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Veröffentlicht am 31.07.2018

Das wird mein Jahrhundert!

Ida
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„Niemand würde ihr jetzt mehr etwas einreden, nicht der Papa oder der Herr Doktor oder sonst irgendeine Macht. Am 1.1.1901 würde mit einem Jahr Verspätung ein neues Jahrhundert für sie beginnen. 1.1.1901, ...

„Niemand würde ihr jetzt mehr etwas einreden, nicht der Papa oder der Herr Doktor oder sonst irgendeine Macht. Am 1.1.1901 würde mit einem Jahr Verspätung ein neues Jahrhundert für sie beginnen. 1.1.1901, wiederholte sie feierlich, Berggasse 19.“


Inhalt


Ida hat keine ganz leichte Kindheit, denn immer überschatten diverse größere und kleinere Unpässlichkeiten ihren Alltag. Entweder ist sie selbst krank und wird von einem schlimmen Husten geplagt, oder die Mutter liegt nieder, oder der Vater braucht Pflege. Dadurch, dass Ida gut betucht aufwächst lässt sich das durchaus hinnehmen, denn irgendwann, so hofft sie, wird der Tag kommen, an dem das Leid ein Ende hat. Ihr großes Vorbild und gleichzeitig der innigste Freund ist ihr großer Bruder Otto, der einzige, den sie tatsächlich bewundert. Nicht nur, weil er so klare Vorstellungen von seiner Zukunft in der sozialdemokratischen Partei hat, sondern auch, weil es ihm gelingt jeden Stein, der ihn in den Weg gelegt wird, beiseite zu räumen. Und so erträgt Ida die sinnlosen, an Frechheit grenzenden Stunden bei Doktor Freud, die außereheliche Liebschaft zwischen dem Vater und der befreundeten Pepina Zellenka und die unsittsamen Annäherungsversuche des Hans, denn sie schwört sich, dass der Tag kommen wird, an dem sie ihren wahren, starken Charakter offenbart und über diejenigen triumphiert, die ihr so gar nichts zutrauen wollen. Als sie den schmucken Ernst Adler kennenlernt, beschließt sie ihn zu heiraten und damit den Zwängen des elterlichen Zuhauses zu entkommen …


Meinung


Die Autorin Katharina Adler ist selbst die Urenkelin der Hauptprotagonistin Ida Adler-Bauer des vorliegenden Romans. Für dieses Buch, ihren Debütroman ist sie bereits für den Alfred-Döblin-Preis nominiert wurden und hat ihrer Urgroßmutter ein Denkmal gesetzt jenseits ihres Stempels, den diese als Patientin „Dora“ des berühmten Sigmund Freuds aufgedrückt bekommen hat. Der Roman beschäftigt sich intensiv mit der Persönlichkeit Ida, mit der Vielfalt ihrer Versionen, mit einer nicht ganz einfachen aber sehr bestimmten Frau, die sich im Rahmen eines bewegten halben Jahrhunderts beweisen musste und diese Herausforderung durchaus angenommen hat.


Weite Teile der Erzählung erstrecken sich auf die Jugend der Protagonistin, führen dann aber hinein ins Erwachsenenalter, einer Zeit, in der sie selbst Mutter wurde, ihre Ansprüche an den Sohn sehr hoch schraubte und ihn förderte, damit er etwas aus seinem Leben machen würde. In Anbetracht der geschichtlichen Epoche, die sich zwischen dem ersten und zweiten Weltkrieg abspielt und der euphorischen Zeit dazwischen, entfaltet sich der zweite Schwerpunkt des Romans. Krieg und Demut, Aufschwung und Hoffnung, Selbstüberschätzung und Vernichtung. Ida durchlebt ihr Jahrhundert als genau das, was es ist, ein ständiges Auf und Ab, ein Überlebenskampf für alle Gesellschaftsschichten, so dass sogar eine Ida Adler-Bauer, die immer wohlhabend und gut situiert dastand, im zweiten Weltkrieg die dramatischen Auswirkungen einer Flucht aus Hitlerlanden erleben muss, um sich in ihrer neuen Heimat Amerika niederzulassen. Der zweite Teil des Buches hat mich deutlich mehr inspiriert und unterhalten, als es die ersten 300 Seiten vermochten.


