Meine Motivation:
Mein erster Roman von Frank Schätzing. Technikaffin, aber ohne technische Ausbildung, habe ich in den letzten Monaten viele Science-Fiction-, Nahe-Zukunft-, Zeitreise- und Cyber-Thriller gelesen, in denen auch Ideen zu Künstlichen Intelligenzen umgesetzt wurden. Obendrein werden solche Romane oft an denen von Schätzing gemessen. Da war es naheliegend, mir mit diesem neuen Werk eigene Eindrücke zu verschaffen.
Wirkung der Erzählweise:
Das Umfeld wird intensiv beschrieben. Der dramatische Präsenz findet hier seine Legitimation, macht die Atmosphäre greifbar. Eine von Natur geprägte Szenerie prallt auf futuristische Elemente. Auch Handlungen, Mimik und Gestik werden mit Gleichnissen unterstrichen. Sprachlich ansprechend, eingängig, das Kopfkino anfachend, aber im Detailreichtum (Verwitterungsgrad von Fassaden, Astform der Bäume, etc.) überzogen. Hätte man diesen textlichen Raum anders genutzt, hätten Figuren tiefgründiger und die Handlung komplexer und wendungsreicher sein können.
Ein interessantes Stilelement: Schlüsselszenen, die nicht in der dritten Person wiedergegeben sind.
Wirkung der Figuren:
Bevor man auf die Idee kommt, Klischees vorzuwerfen und z. B. als rückständige Dorftrottel abzustempeln, werden Innenansichten eingestreut, die ich als authentisch und tiefsinnig empfinde. Überwiegend liebenswürdig. Die Figuren sind Produkte ihrer Umwelt, mit Vergangenheit, Motivationen, beruflichen wie privaten Problemen. Die Dialoge dienen nicht nur der Informationsweitergabe, gehen auf die Beziehungsebene ein, sind unterhaltsam, versprühen typisch amerikanische Coolness oder bissigen Humor. Ich konnte mir die Figuren, prägende Merkmale und Beziehungen gut merken und auftretende Divergenzen wahrnehmen. Schade, dass die Biografie, wenn es turbulenter wird, keine große Bedeutung mehr zu haben scheint. Für Gefühlslagen ist wenig Platz. Ein intelligenteres, durchdachtes Vorgehen hätte in einigen Fällen der jeweiligen Persönlichkeit und Weltanschauung besser Rechnung getragen. So richtig um das Schicksal jeder einzelnen Figur bangen konnte ich nicht, habe aber den Verlauf immerhin mit großem Interesse verfolgt. Die naive, herzensgute Kimmy brachte mich viel zum Lachen.
Wirkung der Handlung:
Die erste Hälfte widmet sich viel Figuren und Umfeld. Es dauert, bis es spannend wird und Elemente, die in Hightech- und Biotechnologie-Thrillern eine Rolle spielen, so richtig zum Tragen kommen. Interessante Ideen, gut recherchiert und davon gleich mehrere in eine Geschichte eingebaut. Ich habe zusätzliche Denkanstöße mitgenommen, ohne dass ein monumentaler Wow-Effekt dabei gewesen wäre. Aber erschreckend war es doch. Wie viel Realismus dahintersteckt, was von diesen Sci-Fi-Elementen in den nächsten 30 bis 40 Jahren umsetzbar ist, mögen andere beurteilen.
Hauptfigur Luther mimt gnädigerweise den Deppen und lässt sich Erklärungen zu Raum, Zeit und allerlei Technischem geben, man muss als Leser also kein Profi sein, um mitzukommen.
Schätzing geht in den philosophischen Diskurs. Im Zusammenhang mit Künstlicher Intelligenz lässt er z. B. diskutieren „Wie sollen sie ein intelligentes System kontrollieren, von dem sie sich nichts weniger als eine Revolution erhoffen?“ Gefallen haben mir erstaunliche Einblicke in eine mögliche Zukunft, inklusive Nachrichtenfetzen mit Bezügen zur tagesaktuellen Politik und Wirtschaft und realen Persönlichkeiten.
Die Aufarbeitung spektakulärer Erkenntnisse und Konfliktlösung gerät im negativen Sinne typisch amerikanisch. Moral und Cleverness bleiben leider auf der Strecke.
Manchmal wurde ich überrascht, manchmal haben sich Vorahnungen bestätigt.
Das Ende gerät sehr knapp und lässt Raum für die eigene Vorstellungskraft.
Adressatenkreis: Da ich Bildgewalt mag, gern verschiedene Schreibstile ausprobiere und mit „Was wäre, wenn ...“-Szenarien meinen Horizont erweitere und anscheinend den passenden Intellekt habe (mit geringen Vorerfahrungen im Genre, noch zu beeindrucken), war es unterhaltsam und interessant, reicht für 4 Sterne. Eine pauschale Empfehlung würde ich aber nicht aussprechen. Profis vermissen möglicherweise Aha-Effekte und wissenschaftliche Substanz. Wer es temporeich mag oder tiefgründige Charaktere zum Mitfiebern braucht, wird von ausschweifenden Beschreibungen genervt sein.