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Veröffentlicht am 11.09.2018

Viele tolle Ideen, zu wenige Antworten

White Maze
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"Nein!", kreische ich. "Bist du jetzt total bekloppt?" Da wirbelt er mich herum und ich folge seinem Blick, sehe, wie hinter uns die Tür aufgedrückt wird, durch die ich vorhin aufs Dach gekommen bin. Eine ...

"Nein!", kreische ich. "Bist du jetzt total bekloppt?" Da wirbelt er mich herum und ich folge seinem Blick, sehe, wie hinter uns die Tür aufgedrückt wird, durch die ich vorhin aufs Dach gekommen bin. Eine schwarze Anzugschulter und...Was um alles in der Welt! Ist das eine Pistole?
Ich bin so geschockt, dass ich keinen Widerstand mehr leiste. Hand in Hand renne ich mit Tom auf den Abgrund zu - wir springen ab - ich schließe die Augen, fühle den Wind, seine Hand. Und wie fest er mich hält.
Wir fliegen.
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INHALT:
Die 16-jährige Vivian ist von Reichtum und Luxus umgeben: Ihre Mutter ihr Chefentwicklern einer Technologie-Firma, die auf Virtual und Augmented Reality spezialisiert ist und dazu Games und Linsen erfindet. Vivian erhält natürlich immer als Erste neue Produkte - so auch die neuen Lucent-Linsen, die es sogar ermöglichen, zu schmecken, zu riechen und zu fühlen. Doch noch bevor sie sie das erste Mal ausprobieren kann, glaubt ihre Mutter plötzlich, eine Bedrohung entdeckt zu haben, und zerstört ihre Innovationen. Und am nächsten Tag ist sie tot. Vivian ahnt schnell, dass etwas Größeres dahinter stecken muss und bittet den Hacker Tom um Hilfe. Gemeinsam mit drei seiner Freunde kommen sie sehr bald einer großen Gefahr auf die Spur. Einer Gefahr, die auch sie das Leben kosten könnte...

MEINE MEINUNG:
Die Technologie ist auf dem Vormarsch - das ist kein Geheimnis. Die Grafik wird immer besser, das Erleben immer realistischer, und spätestens seit Pokémon Go wird man aktiv ins Spielgeschehen eingebunden. Samsung hat sich 2016 Linsen patentieren lassen, Apple hat erst dieses Jahr ein neues optisches System entwickelt. Die Zukunft, die June Perry in "White Maze" zeichnet, ist also gar nicht mehr so weit entfernt - ein gruseliger Gedanke. Wer sind wir, wenn wir uns nicht mehr in der Realität befinden, sondern nur noch in erdachten Welten? Auch dieser Frage wird hier nachgegangen, denn viele Teile des Romans spielen tatsächlich in solch "Erweiterten Realitäten", bei denen die wahre Umgebung um computergestützte, nicht-echte Details erweitert wird. Erzählt wird der Roman größtenteils aus der Ich-Perspektive der Protagonistin, zwischenzeitlich kommen aber auch ihre Weggefährten und der Strippenzieher zu Wort.

Vivian ist zu Beginn eines dieser typischen Girlies: Sie hat alles und will doch noch mehr, sie meint, sich alles erlauben zu können und wenn etwas nicht nach ihrer Nase läuft, reagiert sie aufbrausend und zickig. Vor allem aber kann sie nicht ohne die Technologie - fühlt sich allein und unfähig ohne. Dies ist wichtig, damit sie eine Entwicklung durchmachen kann, eine Entwicklung, nach der sie erkennt, dass die Realität immer die bessere Wahl ist. Leider ist sie trotzdem in vielen Belangen so begriffsstutzig, dass es schon anstrengend ist. Weil sie einen Hacker benötigt, lernt sie Tom und seine Freunde kennen, die zum Teil sehr stark den bekannten Klischees entsprechen: Der Eine ist in seinem Alter der Könner überhaupt, der Andere hat eine schwere Vergangenheit, und das einzige Mädchen im Bunde ist quirlig und hat "keinen Stil". Sie sind alle sympathisch, aber auch nur Beiwerk, inklusive Love-Interest Tom, der keinen eigenen Charakter entwickelt. Genau das ist leider auch beim Gegenspieler, dem "Prepender" der Fall: Dessen Motive werden einmal kurz angedeutet, dann aber fallen gelassen und nie erklärt - sehr schade.

