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Veröffentlicht am 10.10.2016

Ein guter, authentischer, eigenartiger Familienroman.

Die langen Tage von Castellamare
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Der Klappentext gibt die Ausgangssituation treffend wieder: „Castellamare, eine winzige Insel fünf Meilen vor der Küste Siziliens. Die Dorfgemeinschaft fühlt sich wohl, so am Rande der Welt. Als der Arzt ...

Der Klappentext gibt die Ausgangssituation treffend wieder: „Castellamare, eine winzige Insel fünf Meilen vor der Küste Siziliens. Die Dorfgemeinschaft fühlt sich wohl, so am Rande der Welt. Als der Arzt Amedeo Esposito aus Florenz auf die Insel kommt, wird er misstrauisch beäugt. Er jedoch liebt seine neue Heimat und beginnt, ihre alten Legenden zu sammeln und aufzuschreiben. Eines Nachts hilft er bei zwei Geburten, das Kind seiner Frau und das Kind seiner Geliebten kommen auf die Welt. Dieser Skandal kostet ihn die Stelle. Um bleiben zu können, übernimmt er zusammen mit seiner Frau die einzige Bar auf der Insel, »Das Haus am Rande der Nacht«. Eine Entscheidung mit weitreichenden Folgen, denn die Bar soll ein Ort der Wunder sein. Sie wird der Mittelpunkt der Familie und der Insel – über mehrere Generationen hinweg, durch alle Kriege und Krisen hindurch, allen Veränderungen zum Trotz.“
Auf 480 Seiten wird eine Familiengeschichte über 90 Jahre hinweg erzählt. Sie fängt kurz vor dem ersten Weltkrieg an und endet 2008 in der Finanzkrise mit einer netten Überraschung.
Trotz anfänglichen Schwierigkeiten gründet junger Arzt Amedeo aus Florenz eine Familie auf der Insel, bekommt Söhne und eine Tochter, die später mit viel Enthusiasmus und Hingabe die Aufgabe ihrer Eltern weiterführt und Dreh- und Angelpunkt der Insel bleibt.
Sehr atmosphärisch und mit viel Liebe zum Detail ist das Leben der Familie Esposito und kleinen Inselgemeinschaft erzählt worden: all ihre Lebens- und Liebesgeschichten, Bräuche, Denk- und Lebensweise, Essensangewohnheiten, all die Sagen und Geschichten rund um die Insel und ihre Bewohner und ihre Schutzpatronin St. Agatha, die sich hin und wieder zu großen und kleinen Wundern hinreißen lässt. Man entflieht in eine ganz andere, faszinierende Welt und kann alles um sich vergessen.
Die Handlung des Romans ist wunderbar in die Zeitgeschichte eingeflochten worden. Auch der Zweite Weltkrieg und später die Finanzkrise 2008 hinterlassen ihre Spuren auf der Insel. Familie Esposito ist davon keineswegs verschont geblieben. Dabei gibt es durchaus positive und weniger positive Erlebnisse. Aber mit etwas Chuzpe und gesundem Gottvertrauen findet alles seine Ordnung.
Alle Figuren kamen mir authentisch und überlebensgroß vor. Da gab es keine Zweifel, dass alles so wie es im Buch steht, stattgefunden hat. Es war wie ein Film, der gleich am Anfang vorm inneren Auge startete und einen bis zum Schluss nicht losließ. Die Frage „und wie ging es da weiter?“ ließ die Pausen, insb. in der zweiten Hälfte, immer kürzer werden. Dabei ging es vielfach um Lebensgeschichten, Kinderkriegen, Kindererziehen, Familienleben, über die Heimat und ihre Anziehungskraft, auch die Anziehungskraft der Gemeinschaft, in der man aufgewachsen ist, aber auch um Machtverhältnisse auf der kleinen Insel, um ihre Wandlung und Traditionen, um den Unsinn des Krieges, um das liebe Geld, und um die Liebe, die doch alles besiegt und überdauert.
Ein kleiner Wermutstropfen: Die Art der Stoffdarbietung, die hier und dort hätte etwas gekonnter, elaborierter ausfallen können. Die daraus folgenden Längen, die die Spannung verflachten und öfter mal Pausen einlegen ließen, sind durchaus vermeinbar. Etwas Geduld war insb. in der ersten Hälfte angesagt. Auch hatte ich anfangs den Eindruck, dass man doch mehr über Amadeo und seine Herkunft erfahren würde. Die Geschichte ist aber nach vorne erzählt worden, was an sich ganz gut ist, aber die Hoffnungen, die dann nicht erfüllt wurden, hätte man nicht wecken müssen.