Tatsächlich hat mir die Entwicklungsgeschichte von Otto Bauer und sein Wirken in der Sozialdemokratie in den Zeiten der Weimarer Republik wesentlich besser gefallen, birgt sie doch über den rein menschlichen Aspekt auch noch ein politisches Zeitzeugnis mit interessanten Informationen und dramatischen Entwicklungen. Die Protagonistin selbst bleibt leider etwas blass, allein durch die vielen Querelen, die sie mit verschiedenen Personen pflegt, andere die sie immer wieder vor den Kopf stößt und dann jene, die ihr trotz allem immer tief verbunden bleiben. Von Sympathiewerten sind wir weit entfernt, wenn auch eine entsprechende Vielfalt aufgebaut wird, so hat mich der Text doch nicht wirklich gefesselt und ich musste mich motivieren, die doch langatmige Geschichte wieder aufzunehmen.


Fazit


Ich vergebe 3,5 Lesesterne (abgerundet zu 3) für einen sehr persönlichen Familienroman, der sich sicherlich an die Wahrheit hält und viele biografische Züge aufweist, mich aber nicht restlos überzeugen konnte. Zu sperrig die Charaktere, zu antiquiert manche Ansicht, zu wenig emotional und dennoch viel Raum einnehmend. Positiv beurteile ich die Verflechtung der historischen Hintergründe in die Familiengeschichte, in denen auch die wesentlichen Entwicklungen liegen, die Möglichkeiten, die sich für Ida nach der Machtergreifung Hitlers noch ergeben. Nicht immer fesselt die Lektüre, manchmal plätschert es nur dahin und die Distanz bleibt bestehen, der Blick von außen, der nur kurz den Blick von innen gewährt und den Leser dann wieder ausschließt. Anteilnahme baut sich niemals auf. Ich hätte mir noch mehr Herzblut und weniger Dekadenz gewünscht.

Veröffentlicht am 08.07.2018

Persönliche Entscheidungen lenken deinen Weg

Das weibliche Prinzip
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„Wenn sie für das kämpfen, was ihnen wichtig ist, werden sie auf Widerstände stoßen, und das kann nicht nur verstörend sein, sondern auch dafür sorgen, dass sie aus der Bahn geworfen werden. ...

„Wenn sie für das kämpfen, was ihnen wichtig ist, werden sie auf Widerstände stoßen, und das kann nicht nur verstörend sein, sondern auch dafür sorgen, dass sie aus der Bahn geworfen werden. Die Wahrheit lautet, dass sie nicht nur Zustimmung ernten werden.“


Inhalt


Die junge Studentin Greer Kadetzky, die selbst ihren Weg im Leben sucht, da ihre Eltern für sie keine Vorbildfunktion haben, begegnet der charismatischen Feministin Faith Frank, die eine Vorreiterin der Frauenbewegung ist und mit Herzblut für die Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts kämpft. Tatsächlich gelingt es Greer mit der im Rahmenlicht stehenden Faith Kontakt zu knüpfen und kurze Zeit später erhält sie sogar die absolut fantastische Möglichkeit, für ihr Idol zu arbeiten. Faith Frank arbeitet nun für eine Stiftung, die Frauen aus ihrer sexuellen Abhängigkeit holt und ihnen zeigt, wie man mit ganz normaler Arbeit auf eigenen Beinen stehen kann. Greer schreibt Reden und hält diese auch selbst, voller Freude und Engagement ist sie bei der Sache, bis sie einen heißen Tipp bekommt, dass die Finanzierung des Projektes Unregelmäßigkeiten aufweist und längst nicht mehr die ausgebeuteten Frauen im Fokus stehen, sondern nur der Profit. Desillusioniert und betreten trifft Greer eine eigene Entscheidung und stellt dabei fest, dass auch große Vorbilder keinen Heiligenschein tragen.


