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Veröffentlicht am 03.04.2018

Techno-Gebrabbel und explodierende Köpfe

Extinction
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Der Wissenschaftsthriller Extinction dreht sich um die Fragen: Wie gefährlich wäre eine neue Spezies Mensch für den heutigen Menschen, wenn der Entwicklungssprung so groß wäre wie vom Schimpansen zum ...

Der Wissenschaftsthriller Extinction dreht sich um die Fragen: Wie gefährlich wäre eine neue Spezies Mensch für den heutigen Menschen, wenn der Entwicklungssprung so groß wäre wie vom Schimpansen zum Molekularbiologen? Und wie gefährlich wäre der heutige Mensch für den Evolutionsfortschritt?

Takano strickt hierum eine abenteuerliche Story um einen Evolutionssprung bei den Pygmäen im Kongo, der von der richtigen Forschergruppe entdeckt und gedeckt wird. Gemeinsam mit der jüngst in die Welt gekommenen überlegenen Intelligenz versuchen sie, den neuen Menschen aus Afrika heraus- und nach Japan zu bringen. Dazu folgt das Buch einem verwinkelten Plan, der den Einsatz einer Söldnertruppe um den Amerikaner Jonathan Yeager einschließt, der gemeinsam mit dem als Antihelden erfolgreichen jungen Molekularbiologen Kento Koga das gegensätzliche Protagonistenpaar bildet, das sich allerdings erst auf den letzten Seiten persönlich begegnet. dass der ganze Plan immer haarscharf am Scheitern vorbeischrammt, macht den Roman spannend, auch wenn die Handlung an den Haaren herbeigezogen ist. Es fängt damit an, dass der ganze Staatsapparat der USA - NSA, CIA, Air Force und private Sicherheitsdienste - ausgetrickst werden müssen, um sich ihrer gelichzeitig als Vehikel aus Afrika heraus zu bedienen, weil … ja weil das eben der Plan ist. Dass man den neuen Menschen auch einfacher aus Afrika hätte fliegen lassen können, wenn man die USA gar nicht informiert hätte, gehört zu den Konzeptionsinfarkten des Romans.
Die Handlung bedient sich der jüngsten weltpolitischen Ereignisse wie etwa des Kriegs gegen den Terror und stellt die amerikanische Machtpolitik unter Präsident Burns (gemeint ist Georg W. Bush) ironisch an den Pranger.
Zwei Momente stören gewaltig: Das eine sind die gewalttätigen Szenen im kongolesischen Bürgerkrieg, die nicht mit platzenden Kindersoldatenschädeln sparen. das andere ist das enervierende Techno-Gebrabbel der japanischen Laborhandlung, deren Absurdität daran kulminiert, dass der Gegner die schreckliche Lungensklerose ist, deren unaussprechlicher vollständiger Name „pulmonale Alveolarepithelzellensklerose“ lautet. Mit diesen sechzehn Silben wird keine Spannung erzeugt, und wenn sie noch so häufig genannt werden.
Am Ende punktet der Roman durch seine cineastische Rasanz und seinen grundsätzlich humanistischen Ansatz sowie mit dem Reiz, den winzigsten David gegen den us-amerikanischen Goliath triumphieren zu sehen.

Veröffentlicht am 01.06.2023

Haltung ist nicht Aussage, Text nicht Literatur

Babel
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Kann man diesem Buch vorwerfen, dass es die Erwartungen enttäuscht hat? Es wirkt ein wenig ungerecht, denn die Verlagsvermarktung und in Deutschland die irreführende Lobhudelei des Kritikers Denis Scheck ...

