Allgemeines:
Titel: Fanatisch
Autor: Patricia Schröder
Verlag: Coppenrath (5. Februar 2018)
Genre: Thriller
ISBN-10: 3649624540
ISBN-13: 978-3649624547
ASIN: B079C1LNXZ
Seitenzahl: 368 Seiten
Preis: 12,99€ (Kindle-Edition)
17,95€ (Gebundene Ausgabe)
Inhalt:
„Stelle dich niemals gegen den göttlichen Willen! Es könnten furchtbare Dinge geschehen.“
Sechs Mädchen verschwinden spurlos und kehren nach sechs Tagen völlig unvermittelt nach Hause zurück – in einheitlicher Kleidung, mit einer genähten Wunde an der Hand und alle sechs schweigen beharrlich. Religiöse Fanatiker haben sie auf grausame Weise biblischen Ritualen unterzogen. Nara ist eine der Geiseln gewesen und auch sie darf kein Wort sprechen. Denn der Entführer hat gedroht, ihrem Bruder etwas anzutun. Doch warum wurde gerade sie auserwählt? Langsam erkennt Nara, dass ihr Martyrium Teil eines größeren Plans ist, in dem sie eine besondere Rolle spielt. Und nur wenn sie es rechtzeitig schafft, sich in die fanatische Gedankenwelt des Täters zu vertiefen, kann sie das große angekündigte Unheil verhindern.
Bewertung:
Nachdem ich mit Begeisterung den Jugendbuchbestseller "Blind Walk" und die "Meeresflüstern"-Trilogie von Patrica Schröder geschrieben hat, womit sie nach zahlreichen Kinderbüchern auch im Jugendbuch Genre Erfahrungen sammelte, musste ich den neuen Thriller von ihr natürlich auch lesen. Der Klapptext wies auf eine spannende, beklemmende Sekten-Geschichte hin, was die Story dann auch gehalten hat.
„Du bist schuldig. Du musst büßen.“
Das Cover ist mit dem dunkel-violetten Hintergrund und den hellen Lichteffekten zwar nicht besonders reich an verschiedenen Motiven, hat jedoch durchaus Atmosphäre. Gerade in Verbindung mit dem dunklen, großen Titel und dem weißen Kreuz, dass als "T" des Schriftzuges fungiert, entsteht schon gleich eine dynamische, bedrohliche Stimmung. Der Titel passt auch ganz wunderbar. Unter dem Einband ist die gebundene Ausgabe in einem einfachen lila-grau-Ton gehalten. Große Überschriften, die entweder die Zeit oder die gerade anstehende Gabe ankündigen, unterteilen die Geschichte in mittellange Abschnitte. Kapitel im eigentlichen Sinne gibt es nicht. Durch gelegentliche Mails, Textnachrichten oder Zeitungsartikel wird der Erzählstil etwas aufgelockert.
Erster Satz: "Es gibt Dinge, die darf man nicht den falschen Leuten überlassen."
Mit einem kurzen Prolog aus der erfrischenden Du-Perspektive erfahren wir von dem Plan eines religiösen Fanatikers, die Ketzer zu strafen und ein Zeichen der Herrlichkeit Gottes in die Welt zu tragen. Was diese pathetischen Worte mit der jungen Protagonistin Nara zu tun haben, wird zuerst nicht klar. Die iranisch stämmige Deutsche lebt den ganz normaler Alltag eines Teenagers: Schule, erste Liebe, Freundschaften, Familie - alles scheint einen gewohnten und harmlosen Gang zu nehmen. Als eines Tages ein Zettel droht, dass schlimme Dinge geschehen werden, wenn sie sich gegen den göttlichen Willen stellt, ist sie erst versucht, das als harmlosen Streich abzutun. Das Verschwinden ihres Hundes Mister Ibrahim, weitere Drohungen und Textnachrichten mit Andeutungen über den kommenden Tod ihres kleinen Bruders Sinan sprechen aber eine ganz andere Sprache. Um dem ganze ein Ende zu setzen und die Gefahr von Sinan abzuwenden, folgt sie schließlich der Anweisung, sich um 1 Uhr am 19. Juli in einem verlassenen Stadtgebiet auf ein Treffen einzulassen und kreuzt dort mit ihrem Sandkastenfreund Jamie auf. Bevor sie jedoch irgendetwas herausfinden kann, bekommt sie eins übergebraten und wacht erst wieder in einem dunkeln Verlies auf, wo außer der Dunkelheit, der klaustrophobische Enge und körperlichen Bedürfnissen wie Hunger und Durst vor allem eines quält: die Ungewissheit und die Angst, einer verrückten Gruppe hilflos ausgeliefert zu sein...
