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Veröffentlicht am 04.06.2018

Eine andere Sicht auf Syrien

"Weil die Hoffnung niemals stirbt"
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„...Wenn Sie mich fragen, wer ich bin, antworte ich Ihnen leidenschaftlich: Ich bin Syrerin. Ich bin Ordensschwester mit verletztem Herzen, einer unbezwingbaren Liebe zur Heimat und eine Botschaft der ...

„...Wenn Sie mich fragen, wer ich bin, antworte ich Ihnen leidenschaftlich: Ich bin Syrerin. Ich bin Ordensschwester mit verletztem Herzen, einer unbezwingbaren Liebe zur Heimat und eine Botschaft der Hoffnung, die ich mit Ihnen teilen möchte...“

Mit dem Eingangszitat hat sich Schwester Marie-Rose, die Autorin selbst charakterisiert. In ihrem Buch gewährt sie mir als Leserin einen Einblick in das heutige Syrien. Das ist aber nur die eine Seite. Sie zeigt mir auch, wie Syrien noch vor wenigen Jahren war.

„...Syrien gilt seit jeher als eine der historischen Heimaten des frühen Christentums. Vor dem syrischen Krieg 2011 betrug der Anteil der Christen an der Gesamtbevölkerung etwa 12 bis13 Prozent...Obwohl sie nur eine Minderheit waren, wurden sie nie als solche behandelt...“

Das Buch beginnt mit einem Vorwort von Dr. John Eibner. Er ist Leiter der CSI, einer christlichen Menschenrechtsorganisation, die die Arbeit des Konvents in der Küstenstadt Tartus unterstützt. Die Gegend ist weitgehend vom Krieg verschont geblieben. Dort finden Flüchtlinge eine Heimat, die Syrien nicht verlassen wollen oder können.
Nach einem Kapitel, in der die Autorin sich und ihre Arbeit vorstellt, kommen eine Reihe von Überlebensgeschichten. Die Erzählungen sind kurz und prägnant, beschränken sich auf das Wichtigste und sind in einem eher einfachen und sachlichen Schriftstil gehalten. Letzteres aber macht sie besonders eindringlich und bewegend.
Es geht um Verlust von Heimat und Angehörigen, um Schmerz und Trauer, aber auch um Mut zum Neuanfang und Überlebenswille. Die Geschichten erzählen vom Menschenhandel, Kindersoldaten und sexueller Vergewaltigung. Eines wird dabei deutlich. Die körperlichen Wunden können heilen. Für finanzielle Probleme ist der Konvent eine Anlaufstelle. Er bietet Hilfe, indem sich die Mitarbeiter unter anderen um Arbeit kümmert, die Kinderbetreuung organisiert und Unterricht anbietet. Die tiefen psychischen Wunden aber werden lange Zeit brauchen, um zu heilen, wenn es überhaupt geschieht.
Zwischen den Erlebnisberichten gibt es kurze Einblendungen zur syrischen Geschichte oder zum Erleben von Marie - Roses eigener Familie.
Deutlich wird, dass die Autorin ihre Kraft und ihren Mut aus ihrem tiefen Glauben nimmt. Mit politischen Bemerkungen hält sie sich weitgehend zurück. Nur unterschwellig ist eine leise Kritik vor allem an der westlichen Welt spürbar, denn viele der Gruppen, die mit Waffen und Logistik unterstützt werden, dulden in ihrem Einflussbereich danach keine christlichen Glaubensgemeinschaften mehr. Für die Christen beginnt dann die Zeit der Unterdrückung und Verfolgung.
Eine Zeittafel und die Karte Syriens vervollständigen das Buch.
Das Buch hat mir sehr gut gefallen. Es zeigt eine andere Sicht auf die syrischen Verhältnisse als die üblichen Massenmedien. Das Zitat einer 28jährigen syrischen Mutter von drei Kindern möge meine Rezension abschließen:

„...Wenn die Welt für uns hier zu klein wird, dann haben wir immer noch den Himmel – wir werden nicht verzweifeln...“

Veröffentlicht am 04.06.2018

Wenn alte Wunden schmerzen ...

Das stille Leben des Karl Rosenbaum
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„...Vor langer Zeit hatte ich den Schlüssel zu meinem Innersten ins tiefe Meer geworfen und war sicher, ihn nie wiederfinden zu wollen. Doch nun saß ich einem Mann gegenüber, der ihn mir wie durch Zauberhand ...

„...Vor langer Zeit hatte ich den Schlüssel zu meinem Innersten ins tiefe Meer geworfen und war sicher, ihn nie wiederfinden zu wollen. Doch nun saß ich einem Mann gegenüber, der ihn mir wie durch Zauberhand vor die Nase hielt...“

