exotisch angesehen. Immer wieder gerät sie in brenzlige Situationen, meistert sie aber mit Geschick und auch ein wenig Chuzpe.
Diese, hier geflochtenen politischen Beziehungen werden ihr später sehr nützlich sein.
Sie trifft auf Männer wie T. E. Lawrence, der als Lawrence von Arabien bekannt wird, der sie nicht leiden kann und ihre Erkenntnisse als die seinen ausgibt. Dennoch werden sie gemeinsam den Aufstand der Araber gegen die Türken organisieren.
Während des Ersten Weltkriegs sammelt sie als Geheimdienstmitarbeiterin Zahlen, Daten, Fakten und erhält im Oktober 1917 die Auszeichnung “Commander of the British Empire”.
Mit dem britischen Zivilkommissar von Mesopotamien A. T. Wilson verbindet Gertrude Bell eine lebenslange Feindschaft, die in zahlreichen Briefen an ihre Eltern dokumentiert ist.
Sie erreicht, dass Feisal König des Irak wird. Der wird später schreiben: "Wir meinen, dass Araber und Juden von der Rasse her Vettern sind und von Mächten, die stärker waren als sie selbst, auf die gleiche Weise unterdrückt wurden'" (S. 339).
Gertrude Bell wird nicht mehr nach England zurückkehren. Sie stirbt 1926 im Alter von 58 Jahren unter nicht ganz geklärten Umständen. Auf ihrem Nachtkästchen wird ein leere Rolle Schlaftabletten gefunden. Ob sie versehentlich oder absichtlich eine Überdosis eingenommen hat, ist nicht erwiesen.
Was bleibt von Gertrude Bell?
Obwohl sie emanzipiert erscheint, ist sie gegen das Frauenwahlrecht und Emmiline Pankhursts Suffragetten. Gertrude lässt sich auch immer Kleider aus London nach Mesopotamien schicken, die der aktuellen Mode entsprechen. Das finde ich sehr spannend, dass sie in Mieder und Reifrock bei Temperaturen um die 40° durch die Wüste reist
Die erwähnte Zusammenarbeit mit T. E. Lawrence, der sie stets verachtet, aber Nutzen aus ihrem Wissen gezogen hat.
Sie empörte sich über die Balfour-Deklaration, weil sie den Konflikt zwischen Arabern und Juden vorhersieht.
Sie gilt gemeinsam mit Sir Percy Cox als die eigentliche Gründerin des Irak und bestimmte die Landesgrenzen. Denn sie kennt die Wüste und ihre Bewohner am besten, noch besser als Lawrence. Er dokumentiert eher kriegswichtige Fakten als demografische oder ethnische Zugehörigkeiten. Der Konflikt zwischen Schiiten und Sunniten, der die arabische Welt bis heute in Atem halt, ist bereits damals evident. Grund ist die unterschiedliche Lebensweise der religiösen Anhänger: Schiiten, eher ungebildete Nomaden, Sunniten gebildete Städter.
Sie erreicht unter Aufbietung aller Kräfte, dass Feisal zum König des Iraks gewählt wird (96% Zustimmung). Sie wird ihn, den “Ausländer”, mit den Gepflogenheiten seines neuen Königreiches bekannt machen, ihm einen Hofstaat einrichten und ihn politisch beraten. Feisal wird bei einem Empfang des Oberrabiners den (bislang unbekannten) Patriotismus über Glaubensfragen stellen:
"Es gibt nur ein Land, das sich Irak nennt, und alle seine Bürger sind Iraker. Ich bitte meine Landsleute, die Iraker, nur Iraker zu sein, denn wir gehören alle zu einer Rasse, zum Stamm der Sem [Semiten]. Wir alle gehören dieser edlen Rasse an, und es gibt keinen Unterschied zwischen Moslems, Christen und Juden'" (S. 461).
Sie wird ehrenamtlich Leiterin des archäologischen Museums in Bagdad sein, dessen Gründung sie vorangetrieben hat.
Doch bei allen politischen Erfolgen darf nicht vergessen werden, dass Gertrude Bell durch ihre Tätigkeit den Grundstein für die Gewalt im Nahen Osten, die uns heute beschäftigt und tausende Tote fordert, gelegt hat.
Fazit:
Ein detailliertes, sehr gut recherchiertes Buch, das durch viele Fotos und Auszüge aus dem regen Briefwechsel der Gertrude Bell eine ausgezeichnete Dokumentation der damaligen Verhältnisse, die bis heute Kriege verursachen, bildet.
Einen Stern ziehe ich ab, weil mir die weitreichenden Folgen, die Gertrude Bells Wirken im Nahen Osten hat(te), nicht ausreichend erläutert wird.