Kann man diesem Buch vorwerfen, dass es die Erwartungen enttäuscht hat? Es wirkt ein wenig ungerecht, denn die Verlagsvermarktung und in Deutschland die irreführende Lobhudelei des Kritikers Denis Scheck gehen nicht auf das Konto der Autorin Rebecca F. Kuang. Dennoch ist sie für die Enttäuschung nach bzw. schon bei der Lektüre verantwortlich, weil sie sich nicht entscheiden konnte oder wollte, in welches Genre ihr Roman passen soll. So gut, dass er alle Genregrenzen spränge, ist er nämlich bei weitem nicht. Ist das

„Dark Academia“? [Nein – es fehlt die romantisierende Seite dieses Kostümspektakels].

Fantasy? [Nein – die magischen Elemente sind völlig unterbelichtet, obwohl aus einer originellen Idee entstanden, und nicht handlungs- oder sinntragend].

Entwicklungsroman? [Nein – ihren Protagonisten Robin hat Kuang zu keinem Zeitpunkt im Griff und kann seine Entwicklung nicht erzählerisch herleiten.]

Ein historischer Roman? [Nein – zwar erfährt man ausgewählte Fakten der Vergangenheit, aber auch viele Fiktionen und insbesondere Protagonisten, denen nichts Historisches anhaftet außer ihrem Geburtsdatum.]

Ein Bildungsroman? [Vielleicht – zusammen mit den Protagonisten geht der Roman das linguistische Propädeutikum durch.]

Ein Gesellschaftsroman? [Vielleicht – Kuang beschreibt die Zwänge an einer englischen Eliteschule des 19. Jahrhunderts und die Auswirkungen von technischem Fortschritt und Kolonialismus, und zwar kritisch]. Ein bisschen von allem steckt drin, vor allem der letzten beiden mit unterschiedlichen Gewichtungen in der ersten bzw. zweiten Hälfte des Romans.

Wen diese Liste jetzt schon angähnte, hat eine Ahnung, wie sich das Lesen anfühlt.

Zum Inhalt: Robin wird in Kanton, China, geboren, kommt als Waise in der Obhut des Sprachprofessors nach England, erhält einen vorzüglichen, aber gefühlskalten Drill in den Geisteswissenschaften, um im richtigen Alter endlich nach Babel zu kommen. Das ist die sprachwissenschaftlich-magische Fakultät der Universität Oxford, an der jene herausragenden Menschen ausgebildet werden, die sich mit Übersetzungen befassen und mit der Magie des Silbers. Diese Magie gehört zu den wirklich tollen Einfällen Kuangs: Sie wird durch Sprache hervorgerufen, und zwar durch die Diskrepanz zwischen den Bedeutungen zweier Worte in zweier Sprachen. Da sich ein Wort seltenst exakt und ohne Bedeutungsverlust oder -verschiebung von einer in die andere Sprache übertragen lässt, kann von den richtigen Leuten mittels des Mediums Silber aus dieser Diskrepanz eine magische Wirkung erzeugt werden. Das Finden dieser Wortpaare ist die Hauptaufgabe der Babbler aus Babel. Da sich Wortpaare durch Gebrauch abnutzen und da Sprachen ihre Relevanz in der Welt verlieren -man könnte fast sagen: ihren „Zauber“ -, sind die Sprecher exotischer Sprachen besonders begehrt, um die Magie aufzufrischen. Da kommen Robin und seine Freunde Ramy (Indien) und Victoire (Haiti) ins Spiel. Sie sind die Vertreter einer vielversprechenden „Diversity“ an der Universität, kommen aber bald dahinter, dass Babel ein Instrument der Macht Großbritanniens ist. Da sie sich nicht länger ausbeuten lassen wollen und generell die Ausbeutung der Ohnmächtigen durch die Mächtigen verhindern wollen, finden sie auf unterschiedlichen Wegen in den Widerstand zum System. Am Ende wird es Verrat, Vatermord und viele Opfer geben und sogar einen heroischen Versuch, in den Opiumkrieg Großbritannien gegen die Qing-Dynastie einzugreifen.