Meinung


Dieser aktuelle Roman aus der Feder der amerikanischen Schriftstellerin Meg Wolitzer ist mein erstes Buch von ihr. Bereits die Vorgängerromane haben mein Interesse geweckt und ich wollte nun endlich einmal herausfinden, welche Art der zeitgenössischen Belletristik mich erwartet. Doch zugegeben, „Das weibliche Prinzip“ hat meinen Lesegeschmack nicht ganz getroffen. Die Geschichte an sich klingt sehr vielversprechend, allein weil es faszinierend ist, jungen Menschen beim Finden ihrer eigenen Überzeugung zuzuschauen, auch weil es spannend ist, sie durchs Leben zu begleiten und ihre Entscheidungen wahrzunehmen – doch die Umsetzung hier, brachte mir zu wenig Dynamik, eine nur geringe innere Beteiligung und streckenweise sehr langatmige Passagen, die mich dazu verleitet haben, das Buch immer wieder beiseite zu legen und andere Schmöker vorzuziehen. Der Funke ist bis zuletzt nicht übergesprungen und es ist mehr dem vielschichtigen, erzählendem Schreibstil zu verdanken, dass ich drangeblieben bin, als der Erzählung an sich.


Der Ansatz von Meg Wolitzer konzentriert sich auf das Menschsein in der reinsten Form. Deshalb ist es auch nicht Greer allein, die hier als Hauptprotagonistin auftritt, sondern auch Faith und darüber hinaus noch Greers Freund Cory und ihre Kommilitonin Zee. Jeder hat gute und weniger gute Charakterzüge, alle handeln gleichbleibend menschlich und treffen weise aber auch falsche Entscheidungen. Es gelingt ihnen, sich im Leben zurechtzufinden und mit mehr oder weniger Einsatz, ihren Platz zu behaupten. Dazu nutzt die Autorin viele kleine Nebenhandlungen, die sich mit den jeweiligen Personen beschäftigen, die aber auf mich einen zerfaserten, unsteten und unbestimmten Eindruck hinterlassen. Cory trifft ein persönlicher Schicksalsschlag, Zee wird sich ihrer Homosexualität bewusst, Faith kämpft mit dem fortschreitenden Alter und Greer sieht ihre einstigen Wunschvorstellungen und Überzeugungen davondriften. Was nach Unzufriedenheit klingt, ist nichts anderes als der Lauf des Lebens, den alle erfahren und mit dem sie unterschiedlich umgehen.


Der Autorin gelingt es, mit einprägsamen Sätzen und einer guten Übersichtsstruktur die verschiedenen Charaktere in diversen Lebensphasen zu zeichnen, alles wirkt überaus realistisch und nachvollziehbar, doch leider empfinde ich beim Lesen kaum emotionale Beteiligung, die Banalität der Handlung und die vielen Hochs und Tiefs wirken so mühsam und langatmig auf mich, dass ich mir hin und wieder ein kleines Highlight gewünscht habe, doch vergebens. Greer Kadetzky und ihre ganz persönliche Entwicklung konnte mich einfach nicht fesseln.


Fazit


Ich vergebe 3,5 Lesesterne (die ich dennoch eher auf 3 reduziere) für einen Roman, der sich vielschichtig mit wichtigen Lebensfragen auseinandersetzt. Thematisch findet man emanzipierte Frauen, hohe Idealvorstellungen, bittere Enttäuschungen und einiges an Lebensweisheit, die sich mit den entsprechenden Erfahrungen manifestiert. Dennoch, dieses Buch war vielleicht nicht das richtige Stück Literatur zur richtigen Zeit für mich. Der Handlung hätte ich mehr Entwicklungspotential, mehr Emotionalität und eine striktere, bissigere Erzählweise gewünscht. So blieb das Buch ein durchschnittliches Leseerlebnis. Dennoch werde ich gerne noch mindestens ein anderes Werk von Meg Wolitzer zur Hand nehmen, weil es doch die Erzählung selbst war, die mich nicht überzeugt hat, weniger die Erzählstimme.

Veröffentlicht am 21.06.2018

M.A.R.Y.

Die Farbe von Milch
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„Aber ich habe mir geschworen die Wahrheit aufzuschreiben und die Dinge wie sie passiert sind. Das werde ich tun. Und mein Haar hat die Farbe von Milch.“


Inhalt


Mary wächst als die jüngste von insgesamt ...