Fazit: „Die langen Tage von Castellamare“ ist ein gut gelungener, authentischer, eigenartiger im Sinne unverbrauchter Familienroman, den man nicht jeden Tag serviert bekommt. Es ist ein Wohlfühlbuch, das man/frau gerne in langen, kalten Abenden bei guter Tasse Tee vor dem Kamin vergnüglich durchschmökern kann. Ich habe es gerne gelesen und kann es gut eiterempfehlen, insb. an die Leserinnen, die gerne Frauenromane und Familiengeschichten mögen.




Veröffentlicht am 15.09.2016

Ein geistreicher, lesenswerter Roman über die eigene Identität, ihre Fragilität, uvm.

Nach einer wahren Geschichte
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Im Wesentlichen ist es ein Stück, das von zwei Profi-Schreiberinnen Anfang-Mitte vierzig handelt, die sich ausgiebig zum Thema Schreiben und Literatur austauschen. Aber auch andere Kernthemen wie Freundschaft, ...

Im Wesentlichen ist es ein Stück, das von zwei Profi-Schreiberinnen Anfang-Mitte vierzig handelt, die sich ausgiebig zum Thema Schreiben und Literatur austauschen. Aber auch andere Kernthemen wie Freundschaft, Liebe, Familie, das Leben insg. werden recht tiefgründig wie geistreich ausdiskutiert.
Die eine, Delphine, hat es zum nennenswerten Erfolg geschafft und die andere, L. genannt, betätigt sich nach eigenen Angaben als Ghostwriterin. Die Kernfrage, zu der die Diskussionen immer wieder zurückkehren, ist, was die Leser wirklich wollen. Die Ghostwriterin vertritt vehement die Meinung, die Leser wollen das wahre Leben, Realismus, übersetzt in Literatur. Delphine sieht es anders: Fiktion ist der Weg zum Erfolg. Bloß der lässt sich nicht mehr für Delphine einstellen. Sie befindet sich in einer Schaffenskrise und schlittert immer weiter hinein, je mehr Zeit sie mit L. verbringt. Delphine ahnt nicht, was L. eigentlich vorhat und lässt sich von Ausführungen ihrer neuen Freundin mitreißen. L. spielt eine fürsorgliche Freundin, ist immer für Delphine da, hat stets ein offenes Ohr für ihre Sorgen und Probleme. Als es schon zu spät ist und Delphine diese Freundschaft fast mit dem Leben bezahlt, fallen ihr Schuppen von Augen.
Die Frage der eigenen Identität ist in dieser Geschichte aktiv, anhand des eigenen Beispiels, „einer wahren Geschichte“, wie der Titel besagt, angegangen worden. Als erfolgreiche Schriftstellerin sieht sich Delphine gezwungen, sich immer neu erfinden zu müssen. In die Richtung, in die L. sie drängt, will sie aber nicht gehen, etwas Eigenes will ihr auch nicht recht gelingen, nicht zuletzt, weil L. sich dazwischen stellt und dafür sorgt, dass Delphine immer weiter in die krankhafte Schreibblockade abgleitet.
Auch das Thema der Einsamkeit in der modernen Großstadtgesellschaft schwingt aktiv mit. Paris ist voll von Menschen, Delphine ist aber einsam wie in der Wüste. Selbst ihrem Freund kann sich Delphine nicht anvertrauen und landet immer mehr in der Isolation.
Die Art der Stoffdarbietung ist etwas gewöhnungsbedürftig. Es ist, als ob die Autorin den Verlauf ihrer Krankheit vor Augen der Leser Schritt für Schritt freilegt. Sie blickt auf die Geschehnisse zurück und versucht dabei zu erklären, wie es dazu kommen konnte. Sie zeigt, wie arglos und einsam sie war, nennt aber auch die Punkte, die sie aufhorchen ließen, sie dazu brachten, Verdacht zu schöpfen. Diese vorausschauenden, auf den bekannten Ausgang der Geschichte gerichteten Kommentare nahmen leider Spannung weg, von der die Geschichte auch sonst nicht gerade strotzt.
Delphine war mir leider zu naiv. Ich konnte einfach nicht glauben, dass sich eine Frau mit Lebenserfahrung, eine gefeierte Schriftstellerin und sonst nicht auf den Kopf gefallen, so benehmen, bzw. hinters Licht führen lassen kann. Und je näher sich die Geschichte dem Schluss neigte, desto konstruierter und unglaubwürdiger kam sie mir vor: Drama auf Teufel komm raus. Ohne diese Naivität wäre diese Geschichte gar nicht möglich.
Auf der anderen Waageschale gibt es Vorzüge wie Fragestellungen zu akuten Themen des heutigen Lebens, leise Kritik der modernen Gesellschaft und eine Menge von geistreichen Sätzen. „.. ein Buch ist nichts anderes als eine Art radioaktiver, langsam zerfallender Stoff, der noch lange weiterstrahlt. Und letzten Endes werden wir immer als das betrachtet, was wir sind, menschliche Bomben mit erschreckender Zerstörungskraft, denn niemand weiß, wie wir das Material nutzen.“S. 90. „Was glaubst du, woraus Schriftsteller bestehen? … Ihr seid das Ergebnis von Scham, Schmerz, Geheimnis und Zusammenbruch. Ihr kommt aus namenlosen dunklen Gegenden oder habt sie zumindest durchquert. Überlebende, das seid ihr, jeder Einzelne und jeder auf seine Weise. Das gibt euch nicht alle Rechte. Aber glaub mir, es gibt euch das Recht zu schreiben, auch wenn es einen Aufruhr gibt.“ S. 151. „Ich bin dir nicht begegnet, ich habe dich erkannt.“ S. 278.
Es ist schon psychologisch fein, mir fehlte dennoch ein Quäntchen Raffinesse.
Die Länge der Kapitel ist sehr gut, passend ausgewählt. Es ist die Art von Stoff, der durchaus genug Zwischenraum braucht. Manchmal, nach drei-vier Seiten, ein Kapitelende zu sehen war schon eine Wohltat.
Fazit: Ein geistreicher, lesenswerter Roman, der gut unterhält und zum Nachdenken über die eigene Identität, ihre Fragilität, uvm. anregt. Interessant vor allem für Schreiberlinge und diejenigen, die es werden wollen, aber auch für passionierte LeserInnen, denn Delphine erzählt aus dem Nähkästchen, wie sich eine erfolgreiche Schriftstellerin nach einem Erfolg fühlt und wie ihre Arbeit und damit verbundenen Schwierigkeiten aussehen.