Bis dahin ist es aber ein weiter Weg – sowohl für die Protagonisten wie auch für den Leser. Denn zunächst breitet die Autorin, die eine Mixtur aus Geschichte, politischen Wissenschaften, chinesischer Philosophie und Literatur studiert hat, jede Menge sprachwissenschaftliche und linguistische Fachlichkeiten aus, die insbesondere dann beeindrucken, wenn man von dem Thema vorher noch keine Ahnung hatte. Der Rezensent gehört nicht in die Kategorie der Ahnungslosen, weshalb die vielen Ungenauigkeiten und Nebelgranaten der Autorin mir unangenehm auffielen. Das beginnt bei falschen Übersetzungen aus dem Lateinischen („disce“ S. 49, „imperium“ S. 55, „transferre/transducere“ S. 228). Nicht übersetzt oder auch nur erklärt werden hingegen die nahezu nur an englischen Universitäten üblichen Bezeichnungen der akademischen Trimester („Michaelmas", „Trinity“, „Hillary“). Vergil heißt mal Vergil, dann wieder (englisch) „Virgil“, Kaiser Karl V. heißt „Charles“ als König von Spanien (und nicht Carlos). Warum das stört? Weil es doch immerhin um Übersetzung geht!

Der ganze, längliche Übersetzungsdiskurs nervt auch, weil er erkenntnistheoretisch hinter der Grundsatzfrage zurückbleibt, ob „Übersetzung" nicht automatisch stattfindet, wenn Gedanken, Empfindungen oder Sinneswahrnehmungen in Worte gefasst werden – ungeachtet, welcher Sprache diese Worte entstammen oder gar ob sie von einer in eine andere Sprache übersetzt werden. Das sind hermeneutische Grundbegriffe, aus denen man vielleicht einen spannenden Roman machen kann. In mir erzeugt es den Eindruck, die Autorin würde das in ihrem Literaturgrundstudium Erlernte irgendwie präsentieren wollen, Universalienstreit inklusive. Besonders schwierig wird es dann, wenn Übersetzung auch noch zur Machtfrage stilisiert wird und der gelehrte Wissenseifer durch eine Kolonialismusdebatte diskreditiert wird.

Hierher gehört der Hinweis, dass der Roman im Original „Babel, or the Necessity of Violence“ heißt – der Hinweis auf die „Notwendigkeit der Gewalt“ wurde dem deutschen Publikum aber aus unerfindlichen Gründen vorenthalten.

Dahinter steckt aber das eigentliche Anliegen der Autorin, die ja kein Sachbuch zur Translationstheorie schreiben wollte: Die Ungleichverteilung von macht und Ohnmacht, Gewalt und Erdulden, die sich insbesondere im Kolonialismus versinnbildlicht, in dem eine imperialistische Großmacht eine technologisch weniger entwickelte Nation ausbeutet. Oder: Im Verhältnis Eltern- Kinder, im Verhältnis Lehrer – Schüler, im Verhältnis Reich – Arm. Überall lässt sich die durch Gewalt durchgesetzte Hierarchie finden. Ob das auch auf Sprache zutrifft, ist mehr als fraglich. Die Idee, speziell das Englische habe andere Sprachen als Lehnwörter unterjocht (S. 238), ist barer Unsinn.

In dieser engagierten Wendung gegen Imperialismus, Kolonialismus und Machtmissbrauch liegt aber auch eine Schwäche des Romans: Die Hauptfiguren haben alle ausgesprochen moderne Mindsets. Sie sind gleichberechtigt denkende, aufgeklärte, sozialkritische und basisdemokratische Typen, die überhaupt nicht in die Zeit passen. Es ist ausgesprochen einfach, das britische Weltreich zeittypisch darzustellen und böse, gefährlich und machthungrig aussehen zu lassen, wenn man es mit modernen Charakteren kontrastiert - und nur mit diesen. Zumal die Vertreter der „alten Ordnung" kaum mehr charakterisiert werden, als dass sie zuschlagen und Frauen verachten. Den „Gegnern" wird immer gleich ein mieses Motiv unterstellt oder sie sind geistig minderbemittelt. Das ist plump.