„Aber ich habe mir geschworen die Wahrheit aufzuschreiben und die Dinge wie sie passiert sind. Das werde ich tun. Und mein Haar hat die Farbe von Milch.“


Inhalt


Mary wächst als die jüngste von insgesamt 4 Töchtern auf einem Bauernhof auf. Von Kindesbeinen an sind die Mädchen harte, körperliche Arbeit gewöhnt. Im Sommer des Jahres 1831 bekommt Marys Vater aber ein verlockendes Angebot: Eine seiner Töchter soll im Haushalt des Pfarrers ihren Dienst antreten und bekommt dafür Kost und Logis gestellt, der Vater nimmt freudestrahlend an und schickt seine Jüngste, ist sie es doch die seit der Geburt eine körperliche Behinderung hat und auf dem Hof ohnehin nicht jede Arbeit so schnell und gut erfüllen kann, wie er es sich erhofft. Im Haushalt von Mr. Graham wird es Marys Aufgabe, sich um die herzkranke Frau des Pfarrers zu kümmern und den Haushalt zu organisieren. Gemeinsam mit der der Zugehfrau Edna arrangiert sie sich irgendwie, obwohl sie sich von Anfang an nicht wohl fühlt. Als nach kurzer Zeit im Dienst der Familie Graham die Pfarrersfrau verstirbt, entlässt Mr. Graham die zweite Angestellte, behält aber Mary bei sich. Und schon bald schrubbt sie nicht nur die Böden, poliert das Geschirr, kocht das Essen und wäscht die Sachen, sondern muss es auch ertragen, dass der gottesfürchtige Hausherr jeden Abend in ihr Zimmer kommt und sich zu ihr legt …


Meinung


Die englische Autorin Nell Leyshon thematisiert in ihrem zweiten Roman den Missbrauch Schutzbefohlener, in einer Zeit, in der Begriffe wie Recht und Unrecht nicht für alle Personen, nicht für alle Gesellschaftsschichten gleichermaßen verfügbar waren. In diesem Roman zeigt sie nicht nur, wie das alltägliche Leben auf einem ganz normalen Bauernhof aussah, sondern auch, welche Willkür den Menschen - den Kindern insbesondere - jeden Tag widerfahren ist. Dabei geht sie darauf ein, wie abgebrüht und objektiv die Heranwachsenden die Welt um sich herum wahrnehmen, ohne gegen die Umstände, in denen sie aufwachsen zu rebellieren. Denn es fehlt nicht nur an Alternativen, sondern im Wesentlichen auch an Bildung und Entwicklungschancen. Für die Protagonistin Mary entsteht dadurch ganz schnell und ohne ihr Einverständnis ein ungesundes Abhängigkeitsverhältnis. Denn egal, wie sehr sie auch Mr. Graham verachtet, er ist es, der ihr das Lesen und Schreiben beibringt und diese Möglichkeit erfüllt sie mit innerer Zufriedenheit, mit Stolz und einer Einzigartigkeit, die sie sich um alles in der Welt wünscht. Dafür erträgt sie lange, was sie nicht ändern kann und redet sich ein, dass ihr Aufenthalt im Hause Graham einem höheren Zweck dient.


Dennoch konnte mich dieser intensive Roman nicht vollends überzeugen. In erster Linie schreibe ich das der sehr einseitigen Erzählperspektive zu, die darüber hinaus so schlicht und einfach gehalten ist, wie es sich wohl für ein Bauernmädchen des 19. Jahrhunderts gehört. Denn Mary selbst ist es, die den Leser durch ihre persönliche Geschichte führt und ihn alle Umstände aus erster Hand kennenlernen lässt. Ich hätte mir an dieser Stelle mehr Vielfalt und andere Erzählstimmen gewünscht, weil dadurch vielleicht eine andere Intension entstanden wäre. Gerade die Beweggründe des Mr. Graham bleiben irgendwo zwischen Einsamkeit, Schuldgefühlen und Lebensaufgabe hängen, so dass an dieser Stelle einiges an Interpretatiosspielraum bleibt. Auch die Hauptprotagonistin erscheint mir stellenweise sehr abgebrüht und durch nichts zu schockieren, allerdings weiß ich nicht, ob das an ihren Lebensumständen oder ihrem Charakter selbst liegt.


