Miquel Gensana, aus dessen Sicht weite Teile des Romans erzählt werden, sitzt im Restaurant mit seiner jüngeren Kollegin Júlia. Dieses war einst der Familiensitz, das Haus, in dem er aufwuchs, doch das möchte er nicht einmal zugeben. Júlia fragt Miquel nach Bolós, Josep Maria, seinem Freund seit Schulzeiten, der gerade beerdigt wurde. Und Miquel beginnt zu reden, geradezu Rechenschaft abzulegen. Er erzählt von seinem Leben, auch von den gemeinsam mit Bolós erlebten Zeiten und von der Geschichte seiner Familie.
Zwar fällt der Beginn des Lebens von Miquel in das Ende der Franco-Zeit, diese wird jedoch eher nebenbei gestreift, es geht vielmehr um die Geschichte der Familie, um die von Miquel und jene seines Onkels. Voller schöner sprachlicher Wendungen, aber auch sehr anspruchsvoll konstruiert, stark durchsetzt mit Intertextualität, auch mit Referenzen zur Musik, das beschreibt den Stil des Romans. Beginnend mit vielen Andeutungen, von denen im Laufe der Erzählungen (fast) alle aufgelöst werden – die Handlung an sich wäre eher sehr durchschnittlich, wenn sie nicht in dieser Sprache dargebracht wäre. Doch langsam.
Da wären die häufigen zeitlichen Wechsel im Roman, die diesen oft nicht leicht lesbar machen, dazu der Wechsel zwischen Erzähler in der ersten und in der dritten Person oft in einem Satz – Miquel auf Distanz gehend zu sich selbst oder der Bruch zwischen dem „inneren“ Miquel und der von außen wahrgenommenen Person? Es wird nicht aufgelöst, muss es auch nicht, ich gewöhnte mich daran. Dann gibt es die teils langen Sätze, gelegentlich mit einem Hauch von „stream of consciousness“: "Das war echte Angst; und ich stellte mir die Frage (die ich mir auch einige Jahre später stellen sollte, als ich hoch oben an der Fassade von Can Gensana in der Kletterrose hing), was, zum Teufel, hast du hier zu suchen, Miquel, du Schwachkopf, du Idiot, zielst mit deiner Kalaschnikow wie mit einem Zahnstocher auf eine Skyhawk, einen Koloss, der hinter den Bergen aufgetaucht ist und auf dich zuhält, verfluchter Narr, und du rennst in heller Panik auf die zweifelhafte Deckung zu, die dir ein nackter Felsen bieten wird, während du überlegst, mit welchen Handzeichen du dem Piloten plausibel machen könntest, dass du mit diesem Krieg nichts zu schaffen hast, verdammt noch mal, sondern nur einen kleinen Kursus absolviert und gleich wieder weg bist." S. 134
Dazwischen dann immer wieder Schönes, Treffendes: S. 496 „Die Deinen zu begraben ist ein Zeichen dafür, dass du nicht länger jung bist...“ oder auch Profaneres aus dem Leben: S. 529 „Mittelklassehotels haben eine erstaunliche Gemeinsamkeit mit Bauernhäusern. Die diversen Wandlampen sind einzig dazu gedacht, dass man überhaupt sieht. Will man sich etwas anschauen, fangen die Schwierigkeiten schon an.“ Dazu kommen viele lateinische Zitate, noch mehr französische, etliche Passagen „im Stil von“, Literatur, Filmen und Büchern der Populärkultur; das Buch ist gegliedert wie ein Musikstück, es gibt Noten im Buch, um die Musik zu erklären, weite Passagen denn auch zur Musik, zur Literatur, zur Sprachwissenschaft,...jaaaa, der Autor weiß da schon einiges. Schön. Mich hat das lange sehr amüsiert, ich erkannte amerikanische Detektive wieder, erinnerte mich an sprachwissenschaftliche Vorlesungen, kratzte mein Latein zusammen: doch halt, BRAUCHT man das? Ich unterstelle Autoren von Büchern mit vielen Verweisen zwar, dass sie wissen, wovon sie schreiben – aber halt auch, dass sie es gerne sehen, wenn das auch alle anderen unbedingt wissen.
Dann die vielen Andeutungen – hat jemand noch so Verwandte oder Bekannte, die zu Besuch kommen, durch Wohnung oder Garten schreiten und dann so einen bedeutungsschwangeren Blick aufsetzen, am besten den Zeigefinger erheben und sagen: „Weißt du...was du tun musst, damit deine Rosen richtig wachsen, um den Kuchen richtig toll zu machen, um...“. Ich habe irgendwann gelesen, jede Kritik beruhe auf der Kernaussage „du bist nicht ich“. So in etwa schreitet der Roman voran: große Ankündigung „das große Geheimnis von Pilar“, dann viel viel Text, Zeitwechsel, Aufklärung – und man will es gar nicht mehr wissen, ahnte es schon. Mehrfach. Besserwisser.
Der Originaltitel bedeutet übrigens „Der Schatten des Eunuchen“ - Miquel zitiert auf S 464 Steiner: "Wenn der Kritiker sich umsieht, erblickt er den Schatten eines Eunuchen." ah, sein eigener Schatten, weil er quasi nicht zeugungsfähig ist, selbst keine Kunst schaffen kann, von außen zusieht. Das ist durchaus wichtig, denn lange Seiten nennt Miquel sich den Unfruchtbaren, den Sterilen, und meint dann doch nur dieses. Er, der Liebhaber der Künste, kann selbst nicht künstlerisch tätig sein, nur als Kritiker arbeiten. Irgendwie sah ich da Parallelen zu seinem generellen Ansatz zu leben. Beobachten, analysieren, passiv sein.
Überhaupt, Parallelen: ich empfinde eine gewisse Parallelität zwischen den Erlebnissen bei Maurici und Miquel, dadurch treten für mich Unterschiede und Gemeinsamkeiten besser hervor. Also Miquels Leben im Untergrund - Mauricis heimliche Liebe. Beide im Bruch mit der Familie. Beide anscheinend Rückkehrer - wenn auch nicht so ganz und nicht ganz mit dem Herzen, beide positiver eingestellt zu den Frauen der Familie (die sind bislang eher Nebenrollen). Beide hinsichtlich intellektueller Neigungen vielfältig bis unentschlossen, beide gehen nicht in die Fabrik, wollen eher keine praktische oder kaufmännische Arbeit. Beide werden von ihren Wahlfamilien in lebensverlängernde Situationen gebracht ( bzw in solche, die die gesamte Einstellung verändern). Das ist ganz schön, aber auch ganz schön viel, selbst für etwas über 500 Seiten.
Fazit: ein sehr bewusst literarischer und anspruchsvoll zu lesender Roman, dessen eigentliche Grundhandlung meist wenig Neues bietet. Mir etwas „zu viel“ des Guten, tut mir leid. Der Abschnitt „Der Zweite Satz“ hätte allein 5 Sterne bekommen. So lande ich mühselig auf 3 ½ Sternen, runde aber im Vergleich zu einigen der anderen Rezensionen an anderer Stelle für 3 Sterne (die mich aufgeregt haben) auf auf 4 Sterne.
Mögliches Folgebuch: Delphine de Vigan: Nach einer wahren Geschichte (auch sehr hohe Intertextualität, die mich dort aber deutlich stärker nervte; aber sehr viele lieben dieses Buch)