"Ja, ich bin sentimental. Vor allem aber bin ich innerlich wund. Niemals hätte ich gedacht, dass die Seele so sehr schmerzen kann. Es ist kein Herzensleid, sondern geht viel tiefer. So tief, dass ich nicht bis auf den Grund zu sehen vermag."
Bevor man es überhaupt richtig wahrnehmen konnte, wurde aus dem harmlosen, ruhigen Teenageralltag, mit dem wir in die Geschichte starteten, ein immer bedrohlicher und beklemmender erscheinendes Szenario. Schließlich landen wir als Leser in einem dunklen, quadratischen Raum und müssen uns mit Nara der Willkür der Entführer stellen und darum kämpfen, nicht an der Stille und dem Alleinsein in dem Gefängnis zu zerbrechen. Was nach wenigen Tagen noch als pure Grausamkeit aussieht, nimmt bald ein genaueres Muster an und Nara beginnt einen Plan zu erahnen, den die Entführer mit ihnen durchführen wollen. Einen Plan, der es vorsieht, sie von ihrer Schuld reinzuwaschen, in dem sie die 6 entführten Mädchen den Werken der Barmherzigkeit unterziehen...
Szenarien, in denen Religionen von Manischen als Vorschub benutzt werden und hingebungsvoller Glaube zum Fanatismus wird, haben immer eine ganz eindringliche Tragik an sich. Auch wenn die Idee nicht vollständig neu ist, wird hier mit den Werken der Barmherzigkeit eine neue Dimension aufgerollt. Mit den sechs Gaben, an denen man als Mensch laut der christlichen Lehre vor dem Weltenrichter am jüngsten Tag gemessen wird, rollt die Autorin einen wichtigen Grundsatz des christlichen Glaubens aus. Was aber ursprünglich als barmherzige Akte der Nächstenliebe gedacht war, wird hier auf ekelhafte Weise pervertiert. Für jede der sechs Gaben haben die Entführer eine kleine feine Überraschung für die sechs Mädchen parat: Hungrige speisen, Durstigen zu trinken geben, Fremde aufnehmen, Nackte Kleiden, Gefangene besuchen, klingt ja im Grunde alles ganz nett, doch was wird geschehen, wenn die siebte Gabe in die Tat umgesetzt wird: Tote begraben?
"Jamie?" Zitternd lauschte ich in die Dunkelheit. Wenn da noch jemand war - müsste ich ihn dann nicht hören?
Aber da war nichts.
Kein Atmen.
Kein Stöhnen.
Keine Antwort.
Er ist nicht da, Nara. Du bist allein."
Der Geschichte besticht vor allem durch die Gefühle der Protagonisten und wird durch die erdrückende, beklemmende Atmosphäre vorangetrieben. Die Spannung entsteht hier weniger durch die Handlung. Der Zeitungsartikel zu Beginn zum Beispiel greift schon einen Teil der Handlung vor und auch der Klapptext verrät schon über zwei Drittel der Handlung, das macht jedoch weiter nichts, da es vorrangig um die Gefühle bei der Handlung geht. Demnach ist die primäre Spannungsquelle nicht, ob sie es schafft, aus ihrem Gefängnis zu entkommen, da schon von Beginn an feststeht, dass die Mädchen nach 6 Tagen freigelassen werden sondern viel mehr, wer nun hinter der Entführung steckt, wie Nara damit umgeht und es schafft, auch weiterhin den Beeinflussungen der Fanatikern zu entkommen. Auch wenn ich schon von Beginn an einen Verdacht hatte (der sich am Ende auch leider bestätigt hat), weiß Patricia Schröder uns durch gezielte Irreführungen und Wendungen geschickt in eine falsche Richtung zu lenken.
"Sie hat schon immer gelogen, wenn es nützlich für sie war. Sich nicht um die Gebote geschert und sich schuldig gemacht. Aber das wird sich nun ändern. Jetzt, da du den Sinn hinter all dem, den göttlichen Plan und deine Bestimmung erkannt hast.
Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub."
