Die sechzehnjährige Elizabeth Fitch, von Gleichaltrigen stets als „Das Superhirn“ bezeichnet, lebt ein Leben in strengster Disziplin unter den Argusaugen ihrer emotionslosen, kalten Mutter. Dr. Susan L. Fitch stellt von Beginn an klar, dass Elizabeth das Produkt einer kalkulierten Selektion von Samenspendern darstellt und formt das Kind nach ihren Vorstellungen: die Kleidung wird von ihrer persönlichen Einkäuferin ausgewählt, das spartanische Essen vom Ernährungsberater und dem persönlichen Koch ihrer Mutter dargereicht, und im Unterricht wird ihr äußerstes Disziplin und harte Arbeit abverlangt. So ist es kein Wunder, dass die junge Elizabeth einige Klassen überspringt und im Alter von sechzehn Jahren bereits in Harvard studiert. Sie spricht mehrere Sprachen, spielt Klavier und Geige, hat Bildungsreisen nach Europa und Afrika unternommen und ist das Produkt eines gewissenhaft und ausführlich geplanten Programms ihrer Mutter. Und plötzlich ist sie es leid, das Experiment ihrer lieblosen Mutter zu sein, wo jede Minute des Tages organisiert, gelenkt und geplant ist, damit sie deren Erwartungen erfüllt. Elizabeth möchte eigene Entscheidungen treffen, ein eigenes Leben führen – und begehrt auf. Nach einem fürchterlichen Streit mit ihrer Mutter, nachdem diese ruhig und gelassen zu ihrem Bildungsvortrag fährt, bleibt das Mädchen alleine im Haus zurück. Und nach der ersten Rebellion geht sie konsequent die weiteren Schritte: sie verändert radikal ihr Aussehen, schneidet und färbt ihre Haare, sticht sich Löcher in die Ohrläppchen und begibt sich auf die Suche nach Kleidung, die sich von ihrer in erlesen-teurem Stil, strikt konservativ und in gedämpften Farben gehaltenen Garderobe völlig abheben soll. Zum ersten Mal in ihrem Leben geht Elizabeth einkaufen und in den Momenten der Reizüberflutung, als all die neuen Eindrücke sie zu überwältigen drohen, trifft sie auf eine ehemalige Schulkollegin, Julie Masters. Das fröhliche, lebenslustige Mädchen hilft ihr bei der Auswahl ihrer neuen Kleider und lädt sie ein, den Abend mit ihr zu verbringen. Der Eintritt in die angesagte Diskothek erfordert zwei gefälschte Ausweise – eine Aufgabe, die eine Leichtigkeit für die Computerspezialistin Elizabeth darstellt. Im Club treffen die beiden auf zwei junge Russen, die an ihnen interessiert zu sein scheinen … und nach einigen alkoholischen Getränken und den Umgarnungsversuchen von Alexi und Ilya willigen die beiden ein, die Männer in ihr Haus zu begleiten, die Party in privaterem Rahmen ablaufen zu lassen. Doch Ilya wird aufgehalten … und so fährt Alexi mit den beiden Teenagern alleine los. Im luxuriös eingerichteten Penthouse eskaliert die Situation und Elizabeth sieht sich plötzlich betrunken und alleine der russischen Mafia gegenüber, die soeben vor ihren Augen zwei Menschen exekutiert hatte. Elizabeth gelingt es, zu fliehen – und eine unbarmherzige Jagd nach der einzigen Zeugin beginnt…
Allein der Einstieg in die Geschichte ist höchst spannend und in außergewöhnlich lebhaftem Schreibstil erzählt. Das mitleiderregende Leben der mit einem überdurchschnittlichen Intelligenzquotienten und einem eidetischen Gedächtnis ausgestatteten Elizabeth zieht den Leser emotional sofort auf ihre Seite. Ihre Unschuld, ihre erwachende Freude an den Dingen, die für Millionen anderer junger Amerikaner selbstverständlich und alltäglich sind, ihr Glücksrausch über die neu gewonnenen Freiheiten und das ungewohnte Gefühl, eine Freundin zu haben, währen nur sehr kurz. Elizabeth musste aufgrund der Erziehungsmaßnahmen ihrer Mutter sehr rasch erwachsen werden, und darf jedoch auch nach ihrer Rebellion ihre versäumten Jugendjahre nicht nachholen. Sie wird zum meist gejagten Opfer in diesem grausamen Spiel: nicht nur die russische Mafia, sondern auch die von ihr gekauften FBI-Mittelsmänner versuchen mit rigoroser Gnadenlosigkeit, sie aufzuspüren und sie zu töten.
