Summer of '69
Unter der HautThose where the best days of my life - back in the summer of '69. Das singt Bryan Adams. Und so empfindet es auch der junge Jonathan, gerade erst den elterlichen Zwängen einer gut behüteten Kindheit entronnen. ...
Those where the best days of my life - back in the summer of '69. Das singt Bryan Adams. Und so empfindet es auch der junge Jonathan, gerade erst den elterlichen Zwängen einer gut behüteten Kindheit entronnen. Ausgerechnet nach New York hat es ihn verschlagen und dort will er nun endlich was vom Leben haben, es beim Schopf packen, die Geheimnisse ergründen. Und tatsächlich fällt ihm das Leben - darunter versteht der junge Mann vor allem das Ausleben seiner Sexualität, bislang eine für ihn selbst geheimnisvolle, nahezu unverständliche Größe - wie eine pralle Frucht direkt in den Schoß.
Seine Traumfrau - zurückblickend müsste man sagen, die erste von vielen - führt ihn zu einem Mann, der den Schlüssel der Erkenntnis zu besitzen scheint - zu Joseph Eisenstein, einem erfahrenen Mann und leidenschaftlichen Büchersammler um die fünfzig. Eisenstein nimmt ihm mit in die Stadt, zeigt ihm das Leben, das aus schwül-warmer Leidenschaft und Hingabe zu bestehen scheint. Aus vielen Frauen und vor allem jungen Mädchen, die Jonathan nun willig ins Netz gehen. Und aus Büchern - ledern gebundenen Prachtexemplaren. Sie sind es, denen Eisensteins Leidenschaft zu gelten scheint.
Parallel geschieht eine ganze Reihe von Morden, die mit dem Ende des Sommers '69 abrupt endet. Genauso wie die enge Beziehung Jonathans zu Joseph Eisenstein. Und Jonathan bleibt jahrelang ein Suchender - bis er in einem israelischen Kibbuz einer Frau begegnet. Mal wieder. Und die führt ihn zu... Nein, das müssen Sie jetzt selbst lesen. Ich kann Ihnen das nicht alles erzählen, das hat Autor Gunnar Kaiser so gekonnt getan, dass ich Sie nur auffordern kann, sich in dieses Leseerlebnis zu stürzen. Und ich kann Ihnen versprechen, dass sie Vieles erfahren werden, das sich sowohl nach als auch - und zudem in wesentlich größerem Maße - vor dem Sommer des Jahres 1969 abgespielt hat, lange davor. Dieser ist nämlich zwar der Ausgangspunkt, aber längst nicht der einzige Handlungszeitraum.
Das Wort "Leseerlebnis" wähle ich mit Bedacht: dies ist nämlich ein ganz besonderes, denn der Leser stellt mehr und mehr fest: die Haut ist "nur" das, was man sieht. Darunter bleibt Vieles verborgen - manches will man ergründen, manches lernt man zu fürchten und manches sollte lieber verborgen bleiben.
Ein Buch, das ich mir erarbeiten musste. Lange, lange habe ich daran gelesen, es zu durchdringen versucht, mich an der Nase herumführen lassen, mich wieder eingefangen, mich daran gerieben, meine Schrecken überwunden, mich von Leidenschaften packen lassen, von denen ich gar nicht wusste, dass sie in mir schlummern und... Sie sehen also, ein Buch, das es dem Leser möglicherweise nicht leicht macht, eines, das unter die Haut geht eben. Man sollte hier definitiv auf den Titel achten, der hält definitiv, was er verspricht. Wie auch immer man zu dem Buch stehen mag - ich bin überzeugt, dass sich niemand so ganz entziehen kann.
Ein verstörendes Leseerlebnis, das viel Brutalität beinhaltet, große Gefühle und große Entwicklungen beschreibt und mich ausgesprochen aufgewühlt zurück lässt. Ein Buch, das aufrüttelt, aufweckt, aber auch durchschüttelt - ja, ehrlich gesagt, fühle ich mich wie durch einen Fleischwolf gedreht - was nach dem Lesen von mir da ist, ist dasselbe wie vorher. Aber in einer anderen Zusammensetzung. Ein Buch, das sicher nicht jedem guttut, das auch nicht jeder Lesen sollte - aus demselben Grund, aus dem ich Heinrich Manns "Untertan" nach der Lektüre weit hinten im Regal verbannt habe, aus dem ich Hesses "Unterm Rad" bisher nie zu Ende lesen konnte: es sind Bücher die weh tun. Bücher, die einem etwas von sich selbst zeigen. Etwas, das man nicht unbedingt sehen will. Bücher, die durchdringen und vielleicht aus diesem Grund alle ein "unter" im Titel tragen. Deswegen würde ich auch niemals sagen, man "muss" dieses Buch lesen, denn es kann auch sehr negativ auf den Lesenden wirken, ja, diese Kraft hat es. Ich werde es sicher so schnell nicht wieder lesen, denn ich weiß jetzt, dass ich dafür Kraft brauche, sehr viel Kraft und die muss ich mir erst wieder aufbauen. Immer schön peu á peu.
Also: ein Buch für mutige Leser, die keine Angst vor sich selbst haben.