Der Autorin fehlt hier meines Erachtens die Fähigkeit, ihre Aussagen literarisch zu präsentieren, stattdessen kommen sie essayistisch und platt. Das korrespondiert mit der gerade in der ersten Hälfte des Romans auffallend lahmen Erzählweise. Gerade im häufig herangezogenen Vergleich zu Harry Potter fällt das auf: Die Gemeinsamkeit beschränkt sich auf die Tatsache, dass Jugendliche an einer englischen Magierschule arkanes Wissen erlernen. Während Rowling aber die Kinder gemeinsam und im Dialog die Merkwürdigkeiten ihrer Schule entdecken lässt, lässt Kuang das Robin meist im inneren Dialog klären. Das ist ermüdend zu lesen und folgt nicht dem guten Ratschlag "Show, don't tell". Insbesondere nervig wird das, wen wir ausschließlich auf Robins naive Einschätzung der Welt angewiesen sind, wenn es um die Beurteilung von Personen oder (Geheim-)Bünden geht.

Ja nicht missverstanden werden zu wollen, ist wohl die Sorge, die auch zum vorangestellten Disclaimer auf den allerersten Seiten geführt hat: In welcher Welt ist es notwendig zu erklären, dass es früher Sklaverei gab und dass es heute nicht vertretbar ist, Sklaven zu halten? Für mich klingt das nach dem us-amerikansichen Wokismus, vor dem sich die Autorin bewahren muss, obschon sie ihren Roman in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ansiedelt. Ich halte es für einen Teil der Schulbildung, die ich voraussetze, zu wissen, dass es bspw. vor 1865 in den USA die Sklaverei gab, dass also Romane, die vor diesem Datum spielen, implizit das Phänomen der Sklaverei aufweisen. Das pure Erscheinen dieses Phänomens hat nichts mit einer moralischen, ethischen oder sonstwie an Haltungsfragen orientierten Aussage zu tun. Der Disclaimer sollte also eigentlich lauten: "Bitte erinnern Sie sich an Ihre Schuldbildung und setzen Sie alle innertextlichen Aussagen in den historischen Kontext."

Kurzum:

Der Roman verspielt seine guten Ideen durch langweiliges Erzählen, eklatante Handlungsarmut, unverständlich handelnde Figuren, platte Kolonialismuskritik und allgemeine Überladenheit an kritischen Themen, durch einen naiven Gegensatz von historischer Welt (1840) zu modern angelegten Protagonisten und nicht zuletzt durch die akademische Nabelschau der imponiersüchtigen Akademikerin Rebecca F. Kuang.

1,5 Sterne gibt es für die guten Ideen und einen halben für mich, weil ich durchgehalten habe.

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Veröffentlicht am 06.10.2022

Niemand ist eine Insel

Auf See
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Theresia Enzensbergers „Auf See“ ist eines dieser Bücher, das unter einem Text leidet, der mutmaßlich nicht von der Autorin stammt – nämlich dem Klappentext. Versprochen wird eine Geschichte „von der Freiheit ...

Theresia Enzensbergers „Auf See“ ist eines dieser Bücher, das unter einem Text leidet, der mutmaßlich nicht von der Autorin stammt – nämlich dem Klappentext. Versprochen wird eine Geschichte „von der Freiheit des Einzelnen und dem utopischen Versprechen neuer Gemeinschaften im Angesicht des Untergangs“, ein Chaos, „in dem die übrige Welt versinkt“, denn: „Die Welt geht unter“. Zu erwarten ist eine Dystopie. Wer Freude an dieser literarischen Gattung hat (ich zum Beispiel), der freut sich darauf, wie die Missstände unserer Gegenwart in die Zukunft verlängert, radikalisiert ausgeführt werden und die Welt, wie wir sie kennen, sich im oben genannten Sinn untergeht. Der Einzelne sieht sich dann in der dystopischen Zukunft mit dem Dilemma der Gegenwart konfrontiert, während die geneigte Leserschaft etwas über den Menschen und über die Gegenwart lernt.