Davon abgesehen hat die Autorin allerdings viele interessante und neuartige Ideen in ihrem Buch verbaut, die für einiges an Unterhaltung sorgen: Kryptische Botschaften der Mutter, erweiterte Realitäten, die nur schwer von der Wirklichkeit zu unterscheiden sind, und auch die Heimtücke, mit der der Prepender Vivian und den anderen immer wieder zuvor kommt. Leider wiederholen sich aber insbesondere die Gedankengänge der Erzähler immer und immer wieder, und viele Wortdoppelungen und Satzbau-Fehler stören den Lesefluss. Zum Ende hin wird Bezug genommen auf den Titel des Buches, und das auf sehr originelle und spannende Weise - es werden die Gefahren einer Welt, wie sie hier im Entstehen ist, noch einmal sehr deutlich gemacht. Allerdings fehlen ganz einfach die Erklärungen und Hintergründe, der Leser wird mit vielen Fragen komplett allein gelassen. Der Schluss deutet auf einen eventuellen zweiten Teil hin - dann immerhin könnten diese geklärt werden.

FAZIT:
June Perry zeichnet in "White Maze" eine Zukunftsvision, die quasi schon morgen eintreten könnte - und vielleicht gerade deswegen umso gruseliger ist. Sie erweckt diese Welt mit vielen Details und Ideen zum Leben, dafür mangelt es aber an der Charakterentwicklung und insbesondere an Erklärungen und Antworten. Besonders am Ende fehlte mir hier die nötige Tiefe. Insgesamt also 3 Punkte.

Veröffentlicht am 11.07.2018

Wunderbar divers, aber nicht großartig neu

Children of Blood and Bone
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I push through the crowd with a new fervor, desperate to escape. I'm almost past the textiles when someone graps my wrist.
What in gods' names?
I whip out my compacted staff, expecting to meet the arm ...

I push through the crowd with a new fervor, desperate to escape. I'm almost past the textiles when someone graps my wrist.
What in gods' names?
I whip out my compacted staff, expecting to meet the arm of a royal guard or a petty thief. But when I turn, it's neither a guard nor a crook who's grabbed me.
It's a cloaked amber-eyed girl.
She pulls me into a hidden opening between two stalls with a grip so tight I can't fight my way free.
"Please", she begs, "you have to get me out of here!"
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INHALT:
Einst war Orïsha ein Land, das von magisch begabten sogenannten Maji und normalen Menschen gleichermaßen bevölkert wurde. Doch dann kam es zu dieser einen Nacht, in der die Kräfte verschwanden und alle Magier von den Schergen des Königs getötet wurden. Darunter war auch Zélies Mutter, die sich seitdem gemeinsam mit ihrem Bruder um ihren trauernden Vater kümmern muss. Zélie selbst ist ein Divîner, gekennzeichnet durch weißes Haar, und würde auch zur Maji werden, gäbe es die Magie noch. Doch der Gedanke daran scheint aussichtslos. Bis sie Amari begegnet, die ein geheimnisvolles Artefakt gestohlen hat. Ein Artefakt, das die Fähigkeiten zurückbringen könnte...

MEINE MEINUNG:
Momentan ist es nicht möglich, an Tomi Adeyemis "Children of Blood and Bone" vorbeizukommen. In Zeiten der Rufe nach Gerechtigkeit und mehr Diversität musste ein Fantasyroman, der so auf die afrikanische Kultur setzt, ja einschlagen wie nichts. Und tatsächlich gelingt es dem Roman sehr gut, einerseits eine phantastische Geschichte zu erzählen, und andererseits einen Bogen zum Rassismus und Hass zu schlagen, wie wir ihn leider viel zu oft in der Realität entdecken. Allerdings ist der Inhalt selbst davon abgesehen nichts großartig besonders - es gibt originelle Details und manch interessante Wendungen, vieles ist einem jedoch schon aus anderen Büchern des Genres bekannt.