Veröffentlicht am 15.09.2016

Ein sehr gut gelungener, lesenswerter Roman.

Bühlerhöhe
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Der Klappentext umreißt die Ausgangssituation recht griffig. Rosa, die Hauptprotagonistin, ist keine professionelle Agentin und ist nicht ganz überzeugt davon, was sie auf der Bühlerhöhe tun soll. Dem ...

Der Klappentext umreißt die Ausgangssituation recht griffig. Rosa, die Hauptprotagonistin, ist keine professionelle Agentin und ist nicht ganz überzeugt davon, was sie auf der Bühlerhöhe tun soll. Dem Geheimdienst ist zu Ohren gekommen, dass ein Anschlag auf Adenauer während seiner Ferien auf Bühlerhöhe im Schwarzwald geplant ist. Adenauer steckt in Verhandlungen über die finanzielle Wiedergutmachung für Verbrechen an Juden während der Nazi-Zeit. Das Geld braucht Palästina, so die offizielle Meinung. Es gibt aber auch andere Interessengruppen, die keineswegs das Geld von Deutschland akzeptieren wollen. Ein gelungenes Attentat würde die Verhandlungen zumindest anhalten oder gar stoppen.
Rosa war als Kind öfter mal in diesem noblen Hotel: Ihre ganze Familie verbrachte dort Sommerferien. Rosa kennt sich auf der Bühlerhöhe und mit den Gepflogenheiten der gehobenen Klasse gut aus, so die Argumentation von Mossad-Werber. Rosa sagt ja. Trotzdem, dass sie auch ihren kleinen Sohn allein in Palästina zurücklassen muss. So ist Rosa: eine Idealistin, die Interessen ihrer Gemeinschaft über alles stellt.
Auf der Bühlerhöhe trifft Rosa die Hausdame Sophie Reisacher, die sie gleich ins Visier nimmt und ihr stets nachspioniert. Beide Frauen haben etwas gemeinsam: Mitte dreißig, sehr attraktiv, auch was die Vergangenheit angeht, gibt es Übereinstimmungen. Ein Ziel vor Augen in der Gegenwart haben sie ebenso, aber auch einen grundlegenden Unterschied: Rosa dient selbstlos ihrer Gemeinschaft samt deren Ideen, Sophie kämpft nur für sich. Für Sophie Reisacher gibt es nur ihre eigenen Interessen. Sie will hoch hinaus: einen weltgewandten Mann heiraten, der ihr die Welt zu Füßen legt. Was aus den Vorhaben beider Frauen wird, ist eine interessante Aussage des Romans.
Es gibt noch eine Frau, aus deren Sicht die Geschichte erzählt wird. Agnes ist ein etwa zwanzigjähriges Bauernmädchen, das in dem benachbarten Gasthof Hundseck am Empfang arbeitet. Trotz des jungen Alters hat sie das Leben schon gezeichnet. Zum Ende des Krieges hat auch sie und ihre ältere Schwester das Schicksal vieler Frauen geteilt. Als die Truppen abzogen und hinter sich eine Wüste aus Trümmern und Leid hinterließen, wurden sie auch nicht verschont. Agnes Passagen sind in ihrem Dialekt verfasst, prima passend zu ihr. So wird wieder ein Kontrast deutlich, Hochdeutsch reden nur die beiden anderen Frauen.
Das Spiel mit Kontrasten wird auch bei anderen Figuren und ihren Beziehungen zueinander fortgesetzt. Rosa und ihre Schwester Rachel bilden ein weiteres Paar, das sich durch ihre Gegensätze anzieht. Rachel teilt Rosas kommunistischen Idealismus nicht. Sie ist Künstlerin, Freigeist, lebt mit einem zehn Jahre jüngeren Araber zusammen, was ein Eklat in jeder Hinsicht darstellt, und kümmert sich nur um ihr eigenes Leben. Rachel und ihre Sicht der Dinge stellen eine Bereicherung für den Roman dar. Die beiden Schwestern liefern sich hitzige Diskussionen über Frauenschicksale, Würde und Gelobtes Land.