Man kriegt aber nur so eine Art dystopischer Kulisse, in der es an globalisiertem Obsthandel (frische Kiwis), funktionierenden Bankautomaten und einem florierenden Kunsthandel keinen Mangel gibt. Gut – der Berliner Tiergarten wird von einer Zeltstadt obdachlos gewordener Angestellten des unteren Lohnsegments bevölkert, aber die Lösung dieses Problems scheint im Mittel der Vergangenheit zu liegen: Räumungsbescheid des Bezirksamtes. Das hatten wir schon auf dem Oranienplatz.

Während die Dystopie nicht ausgeführt wird, schade, erfahren wir wenigstens etwas über den systemischen Knacks von Utopien, beispielsweise den der Freistatt in der Ostsee, auf der die Protagonistin Yada aufwächst und die ihr Vater einst idealistisch begonnen hat und die jetzt die „utopischen versprechen“ (s.o.) keinesfalls mehr erfüllt. Das ist nett, aber in „Die Welle“ u.a. schon deutlich besser gezeigt worden.

Was bleibt?

Der Roman erzählt in zwei Ebenen: Yadas Geschichte ist eine Coming-of-Age-Story mit viel Potenzial. Ihr Aufbruch aus dem Korsett ihrer Jugend, der Isolation auf der Freistatt und ihre Emanzipation gegenüber ihrem Vater sind gelungen und unmittelbar ansprechend für alle, die Coming-of-Age-Storys mögen (ich zum Beispiel). Die zweite Eben ist Helenas Geschichte. Sie ist eine unabhängige Künstlerin, die sich von der Gesellschaft und den Massenmechanismen abzuwenden versucht. Helenas Satire auf das Sektenunwesen schlägt ins Gegenteil um: Statt den Menschen die Augen zu öffnen, gründet sie aus Versehen eine Sekte und ist danach bemüht, sich zu isolieren und dem Wirbel um sie als „Orakel“ und Youtube-Star zu entgehen.

Die Montagetechnik ist klar: Yada kommt von einer Insel, Helena will eine Insel sein - und beide Inseln scheitern am Menschen. Oder um es mit John Donne zu sagen, der im 17. Jahrhundert gelegt hat: „Niemand ist eine Insel, in sich ganz; jeder Mensch ist ein Stück des Kontinents, ein Teil des Festlandes.“

Die beiden gegeneinander montierten Erzählebenen begegnen einander in der Mitte, und nicht zufällig ist es die Seite in der Mitte, in der ein Handlungsknoten platzt (S. 129 von 259). Zwischen Yada und Helena als Ich-Erzählerin bzw. Point-of-View-Charakter (das Prinzip wird im zweiten Teil aufgebrochen, weil aus Sicht weiterer Figuren erzählt wird, leider) ist das „Archiv“ zwischengeschaltet. Ihn diesen Kurzkapiteln referiert Enzensberger gescheiterte Utopien und Inselprojekte – diese Essays sind in meinen Augen der stärkste Teil des Buchs. Die Erzählweise Enzensbergers ist knapp, prosaisch und fast schon dürr – keinesfalls ansprechend.

Fazit: Hätte es diesen Klappentext nicht gegeben, man könnte den Roman viel mehr als Geschichte genießen und nicht auf die Gesellschaftskritik hoffen, die innerhalb des Romans die Behauptungssphäre kaum verlässt. Nicht zu Unrecht empfiehlt die Rezension in der ZEIT den Roman jugendlichen Lesern – diese werden auch aus den Archiv-Essays besonders viel Honig saugen können.