Zelié ist eine sehr impulsive Protagonistin, an die man sich gewöhnen muss. Sie spricht oft frei heraus, auch wenn es unangebracht ist, und bringt mit ihren voreiligen Taten schon einmal andere in Gefahr. Gleichzeitig hat sie aber das Herz am rechten Fleck und steht für andere ein. Ihr Bruder Tzain bildet mehr oder weniger den Gegenpol zu ihr und ist der Einzige der Protagonisten, der nicht selbst zu Wort kommt. Er reagiert oft ruhiger und nachdenklicher auf Geschehnisse, lässt sich aber teilweise ebenfalls von seiner Wut treiben. Amari und Inan, die beiden Kinder des Königs, machen von allen Figuren die größte und beste Entwicklung durch. Vor allem Amari bemerkt durch den Tod einer geliebten Person schnell, dass die Herrschaft ihres Vaters nicht richtig sein kann - und entwickelt sich im Laufe der Reise zu einer echten Kämpferin. Inan dagegen wehrt sich lange gegen all das, was er sieht und was ihm falsch erscheint. Auch er bemerkt die Ungerechtigkeit, kann sich aber nicht so recht lösen von seiner Erziehung - und begeht damit so einige Fehler.

Das Prinzip der Divîner, die in ihrer Jugend zu Maji werden und dann eine von zehn Kräften erhalten, ist interessant und meistens neuartig - so können die Tider Wasser wirken, die Burner Feuer entstehen lassen, und Reaper wie Zelié die Geister Verstorbener zu ihren Zwecken nutzen. Magie wird außerdem gewirkt, indem in einer afrikanischen Sprache gesungen wird - hier fließt die Kultur wunderbar mit ein. Allerdings kommt einem auch vieles bekannt vor: Wie in fast jedem High Fantasy-Roman müssen die Protagonisten eine lange und beschwerliche Reise unter Zeitdruck auf sich nehmen, um ein Ritual zu vollziehen, das nur innerhalb des nächsten Monats möglich ist (was mich sehr stark an die Avatar-Serie erinnert hat). Es gibt einen brutalen König - dessen Motiv ich sogar nachvollziehen konnte - und eine Liebesgeschichte zwischen zwei eigentlichen Feinden. Gerade diese ging mir aber leider viel zu schnell, nachdem die Beziehung zwei Drittel der Handlung über aus gegenseitigem Hass bestanden hatte, und führte so zu einigen Längen. Erst auf den letzten knapp 100 Seiten zieht das Ganze wieder an und wartet noch einmal mit einigem an Spektakel und Kampf auf. Zwar endet der Roman zum Glück nicht mit einem übergroßen Cliffhanger, aber da die Reise der Charaktere ganz eindeutig noch nicht vorbei ist, ist der Nachfolger quasi ein Muss.


FAZIT:
"Children of Blood and Bone" ist wunderbar divers, geprägt von afrikanischer Kultur und lauter interessanten Details - insofern kann ich die allgemeine Begeisterung durchaus verstehen. Handlungstechnisch ist einem das Ganze aber sehr bekannt, denn viele Stränge und Ereignisse bringen nichts großartig Neues mit sich. Vor allem die Liebesgeschichte, die sehr plötzlich entsteht und nicht wirklich glaubwürdig ist, hat mich gestört. Die offenen Fragen lassen mich aber trotzdem dran bleiben - und "Children of Virtue and Vengeance" erscheint ja bereits nächstes Jahr im März. Gute 3 Punkte.

Veröffentlicht am 09.07.2018

Orientalische Sagen, besitzergreifende Männer

Najaden - Das Siegel des Meeres
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Vor Schmerz stockte Sayaf der Atem. Die Fingerspitze, mit der sie an seinem Arm aufwärtsstrich, hinterließ ein Sengen, als triebe sie glühenden Stahl durch sein Fleisch.
"Ihr habt keine Ahnung, mit welchen ...