Auch Agnes und ihre ältere Schwester Walburga sind so ein Paar, das wiederum mit Rosa und Rachel kontrastiert. Walburga lebt im Wald und würde sich nie verheizen im Hotel lassen. „Dem Hund traute sie mehr als allen Menschen zusammen, und der Wald war ihr lieber als jedes Dach über dem Kopf.“ S. 72.
Der Roman ist schon wegen all den Figuren und ihren Lebensgeschichten sehr lesenswert. Mithilfe von Sophies Figur wird von den Schicksalen der Menschen aus Elsass erzählt, u.a. von Sophies Oma: „Ihre Großmutter Odile, Jahrgang 1869, hatte in ihrem Leben viermal die Nationalität gewechselt, ohne Straßburg je zu verlassen. 1870 deutsch, 1918 französisch, 1940 wieder deutsch, 1945 wieder französisch.“ S. 316. Auch Sophie ist dementsprechend eine zerrissene Persönlichkeit und weiß nicht so recht, wo sie hingehört. Genau darauf zielt eine Weisheit aus dem Talmud zum Schluss.
Die Spannung kommt auf als Rosa, in Schwarzwald angekommen, mit einer unerwarteten Überraschung konfrontiert wird: Ari, der Profi-Agent, dessen Gattin sie spielen soll, kommt erst mal nicht, und Rosa muss sich im Alleingang in der Männerwelt mit all ihren Machtspielen und Seilschaften behaupten. Ganz zu Anfang ist ihre Unsicherheit und ihre Sicht der Dinge aufgrund der doppelten Identität ist sehr gelungen. Da ist man quasi Rosa, steckt in ihrer Situation, überlegt mit ihr zusammen, was nun zu tun wäre.
Als Kontrast zu Männerwelt gibt es auch Frauenwelt in dieser Geschichte. Die alten Verbindungen werden wieder belebt, Informationsaustausch hergestellt. So wird es möglich, Männer und ihre Pläne zu durchschauen und die notwendigen Schritte in letzter Minute einzuleiten.
Bis zur Hälfte hielt sich die Spannung aufrecht. Aber dann löste sie sich wohlgefällig bei Ankunft Aris auf. Auch den Strang um Identität des Mörders vom Araber und seine Motive hätte ich eleganter dargeboten gewünscht. Auch, was es mit Ari auf sich hatte, ließ sich früh durchblicken.
Der Schreibstil ist angenehm: schlicht und ergreifend, der es mit Leichtigkeit schafft, das Kopfkino zu starten. Die Erzählweise wechselt sich von Perspektive zu Perspektive, was die Geschichte reichhaltiger und authentischer macht. Die drei Erzählperspektiven wurden gekonnt und zielführend eingesetzt. Rosas Sicht legt dem Leser u.a. nahe, wie eine Jüdin denkt, deren Mutter und Bruder im KZ umgekommen waren: Sie kann nicht fassen, dass nun so getan wird, als ob kein Unrecht geschehen war. Auch andere Perspektiven offenbaren spannende Sicht der Dinge, und so steht ein facettenreiches Bild vom großen Ganzen da.
Gleichmäßig verteilt, gibt es wohl dosierten Überlegungen zur Kunst des Lebens, z.B. Sophies Überlegungen, was eine Ehe ist, wie man das Leben am besten meistert. Rosa liest in einer Zeitschrift, welche Art von Frauen Männer zu ehelichen pflegen. Zum Schluss gibt es bei der Beerdigung weise Worte aus dem Talmud, die dem Roman einen würdigen Schluss setzen.