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Veröffentlicht am 21.08.2020

Heydrich und ich. Oder besser: Ich und Heydrich

HHhH
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Laurent Binet wollte schon immer einen Roman über Reinhard Heydrich schreiben bzw. über die beiden Attentäter Jozef Gabčík und Jan Kubiš. Und hat er das getan? Nein – er schrieb einen Roman über eine, ...

Laurent Binet wollte schon immer einen Roman über Reinhard Heydrich schreiben bzw. über die beiden Attentäter Jozef Gabčík und Jan Kubiš. Und hat er das getan? Nein – er schrieb einen Roman über eine, der immer schon einmal einen Roman über Heydrich und seine beiden Attentäter schreiben wollte. Was anfangs noch wie eine ausgeweitete Captatio benevolentiae ausgesehen hat, krankt zunehmend an der ständigen Sucht des Autors, den Schreibprozess und die damit verbundenen Entscheidungen (Darstellung, Auswahl, Recherche, Blickwinkel etc.) zu reflektieren. Um es mit Binet zu sagen: „Diese Geschichte wird zu meiner persönlichen Angelegenheit.“ (S. 148) Leider.

Man darf annehmen, dass jeder Autor, der seinen Roman oder sein Sachbuch einem Thema widmet, sich mit diesem intensiv befasst und bis zur Besessenheit hineingekniet hat. Insofern ist Binet nichts Besonderes wiederfahren, vielleicht aber hat er gemerkt, dass nichts Besonderes aus seinem Roman herausgekommen wäre. Darum impfte er ihn mit seinen Metabetrachtungen – vielleicht auch, weil Jonathan Littells „Die Wohlgesinnten“ ebenfalls das Sujet des Menschen im Nationalsozialismus ausleuchtet und es so extrem gut machte.

Binet stolpert nun also durch die Geschichte, indem er Heydrichs Leben und Werdegang kolportiert, hin und wieder Szenen formuliert, um ihre Textgenese anschließend zu kritisieren (Was ist erfunden? Was ist nachprüfbar? Was kann man erzählen? Was darf man erzählen?), weshalb er sich dem Kriegsverbrecher Reinhard Heydrich kaum nähert. Er kreist um ihn – und endlich später auch um die tschechoslowakischen Fallschirmspringer und Freiheitskämpfer –, ohne dass sich eine einzige historische Erkenntnis aufschließen würde, die jeder Handbuchartikel liefern könnte. Die Aneinanderreihung von Anekdoten, Kolportagen, Geschichtchen und die zwischengeschaltete Metabetrachtung von Binets Näherung zum Thema gärt zu einem blubbernden, undefinierbaren Cocktail. Bisweilen schleicht der Verdacht heran, dass Binet es sich womöglich leicht machen wollte, „… da ich mir nicht die Zeit genommen habe, eine vertiefte Recherche zum Thema durchzuführen.“ (S. 192). Den möglichen Vorwurf entkräftet der Text rhetorisch, indem er ihn selbst äußert und indirekt abzuschmettern versucht.

Dass es nicht auf das Detail ankommt, solange der Kern sichtbar wird, thematisiert Binet selbstredend auch. Doch setzte er es nicht um, obschon doch „der Erzähler beinahe uneingeschränkte Freiheiten“ besitze (S. 189). Binet nutzt seine Freiheiten zur Metaanalyse des Biographieschreibvens, was legitim, aber auch fad ist. Nicht eine historische Wahrheit, eine anthropologische Erkenntnis oder ein erhellendes Verständnis lässt sich aus diesem Sachbuch-Roman ziehen. Ob ein Roman über Reinhard Heydrich korrekt sein kann, ob man sich „sicher sein“ kann (S. 256), fragt sich Binet, statt sich zu fragen, ob er wahr sein kann. Denn eine historische Wahrheit misst sich nicht nur am korrekten Detail (schwarzes Auto/grünes Auto), eine literarische Wahrheit noch viel weniger. Und genau diese literarische Wahrheit vermisse ich hier schmerzlich.