Vor Schmerz stockte Sayaf der Atem. Die Fingerspitze, mit der sie an seinem Arm aufwärtsstrich, hinterließ ein Sengen, als triebe sie glühenden Stahl durch sein Fleisch.
"Ihr habt keine Ahnung, mit welchen Mächten ich im Bunde stehe."
Doch, die hatte er. Sie gab ihm gerade eine Kostprobe davon. Mit zusammengebissenen Zähnen sah er auf die dünne Brandspur, die sie mit ihrem Finger auf seiner Haut hinterließ.
Unerwartet packte sie ihn am Arm, und er musste sich zwingen, sie nicht von sich zu stoßen, sondern ihr gelassen in die jadegrünen Schlangenaugen zu sehen. "Wenn meiner Tochter bei Eurem Bruder ein Leid erfährt, wird ganz Aššu dafür brennen. Vergesst nicht, Eurem Vater das von mir auszurichten."
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INHALT:
Die junge Meliaé muss mit ansehen, wie vor ihren Augen ihre Mutter getötet wird - auf Befehl des Heeresfürsten Khayam, Erbe des Sultans, der gemeinsam mit seinem Bruder Abu Sayaf nach dem Siegel des Meeres sucht. Denn dieses soll ihr Land Aššu vor prophezeiten dem Untergang bewahrenl. Was die beiden noch nicht ahnen: Meliaé selbst ist dieses Siegel. Und bevor sie ihrer habhaft werden können, entschwindet sie in das sagenumwobene Land der Najaden, wo sie ihre Fähigkeiten erlernen soll. Aber Sayaf ist weiter auf der Suche nach ihr - denn nicht nur trägt sie die Rettung seines Reiches in sich, er hat sich auch mit Haut und Haar in sie verliebt.

MEINE MEINUNG:
Mythen und Sagen - faszinierende Geschichten, die uns in fremde Länder mit fremden Sitten entführen. Genau davon hat sich Heike Knauber für "Najaden" inspirieren lassen und eine orientalisch angehauchte Welt voller Magie und Zauber, aber auch voller Ungerechtigkeit und Gewalt geschaffen. Tatsächlich lernt man von den Reichen aber nur relativ wenig kennen - einmal Najadís, eine Feuerinsel, und dann noch Aššu selbst, die Heimat der beiden Heeresfürsten. Dazwischen befinden sich die Hauptfiguren meistens auf Schiffen und bekommen relativ wenig von der Außenwelt mit, was schade ist. Erzählt wird die ganze Geschichte größtenteils aus der personalen Sicht der Protagonistin, aber auch Gegenspieler und Wegbegleiter kommen teilweise zu Wort.

Meliaés Familie wurde zerstört und sie selbst von Abu Sayaf entführt, einem Sohn des Sultans, der für ihr Schicksal verantwortlich ist. Ihren Hass kann man daher sehr gut nachvollziehen, ebenso wie ihre Weigerung, irgendetwas für diesen Mann zu tun. Allerdings bleibt sie sich selbst und ihrer Abneigung nur dann treu, wenn es gerade in die Geschichte passt. Mal fühlt sie sich zu Sayaf hingezogen, dann unternimmt sie alles, um sich an ihm und seiner Familie zu rächen - ihre Sprunghaftigkeit hat mich doch sehr irritiert. Nicht so sehr allerdings wie der Aspekt, dass sie sich im Laufe der Handlung zweimal zu äußerst brutalen, mörderischen und teilweise vergewaltigenden Männern hingezogen fühlt, was so gar nicht zu ihrer sonstigen Kratzbürstigkeit passt. Abu Sayaf ist für mich jedenfalls kein Traummann - es wird zwar versucht, ihm Hintergrund und Motiv für seine Taten zu geben, das lässt aber nicht vergessen, dass er Meliaé entführt, gegen ihren Willen küsst und tatsächlich auch schlägt. Mich interessiert in dieser Hinsicht auch nicht, dass das andere Sitten und Bräuche sind, in denen Frauen weniger Wert haben. Ein gewalttätiger Mann ist kein guter Mann.