Fazit


Ich vergebe 3,5 Lesesterne (aufgerundet 4) für diesen eindringlichen, doch ungewöhnlichen Roman, der mit einer klar umrissenen Handlung und einer dominanten Erzählfigur aufwartet und den Leser mit hinein ins Jahr 1831 nimmt und ihm zeigt, wie sich der Alltag einer ungebildeten, ausgebeuteten jugendlichen Arbeitskraft anfühlte. Weder stilistisch noch emotional konnte mich der Text wirklich fesseln, er liest sich gut und schnell, auch eine gewisse Grundspannung kann man ihm nicht absprechen, doch es fehlt einfach das gewisse Etwas, so dass ich hier zur Ansicht gelangt bin, dass sich nicht viel Allgemeingültigkeit, nicht viele Denkansätze nach der Lektüre aufbauen und das ich eine Bewertung des Inhalts unter den heutigen gesellschaftstauglichen Gesichtspunkten nicht vornehmen kann, sie würden Mary und ihrer Lebensgeschichte nicht gerecht werden.

Veröffentlicht am 25.05.2018

Die Zeit, die keine gute war

Der Gott jenes Sommers
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„Frei und mittig sitzen wir unter dem Himmelsrund, und mag der Gott dieses Sommers unsere Nähe auch verschmähen – kann er sich denn weiter entfernen, als der Gedanke, der ihm gilt? Haben wir nicht alles ...

„Frei und mittig sitzen wir unter dem Himmelsrund, und mag der Gott dieses Sommers unsere Nähe auch verschmähen – kann er sich denn weiter entfernen, als der Gedanke, der ihm gilt? Haben wir nicht alles dem Menschen Mögliche versucht?“


Inhalt


Die 12-jährige Luisa erlebt die letzten Ausläufer des 2. Weltkrieges in ihrer Kindheit, ohne genau benennen zu können, was um sie herum vor sich geht. Zwar kommt sie durchaus mit den Kriegsopfern in Kontakt, sieht Leid und Elend, erlebt die Flüchtlingsströme und die verzweifelten Versuche des Regimes, den Krieg noch zu gewinnen, doch bleibt ihr das Verständnis, wozu dies alles geschieht verborgen. Was sie stattdessen erlebt, ist ein Elternhaus, in dem es wenig Gefühle gibt, eine große Schwester, die sich jedem Mann an den Hals wirft, nur um sich zu betäuben und zu spüren, dass sie lebt und einen Vater, der nur noch Gast im eigenen Hause ist. So schwärmt sie lieber für den Melker Walther, bis dieser dann einberufen wird und als ihre Schwester verschwindet und sie auf der Geburtstagsfeier ihres Schwagers mit der Willkür eines Mannes in Berührung kommt, zieht sie sich mental immer weiter aus der Welt zurück.


Meinung


Ralf Rothmann greift in diesem Roman die letzten Tage des Krieges auf, und begibt sich mit der Hauptprotagonistin Luisa auf eine Spurensuche hinein in die kindliche Vorstellungskraft von Recht und Unrecht. „Der Gott jenes Sommers“ reiht sich damit ein in die Reihe der Kriegsromane, die aus dem alltäglichen Erleben der Zivilbevölkerung erzählen und damit die Auswirkungen eines kriegsgebeutelten Landes in der Gegenwart spürbar machen. Und was anfangs noch eine interessante Kombination zwischen dem persönlichen Leben eines Mädchens und den historischen Entwicklungen scheint, bleibt leider im Folgenden etwas stecken, verharrt sozusagen auf der Stelle und verliert mit den profanen Geschehnissen doch etwas an Überzeugungskraft.


Mein Hauptkritikpunkt liegt dabei auf einer gewissen Distanziertheit, die immer mehr zunimmt. Denn obwohl Luisa als Ich-Erzählerin auftritt, gelingt es ihr nicht, den Leser direkt für sich einzunehmen, man fühlt sich beim Lesen immer wie ein Außenstehender, der zwar beobachtet, erkennt und Zusammenhänge begreift, diese aber nicht in Verbindung mit Emotionen und der Gedankenwelt der Erzählerin in Einklang bringen kann. Die Intensität des Geschriebenen wirkt vielmehr über die Sachebene, über das intensive Beschreiben einer Situation, über die detaillierten Einblicke in zwischenmenschliche Beziehungen, die jedoch mehr auf Fakten, denn auf Gefühlen basieren. Gerade für einen Roman, der sich auf kindlicher Ebene abspielt, hätte ich mir eine Palette an Emotionen gewünscht, angefangen von Wut über Trotz, meinetwegen auch Unsicherheit und Trauer – doch Luisa wirkt abgestumpft, blasser als gehofft und selbst ihre Naivität kauft man ihr nicht so recht ab.


