Ein bedrückendes Portrait einer Familie, die ihre Heimat nicht vergessen kann.
Beschreibung einer KrabbenwanderungIn der Frühjahrs-Verlagsvorschau des Dumont-Verlag habe ich eine kleine Perle entdeckt: Und zwar Karosh Tahas „Beschreibung einer Krabbenwanderung“. Der außergewöhnlich klingende Titel, das wunderschöne ...
In der Frühjahrs-Verlagsvorschau des Dumont-Verlag habe ich eine kleine Perle entdeckt: Und zwar Karosh Tahas „Beschreibung einer Krabbenwanderung“. Der außergewöhnlich klingende Titel, das wunderschöne Cover und natürlich nicht zuletzt der Klappentext konnten mich überzeugen, dass ich dieses Buch unbedingt lesen muss. Und zwar geht es um die 22-jährige Sanaa, die in ihrem Umfeld gefangen ist: Ihre Mutter ist depressiv, ihr Vater könnte gleichgültiger nicht sein und verschwindet auch immer öfter. Zudem scheint ihre Schwester sich mit den falschen Leuten abzugeben, ihre Ansichten vor allem über ihre Zukunft werden immer krasser; ihr fehlt klar eine Elternfigur. Neben all diesem familiären Chaos versucht Sanaa, ihre Beziehungen zu zwei Männern aufrechtzuerhalten und auch noch zu studieren. Als einer ihrer Lover, Adnan, plötzlich Ernst macht und sie seinen Eltern vorstellen will, zieht sie sich in ihr Schneckenhaus zurück und flieht zu ihrer Familie, da sie keine Zukunft für die Beziehung sieht, solange ihre Familie noch die ist, die sie ist. Sanaa lebt in zwei Welten: die eine in der Hochhaussiedlung neben den anderen irakischen Familien, unter ständiger Beobachtung, lediglich durch Essen wird Verbundenheit geschaffen; die andere außerhalb der Siedlung, wo sie sich mit ihren Freunden treffen kann, zur Uni geht und einfach ihr Leben leben darf. Doch die erste Welt drängt sich ihr immer wieder auf, sie kann ihr nicht entfliehen.
"Ich kann nicht irgendwo warten, bis jemand kommt, auch wenn es Adnan ist, ich kann nicht stehen bleiben, ich kann mich nicht aus dem Fenster lehnen und gucken, was die Leute machen, während ich nichts mache, ich kann nicht im Bett liegen, obwohl ich nicht schlafe. […] Solange Asija nicht lachen kann, kann ich nicht mit Adnan schweben."
Asija und Nasser sind als frisch getrautes Paar mit Sanaa in ein Hochhaus in Deutschland gezogen und haben dem Irak den Rücken gekehrt. In Deutschland seien die Berufsschancen besser, für das Kind würde gut gesorgt werden, wurde ihnen erzählt. Damit sie nicht direkt bei der Ankunft abgeschoben werden, riet man ihnen, noch ein Kind zu bekommen, „schwanger schickt man dich nicht zurück“. In dem Hochhaus, wo die Drei landen, wohnen auch bereits andere Familienmitglieder, die vor ihnen nach Deutschland gereist sind. Doch anstatt in einem liebevollen, familiären Umfeld aufzuwachsen, verfällt Asija nach der Geburt Helins in tiefe Depressionen, sie und Nasser leiden beide unter dem Heimatverlust und die „nette Verwandtschaft“ sitzt in Form von Tante Khalida und deren Nachbarin, die Sanaa heimlich Baqqe (Frosch) nennt, rauchend und tratschend im Wohnzimmer. Sanaa flüchtet so oft sie kann aus diesem Szenario, ihr Gewissen zwingt sie aber, sich nicht allzu weit von ihrem Hochhaus zu entfernen. Sie verachtet die „Hochhausfrauen“, die den ganzen Tag wie Tante Khalida nur tratschen und vom Balkon aus die Menschen unter sich verurteilen.
Zu Beginn des Buchs wurde ich nicht so richtig warm mit der Erzählweise und Sprache der Autorin, und ich muss sagen, dass auch das ethnische Umfeld Sanaas neu für mich war. Dadurch wurde mir der Zutritt zum Buch eingangs ein wenig versperrt, doch nach einigen weiteren Seiten war ich mittendrin in Sanaas „Gefängnis“ und ein unangenehmes Gefühl breitete sich aus, als ich alle Zusammenhänge erkennen konnte und auch, als Sanaa offensichtlich von einem sehr haarigen Herrn, dem „Volvomann“, wie sie ihn nennt, verfolgt wurde. Als ich im Buch angekommen war, erschien mir auf einmal alles besonders; alles, was ich nicht kannte, wurde gegoogelt und bestaunt; zugleich habe ich auch mit Sanaa gelitten und am liebsten hätte ich Tante Khalida und Baqqe aus ihrem Wohnzimmer geschmissen. Die Charaktere in Karosh Tahas Werk sind bunt, vielschichtig und jeder hat seine eigene Geschichte. Unsere Protagonistin ist zum Beispiel nicht nur fahrig, unruhig und unfähig, sich auf ein längeres Gespräch mit wem auch immer außerhalb der eigenen vier Wände einzulassen, sondern sie macht sich auch permanent Sorgen: Sorgen, Asija könnte vom Balkon springen, Nasser könnte Asija betrügen, Sorgen um Helin, die orientierungslos durch ihr Leben irrt — dabei vergisst sie, sich Sorgen um sich selbst zu machen, um ihre Zukunft, ihre Unabhängigkeit. Als die Situation daheim immer angespannter wird, hofft sie, in Onkel Agids Sammlung von Hochzeitsvideos das ihrer Eltern zu finden, um deren Liebe wieder aus dem Eis zu holen. Doch auch das scheint nicht zu gelingen.
Die vollständige Rezension findet ihr auf meinem Blog: https://killmonotony.de/rezension/karosh-taha-beschreibung-einer-krabbenwanderung