Fazit: Ein gut gelungener, lesenswerter Roman, der sich mit Fragen der nationalen und persönlichen Identität, Schicksalen der Menschen nach dem Weltkrieg uvm. befasst und zum Nachdenken anregt. Mal kommt er wie ein Politthriller, mal wie ein Krimi, mal wie ein Frauenroman daher. Ein gelungener Mix. Die Atmosphäre des Schwarzwaldes ist auch prima erfasst worden.
Bühlerhöhe von Brigitte Glaser habe ich gerne gelesen. Der Roman hat mir einige erfüllte Lesestunden bereitet. Eine klare Leseempfehlung und vier besonders hell leuchtende Sterne.

Veröffentlicht am 15.09.2016

Geschichte einer Frau, die unbeirrt ihren Weg gehen wollte.

Die Frau, die allen davonrannte
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Aganetha Smarts Lebensgeschichte kann damals wie heute als nicht konventionell gelten.
Es ist Geschichte einer jungen Frau aus einfachen Verhältnissen, die kaum Selbstinszenierung und Eitelkeit von Kindesbeinen ...

Aganetha Smarts Lebensgeschichte kann damals wie heute als nicht konventionell gelten.
Es ist Geschichte einer jungen Frau aus einfachen Verhältnissen, die kaum Selbstinszenierung und Eitelkeit von Kindesbeinen an in ihrer Bauernfamilie gelernt hat, was für ein dauerhaft erfolgreiches Leben in der Öffentlichkeit als It-girl nach ihrem ersten großen Erfolg nötig gewesen wäre.

Die Handlung ist auf zwei Ebenen angesiedelt. Den größten Teil des Romans, schätzungsweise 4/5, nimmt die Geschichte von der jungen Aganetha Smart und ihrer Familie in der Vergangenheit. Im Grunde besteht der Roman aus Rückblenden, die hin und wieder durch Szenen in der Gegenwart durchwirkt sind, und erklären, wie es zu der Situation gekommen ist, die man im Heute präsentiert bekommt.
Man trifft die 104-jährige Miss Smart im Pflegeheim. Sie wirkt sympathisch: humorig, leicht bissig, eine geübte Beobachterin, die das Handeln der Menschen aufgrund ihrer Lebenserfahrung gut einschätzen kann und ihre Meinung dem Leser unvermittelt liefert. Ihre philosophischen Ausführungen zum Thema Lüge beispielsweise sind schon recht spannend und zeugen von ihrem klaren Verstand und ihrer profunden Menschenkenntnis.

Eines Tages wird sie von zwei jungen Menschen abgeholt, die einen Film über sie drehen wollen. Lange versteht man nicht so recht, warum sie das tun wollen, denn der Grund, der anfangs genannt wird, kommt einem recht fadenscheinig vor. Aganethas großer Erfolg liegt bereits über 80 Jahre zurück. Erst zum Schlusss eröffnet sich das "große Geheimnis".