Rezensionen von Binets Heydrich-Text kreisen um die Bemerkungen auf der Metaebene und räsonieren über die Rechercheproblematik bei historischen Romane, die Binet so plastisch darlege. Dabei äußert keiner, dass hier selbstverständlich ein Text den Leser massiv manipuliert und mit dem texinhärenten Ich keinesfalls der Autor gleichzusetzen ist! „Aber ich bin eben keine Figur“, schreibt Binet auf Seite 217 – aber ist es freilich doch! Sogar die Hauptfigur.

Ist das ironisch? Zum Beispiel auch, wenn Binet über das Pathos in Alan Burgess‘ Attentats-Roman von 1960 klagt (S. 243), um wenig später Gabčík und Kubiš den „heiligen Boden“ Prags betreten zu lassen (S. 248)? Überhaupt setzt sich der zweite Teil des Romans über die Metaüberlegungen des ersten Teils hinweg und erzählt die Geschichte des Attentats romanhaft (und gut). Hier liest sich der Text wie ein historischer Thriller und liefert dem Leser Erkenntnisse über die Drangsal des totalitären NS-Regimes im Protektorat, über die inneren Mechanismen des Machtapparates und die Bedeutung, die Heydrichs seelenloser Bürokratismus und karrieregeile Menschenverachtung besaßen.

„HHhH“ ist weder Fisch noch Fleisch, weder Biographie noch Roman, ist voller inkonsequenter Erzählhaltungen und setzt sich m.E. viel zu wenig mit der Frage der Wahrheitssuche in der Geschichte auseinander, weil zu sehr die Mechanik derselben im Vordergrund steht.

Ich verstehe nicht, warum Binet den Prix Goncourt du Premier Roman bekommen hat. Vielleicht habe ich aber auch den ganzen Roman nicht verstanden.

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Veröffentlicht am 11.08.2020

Zwischen Bleiben und Gehen

Der letzte Satz
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Was stimmt nicht mit Seethalers melancholischem Mahler-Romänchen „Der letzte Satz“? Dass er nur 120 Seiten hat, auf denen luftig großer Durchschuss den Zeilen viel Platz lässt, ist es nicht, denn die Erzählung ...

Was stimmt nicht mit Seethalers melancholischem Mahler-Romänchen „Der letzte Satz“? Dass er nur 120 Seiten hat, auf denen luftig großer Durchschuss den Zeilen viel Platz lässt, ist es nicht, denn die Erzählung von Gustav Mahlers letzter Reise liest sich gewandt und gefällig. Was also hat mich so gestört, das ich mit dieser Rezension fast zwei Wochen schwanger gehen musste? es hat wohl mit diesem Satz zu tun: „Man kann über Musik nicht reden, es gibt keine Sprache dafür. Sobald Musik sich beschreiben lässt, ist sie schlecht.“ (S. 65)

Seethaler schreibt nicht über Musik, sondern über einen Komponisten und Dirigenten. Das macht er sehr gut, es finden sich alle wichtigen Stationen aus Mahlers Leben auf den 120 Seiten - ganz plastisch erscheint das Gerüst dieser außergewöhnlichen Vita, wenn ich sie mit dem zu Rate gezogenen Wikipedia-Artikel vergleiche. Aber Seethaler schreibt nicht - oder nur kaum – über die Musik. Welchen Sinn ergibt es, über einen Musiker zu schreiben, wenn man so wenig über die Musik erfährt? Immerhin, und das sind die m.E. stärksten Passagen, kreist der innere Monolog des moribunden Musikers um das Komponieren. Woher kommt die Musik? Was sieht Mahler, das uns ihn hören macht? Eindrücklich über Mahlers innige Musikwerdung durch die Wahrnehmung sowohl des Äußeren (Vögelgezwitscher u.ä.) wie auch des inneren Genius, des autonomen Schöpfers: „Er hätte die Harmonien seines Körpers komponieren sollen. Und noch vielmehr die Disharmonien.“ (S. 114) Gemeint sind Mahlers instabile Gesundheit, der schwere Verlust der älteren Tochter und das zerrüttete Verhältnis zur viel jüngeren und von einem anderen Genius umworbenen Ehefrau Alma.