Davon abgesehen weiß die Idee durchaus zu gefallen: Meliaé ist also, ohne ihr Wissen, das Siegel des Meeres und eine Najade, sie kann sich demnach in eine Schlange verwandeln. Ihre Veränderung vom Unglauben über ihre Herkunft zum mühelosen Gebieten über ihre Fähigkeiten bekommt man allerdings gar nicht mit, weil hier einfach 4 Jahre in die Zukunft gesprungen wird. Das fand ich sehr schade, weil doch vor allem die Feuerinsel mit ihren Bewohnern und Wäldern ein faszinierendes Setting ist. Stattdessen verbringen die Charaktere also weiter viel Zeit auf Schiffen und dann in staubigen Wüsten - aber für solche Umgebungen sind die Menschen alle...seltsam hellhäutig. Zudem fehlten mir so einige Erklärungen: Welchen Sinn etwa hat es, dass einige Bewohner von Aššu sich zu Schakalen mit aufrechtem Gang verwandeln können? Welche Vorteile hat dies und woher kommt die Fähigkeit? Auf solche Fragen gibt es leider nie Antworten. Dafür sind die letzten 200 Seiten ausnehmend spannend - es treten weitere magische Wesen auf, es kommt zu Kämpfen und überraschenden Wendungen. Und auch wenn der Schluss zu erwarten war, bildet er einen runden Abschluss, trotz der vorherigen Mängel.

FAZIT:
Heike Knaubers "Najaden: Das Siegel des Meeres" lebt von einer tollen Idee und faszinierenden Schauplätzen, die allerdings teilweise zu wenig genutzt werden. Der Liebesgeschichte und den beiden Protagonisten konnte ich leider wenig abgewinnen, und insbesondere die manchmal fehlenden Erklärungen stören. Dafür kommt am Ende immerhin richtig Spannung auf. 3 Punkte.

Veröffentlicht am 11.05.2018

Das Feuer fehlt in der zweiten Hälfte

Die Spiegel von Kettlewood Hall
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"Versteh mich doch." Jetzt war Victors Stimme kaum mehr als ein Krächzen. "Dir geht es nur um ein paar Kleider und Schuhe, und ja, auch darum, dass man dir die Wahrheit sagt. Aber was für uns auf dem Spiel ...

"Versteh mich doch." Jetzt war Victors Stimme kaum mehr als ein Krächzen. "Dir geht es nur um ein paar Kleider und Schuhe, und ja, auch darum, dass man dir die Wahrheit sagt. Aber was für uns auf dem Spiel steht - das ahnst du nicht."
"Dann sag es mir!", rief ich. "Sag es mir endlich! Worum geht es bei dem Schachspiel?"
Victor atmete durch. "Um unsere Zukunft", sagte er dann. "Und unsere Gegenwart. Und unsere Vergangenheit."
"Das ist keine Antwort! Wenn ich euch helfen soll, will ich die Wahrheit wissen."
Victor antwortete nicht. Er drehte sich nur um und verließ das Zimmer. Er machte nicht einmal mehr die Tür hinter sich zu. Und er brauchte gar nicht erst wiederzukommen.
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INHALT:
Im England des 19. Jahrhunderts ist Kinderarbeit üblich, und so muss auch die 14jährige Iris ihren Teil zum Lebensunterhalt mit Fabrikarbeit beitragen. Nach dem Tod ihrer Mutter ist es aber nun an ihr, allein für ihre Großmutter und sich zu sorgen, was sie an ihre Grenzen bringt. Bis sie eines Tages ein schwarzes Pferd entdeckt, das ihre Mutter versteckt hatte - einen Springer, der zu einem Schachspiel gehört. Einem Schachspiel, das sich auf dem Anwesen Kettlewood Hall befindet, zu dem sich Iris auf den Weg macht. Unerwartet freundlich wird sie dort aufgenommen. Doch das hat einen Grund: Eine Partie Schach wartet auf sie, und sie ist unfreiwillige Teilnehmerin. Womit sie mit ihrer Seele spielt...

MEINE MEINUNG:
Maja Ilisch hat ein Händchen für düstere, leicht schaurige Stoffe - das hat sie in ihrem Debüt gezeigt und das zeigt sie auch in "Die Spiegel von Kettlewood Hall" erneut. Wieder geht es um ein junges Mädchen, das ein Geheimnis lüften will und dabei mit allerlei seltsamen und gefährlichen Geschehnissen in Berührung kommt. Der Schreibstil ist sehr angenehm, trotz des Jahrhunderts, in dem die Geschichte spielt, und die Ich-Perspektive lädt dazu ein, der Protagonistin in den Kopf zu schauen. Doch wie schon im Erstling um das "Puppenzimmer" lässt die zweite Hälfte wieder stark in der Qualität nach und verläuft sich letztendlich irgendwo im Mittelmaß.

