Wolkengänger
WolkengängerAlan Philips schildert durch seinen Protagonisten „Wanja“, der nach seiner Adoption als John Lahutsky in Amerika lebt, in oftmals nüchternen Worten und mit schockierenden Details das Leben der russischen ...
Alan Philips schildert durch seinen Protagonisten „Wanja“, der nach seiner Adoption als John Lahutsky in Amerika lebt, in oftmals nüchternen Worten und mit schockierenden Details das Leben der russischen Waisenkinder, nachdem sie in staatliche Obhut übergeben wurden. Die Diagnose einer Behinderung, egal, ob sie nun körperlicher oder geistiger Art ist, war für viele Kinder des Babyhauses ein Todesurteil. Lebenslänglich eingesperrt, zum Teil bewegungsunfähig gemacht durch Fixieren an Stühlen, Einsperren in Gitterbetten, Isolation und Sedieren durch diverse Medikamente fristeten diese Kinder ein erbärmliches und menschenunwürdiges Dasein.
Aufgrund des Glossars gehe ich davon aus, dass diese Zustände bei weitem nicht behoben sind, sich vermutlich nicht einmal viel geändert haben. Die Biografie dieses tapferen Jungen mit dem unbändigen Lebenswillen macht nicht nur Mut für andere Betroffene, ich verstand es viel mehr als Mittel zum „Aufrütteln“, zum Aufzeigen grausamster Missstände und als Aufruf zu Helfen.
Der Autor bemüht sich um Sachlichkeit, durch die Nebenfiguren kommen jedoch auch Emotionen zur Sprache, die das Buch umso realisitischer machen. Die Gleichgültigkeit und oftmals Grausamkeit vieler Pfleger in den Einrichtungen stehen im krassen Gegensatz zur liebevollen Betreuung und zum Kampf gegen die starren Strukturen in Gestalt freiwilliger Helfer.
Im Anhang wird erwähnt, dass einige Nebenfiguren und deren Lebensumstände aus Gründen des Datenschutzes absichtlich nur oberflächlich gezeichnet waren. Trotzdem hatte ich stets das Gefühl, mehr über diese Personen wissen zu wollen, um vielleicht auch ein Verstehen für die Beweggründe Wanjas Mutter, der restlichen Familie, den anderen Pflegekindern und auch dem innerlich verhärteten Pflegepersonal aufbringen zu können.
Es handelt sich hierbei um eine gebundene Ausgabe mit eindrucksvollem Cover – ein magerer Junge, der scheinbar im „Nichts“ balanciert … schlicht, ohne großartige Effektheischerei – aber dafür umso eindrucksvoller. Die Angabe der Jahreszahlen bei den einzelnen Kapiteln ist sehr hilfreich für das Verständnis, lediglich von der dürftigen Anzahl der Bilder war ich enttäuscht. Im Anhang wird von einer großen Menge an Bildmaterial gesprochen – dies teilweise auch im Buch zu verwenden hätte den Eindruck des geschriebenen Wortes noch verstärken können. Wirklich schade!
Eine großartige Biografie, die dazu beiträgt, die Scheuklappen, mit denen wir oftmals durch den Alltag hetzen, während wir uns um unwichtige Nebensächlichkeiten kümmern, ein wenig zur Seite zu schieben. Ein Buch mit wahrhaft schockierendem Inhalt, oftmals zu Tränen rührend – aber so realistisch, dass es den Leser atemlos zurücklässt. Mein allergrößter Respekt gebührt diesem mutigen Waisenjungen Wanja, der in seiner hoffnungslosen Lage niemals aufgibt und es schafft, den Weg in ein menschenwürdiges, lebenswertes Leben zu gehen.
5 Sterne!
(Rezension zur Printausgabe)