Beim Lesen sitzen wir nicht nur mit dem totgeweihten Mahler in seinem Deckstuhl auf der letzten Reise aus den USA nach Europa, gezeichnet von der Herzmuskelentzündung, an der die Ärzte in New York, Paris und Wien verzweifelten (und Mahler selbst auch, und zwar immer wieder in diesem Roman), wir sitzen auch mit ihm in seinen Komponierhäuschen. Hier destilliert Mahler die Natur in seine Musik, und Seethaler erspart uns diese klischeehaften Passagen nicht.

Klischeehaft und wie aus dem Lehrbuch zur Textgestaltung wirken allerdings auch andere Absätze: Man nehme ein Ortsdetail, eine innere Ansicht, einen Vergleich und einen synästhetischen Sinneseindruck – anlässlich des Besuchs bei Siegmund Freud auf Seite 98 klingt das so: „In einem Café tranken sie heiße Limonade mit Honig, dann machen sie einen Spaziergang entlang der Rapenburg-Gracht (Detail!). Mahler erinnerte sich (innere Ansicht!) an das das ölige, flaschengrüne (Vergleich!), unter den Brücken und im Schatten der Boote tiefschwarze Wasser. Es war mitten im Sommer, doch es roch schon nach Herbst, faulig und feucht (Synästhesie!).“ Das ist einerseits perfekt erzählt. Andererseits wirkt es auch mechanisch, lehrbuchhaft und damit platt. Überhaupt erscheint es zum Scheitern verurteilt, alle wichtigen biografischen Details Mahlers auf so wenig Seiten mehr listenartig als listenreich abzuhaken.

Abgesehen davon, dass zu wenig Musik auf diesen 120 Seiten erklingt und zu viel schwarze Galle aus der Melancholie von Mahlers umfassenden Abschied vom Leben, der Welt, der Musik und seiner Frau tropft, muss man freilich auch über den Titel des Buches nachdenken: „Der letzte Satz“.

Mahler lässt die Entstehung seiner neunten Sinfonie und die letzten drei Jahre Revue passieren lässt: Diese neunte wird - wie bei Beethoven oder Bruckner Mahlers letzte sein, mithin der vierte Satz auch Mahlers "letzter Satz". Dieser endet bemerkenswerterweise mit der Spielanweisung "ersterbend" - und genau in dieser elegischen Abschiedsstimmung trifft man lesend Mahler an Bord des Schiffes an. Ich wäre gespannt gewesen, wie Seethaler die Entstehung des letzten Satzes der 9. Sinfonie und das Ersterben Mahlers literarisch konvergieren lässt. Das passiert allerdings nicht, denn die Musik spielt in diesem Roman ja nicht die erste Geige.

Eine andere Spannung aber konstruiert Seethaler, nämlich aus dem letzten Satz, den Mahler in diesem Roman sagt, und dem letzten Satz des Roman schlechthin: „Ich sollte noch ein wenig bleiben“, sagt Mahler auf Seite 118, doch das unerbittliche Ende lautet: „Und das war gut, denn es war Zeit, zu gehen.“ (S. 126)

Diese Spannung zwischen Bleiben und Gehen gelingt Seethaler immerhin durch das Gegenüber von melancholischer Rückschau und Dialog mit dem jugendlichen Decksstewart, der den „Direktor“ bedient und zur interessantesten Nebenfigur wächst.

Mein letzter Satz: „Der letzte Satz“ liefert nicht mehr als der Wikipedia-Artikel zu Gustav Mahler, ist aber deutlich schöner zu lesen.

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