Positiv hervorheben möchte ich die Auseinandersetzung mit dem Kriegsgeschehen, denn dieser Teil lebt durch Schilderungen, durch detaillierte Bilder, mit einer Wucht und Konsequenz, die den Leser erbarmungslos daran erinnert, wie das wirkliche Leben damals aussah und wie durchschlagend das nationalsozialistische Gedankengut einst war und welch fatale Auswirkungen der Krieg mit sich brachte. Immer, wenn sich die Erzählung in Richtung Hintergrundhandlung bewegte, konnte sie mich ausgesprochen überzeugen. Mit leichten Pinselstrichen zeichnet der Autor ein Bild der Verwüstung, brennende Städte, Schutt und Asche, Leichenberge und wandelnde Skelette, die in den Trümmern ihre verlorene Vergangenheit suchen. Der Schreibstil ist durchaus anspruchsvoll und erfordert Konzentration, er bleibt sachlich-neutral und vermag es trotzdem, genau die richtigen Punkte zu berühren.


Fazit


Ich vergebe 3,5 Lesesterne (aufgerundet 4) für diesen schonungslosen, sachlichen, stillen Kriegsroman, der zwar das Leben thematisiert aber dennoch viel mehr vom Verlust der Unbeschwertheit berichtet als vermutet. Was er nicht so recht schafft, ist das Verständnis für die Menschen, die hier agieren, sie bleiben irgendwo auf der Strecke, verloren an ihre Zeit, die keine gute war. Was er vermag, ist die Schilderung einer Zeit, der man nur mit stoischer Ruhe entgegenwirken konnte und in der Hoffnung verborgen und nur schwer zugänglich zu entdecken war. Wer einen eher sachlichen Blick auf das Leben der Menschen zum Kriegsende werfen möchte, ist hier richtig. Wer Gefühle sucht, wird hier langfristig etwas vermissen. Da dies mein erstes Buch des Autors war, der bereits mit seinen vorhergehenden Romanen für Schlagzeilen sorgte, möchte ich gerne noch ein weiteres Buch lesen, die Kritiken sind durchaus positiv, vielleicht konnte mich dieser Text nicht ganz erreichen, weil ich mir etwas anderes davon versprochen hatte. Lesenswert ist er aber dennoch.

Veröffentlicht am 24.04.2018

Erinnern, Erzählen, Ertragen

Was nie geschehen ist
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„Die Grenzen zwischen Wahrheit und Fiktion setzen wir selbst, und je besser wir unsere Fiktion im Griff haben, desto besser haben wir auch unsere Realität im Griff.“


Inhalt


Drei Generationen, drei ...

„Die Grenzen zwischen Wahrheit und Fiktion setzen wir selbst, und je besser wir unsere Fiktion im Griff haben, desto besser haben wir auch unsere Realität im Griff.“


Inhalt


Drei Generationen, drei Leben, drei Frauen. Verbunden durch eine gemeinsame Familiengeschichte, begibt sich Nadja Spiegelman auf eine Reise ins vergangene Leben ihrer Mutter und Großmutter. Eine Art Spurensuche, die sich damit auseinandersetzt, wie Erinnerungen auf Menschen wirken, wie unterschiedlich der gleiche Sachverhalt wahrgenommen werden kann und welche Folgen sich für das Selbstbild des Einzelnen daraus ergeben. Dabei versucht Nadja, nicht nur zu erklären, warum sie selbst sich oft nicht „gut genug“ gefühlt hat, sondern auch, warum ihre Mutter eine so disziplinierte aber kühle Frau ist und warum selbst die Großmutter Josée nichts von einer liebevollen, gütigen, älteren Frau in sich trägt. Dabei schwankt sie zwischen Traurigkeit und Akzeptanz, versöhnt mit wenigen glorreichen Momenten, mit Nähe, die durch intensive Gespräche im Erwachsenenalter einhergeht, deren Wurzeln für Unverständnis aber weit in die Kindheit hinein reichen.