Die Rückblenden sind sehr schön und bildhaft geschrieben. Man fühlt sich in die damalige Zeit versetzt, Aggie war 1908 geboren, und hat keine Probleme die Welt mit den Augen der anfangs 9-Jährigen Aggie zu sehen. Der Besuch der Gräber am Friedhof zusammen mit der 22-jährigen Halbschwester wirkt schon fast poetisch und erzählt eine traurige Familiengeschichte. Vor dem Text gibt es übrigens einen Genealogiebaum der Familie Smart, der sich als sehr hilfreich bei den Ausführungen der Familienverhältnisse erweist.

Der Erzählstrang in der Gegenwart ist in Ich-Form verfasst. Das passt sehr gut, schafft so eine Nähe zu der 104-Jährigen Miss Smart, dass man ihr alles abnehmen kann. Auch dass ihre Erinnerungen rein assoziativ und ganz plötzlich einsetzen, nicht immer chronologisch, und erzählen die eine oder andere Episode aus ihrem Leben als junge und später 40-Jährige Frau. Man begleitet Aggie bei ihrem Lauftraining, beim neuen Leben in der Stadt und bei ihrem großen Erfolg.
Es wird einem auch glasklar, was es heißt, so alt zu werden, welche psychische Belastung es ist, alle verloren zu haben, die man je geliebt hat, und welche physische Belastung man sich selbst und den Pflegern ist, i.e. man ist ständig auf fremde Hilfe angewiesen, selbst beim Teetrinken, denn der Körper macht nicht mehr viel mit. Rollstuhl ist die gängige Möglichkeit der Fortbewegung, am besten wenn jemand diesen rollt.

Das Laufen als Prozess, als Form des Daseins samt all den Empfindungen dabei, ist sehr plastisch beschrieben. Da gibt es an mehreren Stellen schöne Zeilen dazu, sodass man die Laufschuhe festschnüren und selbst gleich loslaufen will. "Ich finde nicht in meinen Körper; es ist ein einziger Kampf. Ich treibe haltlos dahin Treibe dem Verschwinden entgegen.
Außer beim Laufen. Wenn ich laufe, bin ich zugleich in meinem Körper und außerhalb. Ich spüre diese extremsten körperlichen Anstrengungen, während ich gleichzeitig völlig frei fühle, als flöge ich auf und davon. Ich will ich nicht daran erinnern, was mir passiert ist. Ich will nicht über die Vergangenheit nachdenken. Ich kann es in gewisser Weise gar nicht. Ich bin für Reue nicht geschaffen." S. 269.

Besonders die Freundschaft von Aggie und Glad, ihrer Mitstreiterin auf der Laufbahn und später auch in anderen Bereichen des jungen Lebens, hat einen großen Raum eingenommen. Diese Freundschaft zweier Rivalinnen ist psychologisch tief und einfühlsam dargelegt worden, wobei es nie ins Pathetische rutscht und eher bei nüchternen Darstellungen bleibt. Der Kontrast der Persönlichkeiten lässt Aggies Charakter umso deutlicher erscheinen und stimmt nachdenklich. Man fragt sich, lautet die Botschaft in etwa: Nicht der/die technisch, fachlich Bessere auf lange Sicht gewinnt, sondern der/diejenige, der/die mehr soziale Kompetenz wie Hartnäckigkeit und Ausdauer an den Tag legt? Und/oder auch: Wenn jemand nicht von der Persöhnlichkeit her es mitbringt, der kann nicht dauerhaft erfolgreich bleiben, zumindest in dem Sinne, wie die breite Masse den Begriff Erfolg begreift?

Auch Fragen der Identität und der Treue zu sich selbst sind eingehend an Aggies Beispiel/Ausführungen behandelt worden. Mir schwant, Aggies Geschichte ist auch eine Art Studie zum Thema, was passiert, wenn jemanden, der gar nicht auf viel Aufmerksamkeit vorbereitet ist und sonst keine Lust hat im Trubel der Eitelkeiten mitzuspielen, der große Erfolgt trifft.

Auch Themen wie Leben, Sterben, ein Kind zur Welt bringen, Familienleben, Verantwortung, Freundschaft, Liebe, Erfolg sind ein fester Bestandteil dieses Romans und sind auf eine nicht-triviale Art und Weise dargeboten worden.