Elizabeth gelingt es dank ihrer Klugheit und ihrem angeeigneten Spezialwissen in der Computerkriminalität, unterzutauchen. Sie studiert unter falschem Namen, lebt unter ständig wechselnden Identitäten und lässt sich schließlich an einem einsamen Stück Land in Bickford, einer Kleinstadt in den Ozarks, nieder. Ihr Haus gleicht einer Festung, ihren Lebensunterhalt verdient sie mit der Konstruktion von ausgeklügelten Alarmanlagen und computergesteuerter Überwachung für ihre Kunden. Ein eigener Schießstand und eine Waffenkammer sorgen ebenso für ihre Sicherheit, wie auch „Bert“, ein riesiger, bestens ausgebildeter Kampfhund, der keine Sekunde von ihrer Seite weicht.
Und mitten in ihren von Vorsicht und Isolation bestimmten Alltag platzt der sympathische Polizeichef von Bickford, Brooks Gleason. Mit seiner unerschütterlichen Ruhe, seinem Humor und seiner liebenswürdigen Hartnäckigkeit gelingt es ihm schließlich, die Barrieren der unzugänglichen, sich mit einer geheimnisvollen Aura umgebenden Abigail Lowell, wie Elizabeth sich mittlerweile nennt, zu durchbrechen. Doch die dunklen Geheimnisse ihrer Vergangenheit lassen Abigail keine Ruhe und letztendlich rüstet sie sich mit Brooke an ihrer Seite zum letzten Kampf gegen die russische Mafia…
Dieses Buch hat mich von Beginn an so sehr in seinen Bann gezogen, dass ich es beim Lesen der immerhin beinahe 600 Seiten einfach nicht schaffte, es zwischendurch aus der Hand zu legen. „Die letzte Zeugin“ ist nicht nur ein Eintauchen in die Arbeit des FBI, das das Zeugenschutzprogramm und die Infiltrationen des russischen Geheimdienstes erzählt. Vielmehr handelt es sich hierbei auch um eine Geschichte voller Emotionen, die Nora Roberts geschickt in den Plot einbaut. Man erfährt viel über die beiden Protagonisten Abigail und Brooke, darf die sympathische Familie und die Freunde des jungen Polizeichefs kennenlernen und erwärmt sich immer mehr für die Einwohner dieser malerischen Kleinstadt. Der Spannungsbogen bleibt konstant hoch gehalten und die Furcht vor ihrer Entdeckung lässt die Protagonistin niemals ihre Vorsichtsmaßnahmen vergessen. Einzig die Tatsache, dass mir die Geschichte am Ende ein wenig zu rasch aufgelöst wurde und ich noch gerne einige Hintergründe über Abigails Mutter erfahren hätte, hindert mich daran, die Höchstnote bei der Bewertung dieses Buches zu vergeben. Auch die wenig erfolgreiche Arbeit der russischen Mafia und ihre langjährige scheinbare Erfolglosigkeit im Aufspüren von Elizabeth als einzige Überlebende erschien mir ein wenig unglaubwürdig. Ansonsten kann ich dieses Buch als hoch spannende, aber zugleich auch warmherzige und äußerst interessante Lektüre empfehlen!
Die gebundene Ausgabe dieses Buches weist ein romantisches, in warmen Farben gehaltenes Coverfoto auf, bei dem ein kleines Boot seinen Weg auf einem kleinen Fluss zu einem großen, einsamen Haus sucht. Die Gräser zu beiden Seiten des Wassers wirken durch das Sonnenlicht regelrecht vergoldet und der Gesamteindruck vermittelt das Bild einer vollkommenen Idylle. Das in dreißig Kapitel geteilte Buch ist in angenehmer Schriftgröße gehalten, das rote Lesebändchen konnte jedoch angesichts der Tatsache, dass ich das Buch anhand der großen Spannung auf einmal durchlesen musste, seinen Zweck diesmal nicht erfüllen.
Fazit: Obgleich mich die Frauen-/Liebesromane von Nora Roberts bislang nicht zu begeistern vermochten, genoss ich die Lektüre dieses Spannungsromans in vollen Zügen und hoffe auf weitere dieser Art.