Meinung


Dieser Debütroman der jungen Autorin Nadja Spiegelman, die selbst eine tragende Rolle in diesem Buch bekommt, zeichnet auf teilweise erschreckende Art und Weise ihr Leben als Tochter der New Yorker Kunstredakteurin Françoise Mouly und des berühmten Cartoonisten Art Spiegelman nach. Wobei sie nicht nur viele Details aufleben lässt, nein sie nimmt die Wesensart ihrer Mutter, später auch die ihrer Großmutter unter die Lupe und zerpflückt deren Charakter in allerhand kleine Puzzleteilchen, die erst in ihrer Gesamtheit das komplette Bild der Frauen ergeben. Dabei begreift der Leser vor allem eines: so genau, so umfassend, kann man analysieren, ohne nachtragend zu beschuldigen aber auch ohne echte Liebe zu empfinden.


Ich bin hier etwas zwiegespalten, denn für mich ist der vorliegende Roman ein absolut persönliches, individuelles Werk, welches durchaus innerhalb der Familie bleiben sollte, weil das Erzählte so bitter und vielschichtig wirkt, dass ich das Gefühl hatte, die Geschichte bringt möglicherweise die handelnden Personen einander näher, doch für mich als unbeteiligten Dritten ist sie eine traurige Lebens- und Liebesgeschichte zwischen den drei Frauen, die sich vielmals untereinander nicht verstehen, die sich lieben, ohne es zu vermitteln und die ein ganz diffuses Mutter-Tochter-Beziehungsgeflecht reflektieren, in dem ich keine konkrete Aussage festmachen kann.


Besonders störend beim Lesen empfand ich die zahlreichen Wechsel zwischen den Protagonisten. Denn obwohl Nadja ganz klar in die Rolle der Erzählerin schlüpft, wechselt doch die Person immer wieder sprunghaft und nicht klar ersichtlich. Selbst, wenn es streckenweise um Françoise geht, taucht plötzlich Josée auf, nur um dann wieder Parallelen zu Nadja zu ziehen. Immer musste ich ein paar Sätze lesen, um überhaupt wahrzunehmen, wer jetzt gerade über wen redet und in welchem Zusammenhang, mit welcher weitreichenden Bedeutung. Diese Art der Schriftführung ist definitiv nicht meins, so dass auch die Kapiteleinteilungen des Buches mehr oder weniger überflüssig waren.


Positiv beurteilen möchte ich aber die Mühe, die Intensität, die in jedem Satz steckt, die so generalistisch wie abstrakt wirkt und die mich hier eigentlich bei der Stange gehalten hat. Denn es werden fatalistische Dinge, wie Selbstmordversuche, Essstörungen, Depressionen und Verzweiflungstaten preisgegeben, die gerade, wenn es öffentlich gemacht wird, eine Menge Mut und absolutes Vertrauen erfordern – darin das Beziehungen nicht auf ein vorgefertigtes Maß reduzierbar sind, sondern sich wandeln können und erst im Angesicht der Wahrheit, auf allen Seiten eine neue Dimension einnehmen können. Deshalb empfinde ich diesen Roman weniger als eine Abrechnung mit der Vergangenheit und trügerischen Erinnerungen als vielmehr eine Möglichkeit, das schwer greifbare, zwischenmenschliche Interaktionsniveau wahrzunehmen und weiterzugeben. Auch der Aspekt, die Überlegung, wie wenig man normalerweise über solche Dinge nachdenkt, wie seicht und einfach Beziehungen sein können und wie aufwühlend solche, in denen eigentlich immer das Entscheidende fehlt.


Fazit


Ich vergebe 3,5 Lesesterne, die ich zu 4 aufrunden möchte für diesen äußerst individuellen, biografischen Roman, der mich oft verstört hat und ganz und gar nüchtern auf das Geschehen hat blicken lassen. Was ihm für meinen Geschmack fehlt, ist etwas Greifbares, eine Substanz, die über die Romanfiguren hinauswächst, die beim Leser in Erinnerung bleiben wird – was er hat ist eine individuelle Sichtweise, eine schonungslose Offenbarungsfreude und ein ehrlicher Blick auf menschliche Verfehlungen. Was er aufwirft, ist das Bedürfnis intensiver über die Beweggründe der allernächsten Verwandten nachzudenken und zu zeigen, wie wichtig es ist, sich in Gedanken und Gesprächen nahe zu sein, damit das Verständnis füreinander erhalten bleibt.