Frauendiskriminierung und Frauenausbeutung ist hier auch ein Thema, das in diesem Roman insb. im letzten Drittel deutlich wird. Im Nachwort liest man: "Nur damit niemand glaubt, Diskriminierung im Laufsport gäbe es heute nicht mehr: im Jahr 2011 verfügte der Weltleichtathletikverband, dass offizielle Rekorde von Frauen nur in reinen Frauen-Laufwettkämpfen aufgestellt werden können. Damit soll verhindert werden, dass Frauen mit schnelleren Tempomachern laufen ...Durch die neue Regelung wurden zuvor von Frauen in gemischten Laufwettkämpfen aufgestellte Rekorde ungültig."S. 346.
Nach der Sportkarriere muss Aggie ihren Platz in der Redaktion räumen: "Der unausgesprochene Grund ist das Jahr: 1945. Das Kriegsende und damit die Menge tapferer junger Männer, die nach Hause kommen und ihre Stellen von Frauen wie mir besetzt finden. Sollte ich da nicht schleunigst das Richtige tun und beiseitetreten, um einem Ernährer Platz zu machen? Ich kann noch von Glück sagen, dass man mich nicht einfach vor die Tür setzt. Auf die ich jetzt zumarschiere, Schaum vorm Mund. Ich muss dringend laufen gehen." S. 289.
Auch das Bild von Aggies Mutter, die als Heilpraktikerin und Hebamme im Dorf tätig ist, liefert Beispiele dafür. Zu ihr kommen oft genug Mädchen, die sich von den Männerversprechungen leiten ließen und nun doch nicht geehlicht wurden.

"Ich habe nachgedacht über den Erfolg, Miss Gibb. Was macht ...eine große Sportlerin aus?"S. 297. Das scheint die Frage zu sein, auf deren Antwort Aggies Sportkarriere hinausläuft. Wohl kaum nur das Talent, die schnellen Beine, die Physis. Bei den Zutaten ist das Wichtigste nicht dabei, auch hier nocht: "Irgendwie ging es nie weg - das Verlangen zu konkurrieren, gegen andere anzutreten, zu gewinnen oder zu verlieren, Teil eines Rhythmus zu sein, der größer ist als ich. Eines ganzen Felds von Anstrengung und Verausgabung." S 309.

Die Geschichte hat auch eine zutiefst tragische Seite, wenn man an Tattie, Aggies Schwägerin, denkt. Da taucht die Frage auf: wie viel Unheil, dass man nie wieder gutmachen kann, durch menschliche Kälte und Gleichgültigkeit entsteht.

Die Überraschung zum Schluss kommt nicht zu kurz, wobei es sehr nah an Leser-hinters-Licht-führen kommt. Einige Seiten zuvor wurde in diesem Zusammenhang etwas ganz anderes erklärt, was falschen Schluss ziehen lässt.

Was ich weniger gut fand:
Die Infoversorgung erschien mir mancherorts suboptimal: Der 104-jährige Aggie wird erzählt, was sie schon weiß und zuvor ihre Meinung dazu abgegeben hat.
Die Handlung in der Gegenwart ist recht begrenzt.
Der Spannungsbogen konnte nicht überall aufrechterhalten werden. Einige Durchhänger ließen mich das Buch beiseitelegen.

Sonst ist der Schluss ist sehr gut: stimmig, atmosphärisch, berührend.

Fazit: Ein gelungener Roman über eine Frau, die konsequent ihren Weg ging.




Veröffentlicht am 15.09.2016

Eine leichte, herrlich-skurrile, humorvolle Sommerlektüre.

Glitzer, Glamour, Wasserleiche
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Auszug aus dem Klappentext: „Letztes Stündchen für das Hündchen? Radames taucht ab und eine Wasserleiche taucht auf.
Der Bodensee gibt seine Toten nicht mehr her? Denkste! Die voluminöse Opernsängerin ...

