Ein neues Leben in einem neuen Land
Ein neues Leben in einem neuen Land
Die Protagonistin Hildegard von Plötzke muss bereits als Kind erfahren, was es bedeutet, alles zurück lassen und ein neues Leben in einem fremden Land beginnen zu müssen. ...
Ein neues Leben in einem neuen Land
Die Protagonistin Hildegard von Plötzke muss bereits als Kind erfahren, was es bedeutet, alles zurück lassen und ein neues Leben in einem fremden Land beginnen zu müssen. Nach dem Petersburger Blutsonntag im Jahre 1905 flieht ihre Familie vor den Bolschewisten und lebt fortan in einem herrschaftlichen Haus in Ostpreußen, in der Nähe von Königsberg. Irma Joubert stellt ihren Lesern ein trauriges kleines Mädchen vor, deren Eltern eine lieblose Ehe führen, wo es auch keine Zärtlichkeit oder gar Liebe für ihre einzige Tochter gibt. Das einsame Kind wendet sich ihrer geliebten Nanny Miss Jones zu, die sie mit Wärme und mütterlicher Zuneigung überschüttet – Dinge, die sie bei ihren leiblichen Eltern nicht erfährt. Als es in Deutschland zum Krieg kommt, scheint sich der Schrecken der Flucht aus Russland zu wiederholen. Hildegard muss jedoch nicht nur den ersten, sondern auch den zweiten Weltkrieg überstehen, und aus dem verwöhnten, fremdbestimmten Mädchen aus adeligem Hause wird eine selbständige junge Frau, die gelernt hat, sich an die schlimmen Umstände anzupassen. Über kurz oder lang verliert sie geliebte Familienangehörige und Bekannte, aber trotz allen Entbehrungen und allem Leid findet auch Hildegard letztendlich ihr kleines, persönliches Glück.
Irma Joubert erzählt in diesem Buch vom Leben einer tapferen Frau, die unerschütterlich ihren Weg geht und es versteht, sich den Gegebenheiten anzupassen. Ihre Protagonistin macht im Verlauf des Buches eine enorme persönliche Wandlung durch und entwickelt sich zu einer charakterstarken und selbständigen Frau. Was diesen Roman auszeichnet, sind die exzellent recherchierten Schilderungen der historischen/politischen Ereignisse des Jahres 1905 bis hin zum Ende des zweiten Weltkrieges. Durch die Person der Protagonistin und etlicher, sehr gut ausgefeilter Nebenfiguren lässt die Autorin diese Zeitspanne für ihre Leserschaft lebendig erlebbar werden. Sowohl der Müßiggang und die Oberflächlichkeit des Adels, als auch die bittere Armut und die tristen Zustände der gesamten Bevölkerung in Kriegszeiten werden dermaßen lebhaft geschildert, dass man nicht umhin kann, ganz tief in diese Geschichte einzutauchen. So liest man von der Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre und der damit verbundenen Arbeitslosigkeit von Millionen Menschen, vom Kampf um die Machtübernahme zwischen den Nationalsozialisten und den Kommunisten in Deutschland, den immer stärker ausartenden Antisemitismus, dem Einmarsch der deutschen Truppen in Österreich und den Ausbruch des zweiten Weltkriegs, der Explosion des Zeppelins „Hindenburg“ und letztendlich den Überlebenskampf im ausgebombten Berlin, als die Invasion der Russen einmarschiert. Dieser Flut von Ereignissen wird auf beinahe fünfhundert Seiten Raum gegeben, wobei es der Autorin stets trefflich gelingt, sie kunstvoll mit der Geschichte ihrer Protagonistin zu verweben.
Den Schreibstil von Irma Joubert, der Emotionen, Spannung und christliche Werte mit dem Zeitgeschehen verwebt, kann ich nur als brillant bezeichnen. Leider hat die Autorin sich auch in diesem Buch dafür entschieden, ihre Geschichte im Präsens zu erzählen. Eine Schilderung von Ereignissen in der Gegenwartsform, die im Verlauf mehrerer Jahrzehnte stattgefunden haben, irritiert mich stets und behindert meinen Lesefluss erheblich. Bei dieser Neuerscheinung von Irma Joubert bin ich dennoch froh, mich trotz meiner Abneigung gegen den Erzählstil für die Lektüre dieses Buches entschieden zu haben. „Sehnsuchtsland“ war für mich ein gewaltiges Epos, ein Buch, das seine Leser fesselt und nachhaltig zu beeindrucken vermag. Mit diesem Roman ist Irma Joubert ein wahres Meisterwerk gelungen, das ich persönlich als eines meiner Lese-Highlights dieses Jahres bezeichne.