„...Vor langer Zeit hatte ich den Schlüssel zu meinem Innersten ins tiefe Meer geworfen und war sicher, ihn nie wiederfinden zu wollen. Doch nun saß ich einem Mann gegenüber, der ihn mir wie durch Zauberhand vor die Nase hielt...“
Karl Rosenbaum ist 74 Jahre alt, als er sein Geschäft in jüngere Hände legt. Er ist Goldschmied und Uhrmacher und ihm fehlt nun die Ruhe der Hände. Der Beruf war sein Lebensinhalt.
Zehn Jahre lang wohnt er danach weiter in einem Haus, ohne die Bewohner näher zu kennen oder sich mit ihnen zu unterhalten. Er hat sich in seiner Einsamkeit eingerichtet, hört klassische Musik, liest viel und besucht regelmäßig das Theater.
Bei einer der Theatervorstellungen spricht ihn ein junger Mann an. Stefan Koczinski stellt sich ihm vor, sagt ihm, dass er sich freut, ihn wiederzusehen, und dass er ihn von seinem Platz aus gesehen hat. Bei Karl bricht Panik aus. Er fühlt sich beobachtet, kann sich nicht mehr auf das Stück konzentrieren und erleidet einen Zusammenbruch.
Der Autor hat einen beeindruckenden Roman geschrieben. Die Geschichte wird aus der Sicht des Karl Rosenbaum erzählt. Das Buch hat mich schnell in seinen Bann gezogen. Das lag auch an der permanent enthaltenen inneren Spannung der Geschichte.
Die Protagonisten werden gut charakterisiert. Karl will seine Ruhe. Warum, wird nur in kurzen Sequenzen angedeutet. Es sind die Verluste seiner Vergangenheit, die ihm ein bleibendes Schuldbewusstsein eingegeben haben. Erst am Schluss der Geschichte erfahre ich, was wirklich passiert ist.
Stefan ist für mich über eine lange Strecke genauso ein Rätsel wie für Karl. Er setzt sich gegen die Ablehnung zur Wehr, drängt sich regelrecht auf, Scheint immer dann Präsent zu sein, wenn Karl Probleme hat, bittet um Vertrauen, lässt aber nicht erkennen, was ihn wirklich antreibt. Seine unterschwellig forsche Art wird ab und an durch seine Reaktion widerlegt, wie das folgende Zitat zeigt:
„...Sein strahlender Blick war erloschen. Er war erschrocken wie ich und genauso enttäuscht, wie ich es war...“
Das Buch zeichnet sich durch einen gehobenen Schriftstil aus. Das zeigt schon das Eingangszitat. Die Geschichte wirkt ernst. Eine gewisse Leichtigkeit klingt ein einziges Mal durch, als sich Karl seiner ungewollten Retterin bei der Wanderung im Elbsandsteingebirge öffnet.
Sehr gut wiedergegeben wird die innerer Zerrissenheit von Karl. Einerseits will er von Stefan nichts wissen, andererseits interessiert ihn der junge Mann. Mit seinen Worten stößt er ihn häufig vor den Kopf, seine Taten aber sprechen eine andere Sprache. Stefan hat eine Seite in Karl berührt, die er tief verschüttet glaubte. Als besonderes Stilmittel wird dieser Gegensatz durch seine innere Stimme zum Ausdruck gebracht. Sie sit kursiv hervorgehoben.
Musik, Literatur und Kunst werden gekonnt in die Handlung integriert. Einst hatte Karl vom Beruf des Schauspielers geträumt, doch das Leben hat ihn auf eine harte Schule geschickt.
„...Kriege nehmen einen alles, was sich auch nur als Hauch eines Traums anfühlt. Hoffnungen werden zerschlagen wie ein Stück Glas unter einem fallenden Betonklotz. Und die Scherben werden immer irgendwo herumliegen...“
In den Zeiten, wo sich Karl auf Stefan einlässt, kommt es zu tiefgründigen Gesprächen. Stefans Analyse von Shakespeare und sein Vergleich zwischen Theater und Wirklichkeit hat fast philosophischen Charakter.
„...Der Mensch ist sonderbar. Er macht alles so furchtbar kompliziert, spricht in Rätseln, spielt Spielchen, nur, weil er Angst hat zu verlieren...“
Auch Stefan spielt. Noch hat er nicht, das er dabei in Gefahr ist, den Menschen zu verlieren, der ihm am meisten bedeutet. Das ist übrigens nicht Karl.
Die Bekanntschaft mit Stefan scheint eine Tür zu öffnen. Plötzlich interessieren sich auch Hausbewohner für Karl. Doch seine Tür bleibt lange geschlossen. Er weiß um seine Fehler, kann aber nicht über seinen Schatten springen. Immer erneut klingt die Angst an, dass alte Wunden geöffnet werden. Und doch setzt behutsam eine Veränderung ein.
Das Buch hat mir ausgezeichnet gefallen. Es geht um Schuld und Vergebung, um Lebensläufe, die in einer harten Zeit geprägt wurden, und um Spuren, die tief in der Seele zu finden sind.
Ich habe mir genau überlegt, welches Zitat meine Rezension abschließen soll, den ich habe mir mehrere aus dem Buch geschrieben. Entschieden habe ich mich für den folgenden Rat:
„...Achte auf die Kleinigkeiten um dich herum, denn sie sind dein Alltag, dein Leben. Sie entscheiden darüber, ob du glücklich und zufrieden sein kannst...“