Der jugendliche und erfahrene Sprachstil der Autorin ermöglicht ein schnelles Lesen und die einfachen aber eindringlichen Dialoge versetzen ohne Umschweife in die jeweils präsentierte Situation. Dabei nimmt Patricia Schröder in ihrer Wortwahl und Schilderung kein Blatt vor den Mund, sondern beschreit ganz ungeschönt die Umstände der Gefangenschaft. Wenn sich dabei die Gefangenen erbrechen müssen oder tagelang in ihren eigenen Exkrementen liegen, wird auch das nicht schnell abgetan, sondern als Element genutzt, um dem Leser die volle Tragweite der Schonungslosigkeit der Entführer zu zeigen.
"Wer tat uns so etwas an? Und warum? Womit hatte meine Familie das verdient? Nein, falsch! - Was hatte ich verbrochen, dass ich jemand glaubte, meiner Familie so sehr wehtun zu müssen?"
(...) Das war erst der Anfang"
Wie schon erwähnt erzählt hier vorrangig Nara aus der Ich-Perspektive von ihren Erlebnissen, wodurch wir als Leser ganz nah an denn Ereignissen dran sind. Wir erfahren aus erster Hand, wie sehr sie mit ihrer Angst zu kämpfen hat - Angst um ihre Familie, Angst vor ihrer Schuld, Angst vor der Allmacht ihrer Peiniger und schließlich auch Angst davor, herauszufinden, wer wirklich dahintersteckt. Ihre tapfere, manchmal zornige und doch rationale Art, mit der Situation umzugehen, verhindert eine Überdramatisierung und ein Abrutschen der Geschichte ins Makabre. Manchmal ist die Intensität ihrer Angst und Verzweiflung schier überwältigend und man bewundert die 17-jähirge ein Stück weit für ihre Stärke, sich nicht zerbrechen zu lassen. Auch wenn sie manchmal Dinge tut, die nicht rational sind, kann man ihre Empfindungen in fast allen Belangen gut nachempfinden und mit ihr leiden und bangen.
"Sinan", krächzte ich, umschlang meine Knie und schloss die Augen. Mein kleiner, lieber, süßer Bruder. "Charlie." Du Beste, Schönste und Verrückteste von allen. "Mam", wisperte ich und wiegte mich sanft hin und her. "Pa." Oh mein Gott, wie sehr ich euch vermisse!!"
Etwas schade ist, dass viele Nebenfiguren nur grob charakterisiert und schnell wieder übergangen werden. So erfahren wir nicht besonders viel über die Schicksale der anderen 5 Mädchen, während Charlotte als die typische beste Freundin und Jamie als der wunderbare Sandkastenfreund abgestempelt werden. In Anbetracht der späteren Entwicklung dieser Freundschaften, hätte eine genauere Betrachtung vielleicht schon Sinn gemacht. Was wiederum sehr spannend ist, sind die zwei anderen Perspektiven, die hier zeitweise angeführt werden. Die oben schon genannte Du-Perspektive bildet eine erfrischende Abwechslung zu den sonstigen konventionellen Erzählformen und konfrontiert den Leser immer wieder mit abgedrehten Weitsichten und hinterlistigen Plänen, die einem gestörten Glauben entspringen, während die Er-Perspektive hier das große Rätsel darstellt. Da keine Namen genannt werden, wird in der letzteren Erzählhandlung nur von einem weiteren Gefangenen berichtet, der seinen Peiniger offenkundig kennt. Von Anfang an ist klar, dass einer der beiden Jamie sein muss und der andere Tobias Herrmann, welche der beiden Perspektiven nun wer auskleidet, bleibt jedoch offen...
"Am Ende lag die Entscheidung bei dir: Gott oder Satan. Du hast Letzteren gewählt. Und so blieb mir keine andere Wahl, als über das Zeichen der sechs Werke der Barmherzigkeit hinaus noch eine siebte hinzuzufügen, die gnädigste aller Gaben: die Erlösung im Licht."
Am Ende angelangt kann ich sagen, dass der Thriller neben all der Spannung und den abgedrehten Weltverbesserer-Ideen der Sekte vor allem leise gegen Fremdenhass, Islamophobie und für mehr Toleranz und Offenheit gegenüber anderen Kulturen wirbt. Und auch wenn die Hintergründe der Geschichte am Ende viel zu schnell und überstürzt geklärt werden und ich mir eine ausführlichere Auflösung und einen spektakuläreren Showdown gewünscht hätte, bleibt am Schluss ein beklemmendes Gefühl.
Fazit:
Ein beklemmender Jugendthriller, welcher auf eindrückliche Art die möglichen Folgen von Fanatismus, Fremdenhass und Islamophobie verdeutlicht. Spannend, schonungslos und sadistisch, wenn auch nicht ohne Schwächen.