Iris ist für ihre 14 Jahre sehr reif, was sicherlich der Zeit geschuldet ist. Sie muss arbeiten und Geld verdienen, wünscht sich aber eigentlich so viel mehr: Sie möchte etwas lernen und sie möchte nicht so früh sterben wie es ihrer Mutter passiert ist. Ihr Mut ist bewundernswert und sie steht auch für sich selbst ein, lässt sich aber fast genauso oft auch an der Nase herumführen, was sie viel zu schnell verzeiht. Neben ihr lernt man noch Mr. Whitham kennen, ihren Lehrer, der ihr das Schachspiel beibringt, sowie die illustre Gemeinschaft, die im Anwesen Kettlewood Hall lebt: Da ist der gutaussehende Victor, der natürlich relativ schnell der Angebetete wird, der sich nie so recht entscheiden kann, ob er nun geheimnisvoll tun oder helfen will; da ist der junge Toby, der einige Fehler hat, ihr aber auch aktiv zur Seite steht; oder die zwei jüngeren Mädchen, Schwestern, die sich beide viel älter verhalten als sie aussehen. Die übrigen Charaktere bleiben leider sehr schemenhaft, was aber auch damit zusammen hängt, dass sie deutlich weniger Platz einnehmen.

Die erste Hälfte des Romans ist wunderbar: Hier lernt man Iris' Lebensumstände kennen, ihren Wunsch nach mehr, und erste Prinzipien des Schachspiels, für das sie eine Leidenschaft entwickelt. Nach ihrer Ankunft im Anwesen wird es durchaus schaurig mit den Spiegeln, in denen Bewegungen auszumachen sind, oder Menschen, die mal Geister sind und mal nicht. Enttäuschend ist aber, dass Iris entgegen meiner Erwartung keines der Geheimnisse selbst aufdecken muss - alle Bewohner geben sich zwar immer übertrieben geheimnisvoll und erklären des Öfteren, dass sie nichts verraten dürfen, aber wenn es mal Erklärungen gibt, dann grundsätzlich nur durch diese Menschen selbst. Iris bleibt dabei fast schon passiv, läuft nur von einem Raum in den nächsten, spielt ab und zu Schach und träumt von Victor, stolpert in die Lösungen aber eher rein. Dafür ist der Schluss überzeugend, der zwar keine Spannung zum Nägelkauen mit sich bringt, aber durchaus interessant ist und auch zum Rest passt. Nur Überraschungen bleiben aus, weswegen die Gefühle über leichte Zufriedenheiten nicht hinausgehen.

FAZIT:
"Die Spiegel von Kettlewood Hall" überzeugt mit einer spannungsreichen ersten Hälfte, die schaurig und atmosphärisch anmutet. Danach allerdings tritt die Handlung relativ lange auf der Stelle, weil auch die Protagonistin relativ wenige Geheimnisse selbst lösen muss. Da fehlte mir irgendwie das Feuer, das ich erwartet hatte. So bleibt es bei 3 Punkten.

Veröffentlicht am 05.04.2018

Sensibel erzählt, aber schwache zweite Hälfte

Für immer ist die längste Zeit
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Ich räuspere mich. "Weißt du, Eve, man sagt, die Zeit, die wir jetzt gerade durchmachen, nach der Beerdigung, wenn alle anderen weitergegangen sind, das ist die schwerste Zeit der Trauer."
"Ja, ach, ich ...

