Ulf Torreck ist mit der Fortsetzung von „Vor der Finsternis“ ein bemerkenswerter historischer Thriller gelungen.
Historisches Umfeld:
Wir befinden uns im Jahre 1805. Napoleon Bonaparte, seit seiner eigenen Krönung vom 2. Dezember 1804 „Kaiser der Franzosen“ eilt von Sieg zu Sieg und unterjocht ganz Europa.
Die Menschen in Frankreich, vor allem die Reichen in Paris, die den „Grand Terreur“ des Jakobinerregimes überlebt haben, frönen all jenem dekadenten Luxus, den sie durch die Revolution besiegt geglaubt haben.
Allen voran Joseph Fouché, seines Zeichens Polizeiminister. Er ist ein „Stehaufmanderl“ (wie man in Wien sagt). Einmal in Ungnade bei Napoleon, dann wieder höchst willkommen mit seinem mächtigen Polizeiapparat, der auch die Geheimnisse der Staatsspitze hütet und zu seinem Vorteil einsetzt.
Sein Gegenspieler, Rivale und Erzfeind – im Leben wie im Thriller Charles-Maurice de Talleyrand. Ebenso ein ehemaliger Priester wie Fouché, ist er in den Jahren der Revolution steil aufgestiegen und als Außenminister Napoleons zu Reichtum und Ehren gekommen. Doch auch sein Wohlergehen ist von den Launen des Kaisers abhängig. Immer wieder spielt Napoleon die beiden gegeneinander aus.
Wir begegnen noch weiteren historischen Gestalten, die eine Hauptrolle in diesem Buch innehaben, aber längst nicht so berühmt sind. Vielleicht mit einer Ausnahme: Donatien Alphonse Marquis de Sade, jenem Adeligen, der die größte Zeit seines Lebens entweder in Haft oder im Irrenhaus verbrachte.
Auch Louis Marais ist historisch belegt, genauso wie Isabelle de la Tour, der Polizeiarzt Maurice Gevrol oder die Giftmischerin und Serienmörderin La Monvoisin.
Die Zeiten sind denkbar schlecht für die Mehrheit der Bevölkerung. Die Pest fordert unter den Armen wie unter den Reichen ihre Opfer. Verbrechersyndikate haben es relativ einfach – sie zahlen hohe Bestechungsgelder an die nicht allzu üppig entlohnten Staatsdiener, die dann bei Bedarf auch rechtzeitig wegsehen.
Zum Buch:
Der nach Brest strafversetzte Louis Marais wird von Fouché nach Paris zurückgeholt, nachdem eine unerklärliche Mordserie die Hauptstadt erschüttert. Die Opfer sind immer junge Mädchen, die kaum einer vermisst. Besonderes Kennzeichen: sie haben alle vor kurzem ein Kind geboren. Die Frauen sind bestialisch verstümmelt, die Kinder spurlos verschwunden. Marais soll nun diese Morde aufklären. Ein heikles Unterfangen zumal sich der Verdacht nach einer okkulten Sekte und perversen Riten ergibt.
Doch wer außer dem Marquis de Sade wüsste besser über solche Praktiken Bescheid? Also befreit ihn Marais aus der Irrenanstalt Charenton-Saint-Maurice.
„Es braucht ein Ungeheuer, um ein Scheusal zu fangen, das haben Sie selbst gesagt. Also beschweren Sie sich jetzt gefälligst nicht darüber, wenn andere versuchen, wie ein Ungeheuer zu denken.“ (S. 487)
Gemeinsam jagen sie den oder die Mörder. Doch sie hinken immer einen Schritt hinterher. Wie hängt Fouché in der Sache? Oder zieht Talleyrand die Fäden?
Marais kann niemandem im Polizeiapparat mehr vertrauen. Daher sucht er Hilfe bei einer ganz anderen Stelle: den Gitanes, dem fahrenden Volk, dem er selbst angehört.
Meine Meinung:
Was während der Ermittlungen aufgedeckt wird, ist nichts für zartbesaitete Leser. Allerdings werden die Grausamkeiten nicht aus reiner Sensationsgier geschildert.
Die Versuche von Maurice Gevrol zum Bespiel. Er ist besessen davon, die Ursache des Kindbettfiebers und ein Gegenmittel zu finden, sodass er Recht von Unrecht nicht mehr unterscheiden kann. Er „bestellt“ Leichen von Schwangeren, um an ihnen zu forschen, ohne über die Herkunft der Toten überhaupt nur nachzudenken.
Auch das Wort „Polizeigewalt“ ist durchaus wörtlich zu nehmen.
Ulf Torreck gelingt es perfekt, uns in diese dunkle Zeit eintauchen zu lassen. Der Gestank, der Schmutz des Molochs Paris ist auf jeder Seite spürbar. Der Einblick in die Lebensweise der Menschen dieser Zeit ist penibel recherchiert.
Die beiden Hauptcharaktere Louis Marais und de Sade könnten nicht unterschiedlicher sein: Marais ist ein knapp 40 Jahre alter, ernster und hartnäckiger Polizist. Er ist – für diese Zeit - integer und vom Leben gebeutelt.
Marquis de Sade, Verfasser von pornographischen und Kirchen kritischen Schriften, ist, obwohl häufig weggesperrt, doch auf der Sonnenseite des Lebens, im Überfluss geboren. Als Marais ihn aus der Irrenanstalt holt, ist Donatien 63 Jahre alt und hat wenig von seinem Sarkasmus eingebüßt. An vielen Stellen beweist de Sade schwarzen Humor, den ich sehr amüsant finde. Ihre unterschiedlichen Weltanschauungen zu Religion und Kirche regen zum Nachdenken an, und ergeben so manchen unkonventionellen Ermittlungsansatz.
Sprachlich ist das Buch ein Highlight, da es der Autor bestens versteht, sich der Ausdrucksweise des 19. Jahrhunderts anzunähern.
Das Cover, diesmal in roter Farbe gehalten, verspricht, was das Buch hält: pure Spannung.
Fazit:
Ein historischer Thriller vom Feinsten, dem ich liebend gerne 5 Sterne und eine Leseempfehlung gebe