Auszug aus dem Klappentext: „Letztes Stündchen für das Hündchen? Radames taucht ab und eine Wasserleiche taucht auf.
Der Bodensee gibt seine Toten nicht mehr her? Denkste! Die voluminöse Opernsängerin Pauline Miller hat in Bregenz Quartier genommen. Und wo Pauly ist, ist das Drama nicht weit - denn so gehört es sich für eine wahre Diva nun mal. Statt Männerkummer wird Pauline diesmal von Hundesorgen geplagt: Ein brutaler Dognapper hat ihren Radames entführt - ohne Rücksicht auf Verluste und das zarte Nervenkostüm der exzentrischen Pauline.
Und sowie der Hund abtaucht, taucht plötzlich eine Wasserleiche auf. Damit singt Pauline nun statt Arien den Blues und hat keinen Sinn für Proben. Zum spektakulären Showdown kommt es denn auch nicht auf der Seebühne, sondern mitten auf dem Bodensee …
Krimödien von Tatjana Kruse: schrill, lebensklug und urkomisch!“

Der KT gibt eine gelungene Beschreibung der Geschichte wieder.
Die Autorin hat es geschafft mich zu überraschen. Nach dem ersten Pauline-Miller-Krimi, der an Skurrilität, Humor und Anzahl an Leichen, über die Pauly im Zuge ihrer Ermittlungen stolpert, kaum zu toppen ist, hat Tatjana Kruse einen eleganten Weg gefunden, einen spannenden Teil 2 zu erschaffen, der vom Inhalt her so anders ist, gleichzeitig aber sowohl Tierliebhaber als auch Pauline-Miller-Fans bis zum Ende mitfiebern lässt. Das Buch wollte sich absolut nicht aus der Hand legen lassen.

Die Figur der gefragten Operndiva ist schon ein großer Wurf. Ihre Art die Dinge zu sehen und Probleme anzugehen ist so herrlich schräg und so typisch kreative erfolgreiche Frau, dass es total viel Spaß macht, ihren Gedankengängen wie ihren reichlich abenteuerlichen Ermittlungen zu folgen. Auf jeder Seite gibt es etwas zum Schmunzeln, sei es Situationskomik, die Pauly wieder mal erzeugt hat, oder auch die Art, wie sie die Gegebenheiten sieht und sie dem Leser nahebringt.

Da Pauly keineswegs eine oberflächliche Trällerdame ist, gibt es auch kleinere Passagen mit philosophisch angehauchten Überlegungen über Gott und die Welt, hpts. über die Welt, z.B. zu der Art sich zu kleiden und was es über einen Menschen aussagt. Diese kleinen aber feinen Momente glitzern wie kleine Diamanten hier und dort auf und geben der Geschichte ihren besonderen Glanz und Tiefe.

Natürlich lebt Teil 2 auch vom erstklassigen Schreibstil der Autorin. So ungezwungen leichtfüßig wie humorvoll-ironisch die Pauline Miller Geschichten zu erzählen, das schafft nur Tatjana Kruse. Ihr unnachahmlicher Schreibstil ist ihr Markenzeichen, da er eindeutig Wiedererkennungswert besitzt und mich dazu bringt, auf baldige Erscheinung der Fortsetzung der Reihe zu hoffen. Ich hoffe auch, dass Teil 2 als Hörbuch in Kürze zu haben ist. Tatjana Kruse liest sehr gut, ihre Stimme passt prima zu Pauline-Miller Geschichten. Ich glaube, von der Autorin auf ihre unnachahmliche Art vorgetragen, zeigt diese Geschichte noch andere Facetten, die man beim Selbst-lesen nicht im vollen Umfang zutage fördern konnte.
Den Humor kann ich nicht schwarz oder gar rabenschwarz nennen. Diese Bezeichnung ist eher im übertragenen Sinne gemeint. Ironisch und manchmal bissig, das ja, denn so ist die Pauline, die uns diese Geschichte erzählt.

Die Ausgestaltung des Buches passt sehr schön zu dieser Geschichte. Das Coverbild zeigt Radames, der eine der Hauptrollen in dieser Folge spielt. Kraft seiner, von Pauly antizipierten, Bedürfnisse gibt es auch ein paar neue schräge Figuren. Die abgerundeten Ecken des Buches und glatte, angenehme Haptik des Covers hinterlassen einen durchaus positiven Eindruck. Das Buch ist handlich und leicht, wunderbar zum Mitnehmen.

Fazit: Eine leichte, gekonnt geschriebene, herrlich-skurrile Sommerlektüre, die prima unterhält und einen mal öfters zum Schmunzeln bringt. Ich hoffe, es gibt noch viel mehr Pauline-Miller-Geschichten aus diversen Opernstätten der Welt.