Ich räuspere mich. "Weißt du, Eve, man sagt, die Zeit, die wir jetzt gerade durchmachen, nach der Beerdigung, wenn alle anderen weitergegangen sind, das ist die schwerste Zeit der Trauer."
"Ja, ach, ich finde, das ist kompletter Blödsinn", antwortet sie. Als ich auflache, fasst sie den Mut, weiterzusprechen. "Jeder Tag ist anders beschissen. Es wird nie aufhören."
Ich weiß nicht, ob es das Richtige ist, aber ich nicke zustimmend. Wie kann ich so tun, als hätte all das auch positive Seiten? Einzuräumen, dass alles beschissen ist, ist schon mal ein Fortschritt, denn immerhin sind wir uns einig.
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INHALT:
Die liebende Ehefrau und Mutter Maddy ist tot - vollkommen überraschend, womit sie ihre mitten in der Pubertät steckende Tochter und ihren immer zu viel arbeitenden Mann in eine tiefe Krise stürzt. Und dabei muss sie auch noch zusehen, denn sie ist nicht in den Himmel gelangt, sondern schwebt über der Welt. Ist das das Fegefeuer? Mitansehen zu müssen, wie sich ihre Familie gegenseitig zerfleischt, weil beide das Gefühl haben, mehr hätten tun zu können? Doch sie besitzt ein wenig Einfluss, wie sie feststellt. Und so beschließt sie, ihrem Mann eine neue Frau zu suchen und die Familie dadurch wieder zu kitten...

MEINE MEINUNG:
Tod, Verlust, Trauer und Vergebung - wichtige Themen, die die Menschen beschäftigen und immer wieder gern in Büchern aufgegriffen werden. Auch Abby Fabiaschi macht sich in "Für immer ist die längste Zeit" daran, diesen emotionalen Regungen nachzugehen. Sie erzählt ihre Geschichte aus drei Perspektiven: Die der toten Maddy, die ihrer Tochter Eve und die ihres Mannes Brady. Insbesondere die ersten beiden sind sich aber extrem ähnlich, was nach einer Pause beim Lesen schnell zur Verwirrung führen kann. Der Schreibstil ist dafür jedoch sehr angenehm und ruhig, durchsetzt von spritzigen Dialogen und schönen Beschreibungen.

Die drei Protagonisten sind einem größtenteils sehr sympathisch und vor allem ihre jeweilige Trauer - individuell ausgelebt - wird sehr realistisch dargestellt. Maddy vermisst ihre Familie, tut aber alles, um diese wieder auf den rechten Weg zu bringen. Eve ist ein zickiger Teenager und muss erst entdecken, was alles in ihr steckt. Und Brady will sich ein neues Ziel setzen, um seine Wutanfälle besser kontrollieren zu können. Besonders letzterer macht eine intensive Wandlung durch, die mir gut gefallen hat. Am spritzigsten und spannendsten ist aber dennoch Rory, die Frau, die Maddy als neue Ehefrau auserkoren hat, und die sich diesem Plan doch irgendwie recht stark widersetzt. Sie ist eine leidenschaftliche, humorvolle Person, die man nur ins Herz schließen kann.

Die ersten 100 Seiten sind beeindruckend sensibel und realistisch geschrieben: Die Hinterbliebenen leben aneinander vorbei, beide mit ihren eigenen Sorgen und Schuldgefühlen beschäftigt, während Maddy im Jenseits (oder kurz davor) alles daran setzt, ihre Familie wieder glücklich zu sehen. Danach tritt das Ganze aber erst einmal auf der Stelle, niemand kommt so recht voran und bis die von Maddy auserkorene Frau mal in das Leben von Kind und Mann tritt, sind etwa 150 Seiten vergangen. Zudem will die Autorin unbedingt bis zum Ende ein Geheimnis aus den Umständen des Todes machen, was seltsam ist, wo doch die Verstorbene selbst aus der Ich-Perspektive erzählt und ganz leicht Licht ins Dunkel bringen könnte. So wirkt das Ende, obwohl es einige tolle Weiterentwicklungen der Figuren gibt, relativ gehetzt und auch nicht ganz nachvollziehbar - insbesondere der Epilog, in dem noch einmal alte Figuren ausgegraben werden. Eine Kürzung im Mittelteil und dafür ein verlängerter Schluss hätten dem Ganzen wahrscheinlich gut getan.

FAZIT:
Abby Fabiaschi geht mit dem Thema Tod und Trauerbewältigung weitestgehend sensibel und realistisch um und die Entwicklung der Figuren ist schön mitanzusehen. Die zweite Hälfte weist aber Längen auf und die Heimlichtuerei um den Tod der Protagonistin ist anstrengend. Da hatte ich mir doch ein durchdachteres Ende erhofft. Letztendlich also gute 3 Punkte.