Karl Rosenbaum ist 74 Jahre alt, als er sein Geschäft in jüngere Hände legt. Er ist Goldschmied und Uhrmacher und ihm fehlt nun die Ruhe der Hände. Der Beruf war sein Lebensinhalt.
Zehn Jahre lang wohnt er danach weiter in einem Haus, ohne die Bewohner näher zu kennen oder sich mit ihnen zu unterhalten. Er hat sich in seiner Einsamkeit eingerichtet, hört klassische Musik, liest viel und besucht regelmäßig das Theater.
Bei einer der Theatervorstellungen spricht ihn ein junger Mann an. Stefan Koczinski stellt sich ihm vor, sagt ihm, dass er sich freut, ihn wiederzusehen, und dass er ihn von seinem Platz aus gesehen hat. Bei Karl bricht Panik aus. Er fühlt sich beobachtet, kann sich nicht mehr auf das Stück konzentrieren und erleidet einen Zusammenbruch.
Der Autor hat einen beeindruckenden Roman geschrieben. Die Geschichte wird aus der Sicht des Karl Rosenbaum erzählt. Das Buch hat mich schnell in seinen Bann gezogen. Das lag auch an der permanent enthaltenen inneren Spannung der Geschichte.
Die Protagonisten werden gut charakterisiert. Karl will seine Ruhe. Warum, wird nur in kurzen Sequenzen angedeutet. Es sind die Verluste seiner Vergangenheit, die ihm ein bleibendes Schuldbewusstsein eingegeben haben. Erst am Schluss der Geschichte erfahre ich, was wirklich passiert ist.
Stefan ist für mich über eine lange Strecke genauso ein Rätsel wie für Karl. Er setzt sich gegen die Ablehnung zur Wehr, drängt sich regelrecht auf, Scheint immer dann Präsent zu sein, wenn Karl Probleme hat, bittet um Vertrauen, lässt aber nicht erkennen, was ihn wirklich antreibt. Seine unterschwellig forsche Art wird ab und an durch seine Reaktion widerlegt, wie das folgende Zitat zeigt:

„...Sein strahlender Blick war erloschen. Er war erschrocken wie ich und genauso enttäuscht, wie ich es war...“

Das Buch zeichnet sich durch einen gehobenen Schriftstil aus. Das zeigt schon das Eingangszitat. Die Geschichte wirkt ernst. Eine gewisse Leichtigkeit klingt ein einziges Mal durch, als sich Karl seiner ungewollten Retterin bei der Wanderung im Elbsandsteingebirge öffnet.
Sehr gut wiedergegeben wird die innerer Zerrissenheit von Karl. Einerseits will er von Stefan nichts wissen, andererseits interessiert ihn der junge Mann. Mit seinen Worten stößt er ihn häufig vor den Kopf, seine Taten aber sprechen eine andere Sprache. Stefan hat eine Seite in Karl berührt, die er tief verschüttet glaubte. Als besonderes Stilmittel wird dieser Gegensatz durch seine innere Stimme zum Ausdruck gebracht. Sie sit kursiv hervorgehoben.
Musik, Literatur und Kunst werden gekonnt in die Handlung integriert. Einst hatte Karl vom Beruf des Schauspielers geträumt, doch das Leben hat ihn auf eine harte Schule geschickt.

„...Kriege nehmen einen alles, was sich auch nur als Hauch eines Traums anfühlt. Hoffnungen werden zerschlagen wie ein Stück Glas unter einem fallenden Betonklotz. Und die Scherben werden immer irgendwo herumliegen...“

In den Zeiten, wo sich Karl auf Stefan einlässt, kommt es zu tiefgründigen Gesprächen. Stefans Analyse von Shakespeare und sein Vergleich zwischen Theater und Wirklichkeit hat fast philosophischen Charakter.

„...Der Mensch ist sonderbar. Er macht alles so furchtbar kompliziert, spricht in Rätseln, spielt Spielchen, nur, weil er Angst hat zu verlieren...“

Auch Stefan spielt. Noch hat er nicht, das er dabei in Gefahr ist, den Menschen zu verlieren, der ihm am meisten bedeutet. Das ist übrigens nicht Karl.
Die Bekanntschaft mit Stefan scheint eine Tür zu öffnen. Plötzlich interessieren sich auch Hausbewohner für Karl. Doch seine Tür bleibt lange geschlossen. Er weiß um seine Fehler, kann aber nicht über seinen Schatten springen. Immer erneut klingt die Angst an, dass alte Wunden geöffnet werden. Und doch setzt behutsam eine Veränderung ein.
Das Buch hat mir ausgezeichnet gefallen. Es geht um Schuld und Vergebung, um Lebensläufe, die in einer harten Zeit geprägt wurden, und um Spuren, die tief in der Seele zu finden sind.
Ich habe mir genau überlegt, welches Zitat meine Rezension abschließen soll, den ich habe mir mehrere aus dem Buch geschrieben. Entschieden habe ich mich für den folgenden Rat:

„...Achte auf die Kleinigkeiten um dich herum, denn sie sind dein Alltag, dein Leben. Sie entscheiden darüber, ob du glücklich und zufrieden sein kannst...“

Veröffentlicht am 31.05.2018

Ein Schmetterlingskind greift ein

Höllgrotten
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„...Unter all den Machtkämpfen der Männer leiden die Frauen und Kinder am meisten. Gemäss Schätzungen der UNO werden bis heute allein in Ostkongo jährlich fünfzehntausend Frauen aufs Schlimmste vergewaltigt. ...

„...Unter all den Machtkämpfen der Männer leiden die Frauen und Kinder am meisten. Gemäss Schätzungen der UNO werden bis heute allein in Ostkongo jährlich fünfzehntausend Frauen aufs Schlimmste vergewaltigt. Für Kinderspielzeug gibt es kein Geld, für eine Kalaschnikow in Kinderhänden aber schon...“

Seit gut zwei Monaten ist Sara Chefin der Zuger Kriminalpolizei. Momentan steht sie unter der Lorzentobelbrücke. Zu ihren Füßen liegt eine junge schwarze Frau - tot. Sie hat keinerlei persönliche Sachen bei sich. Außerdem sind ihre Fingerkuppen abgeschliffen.
Die 23jährige Natalie ist ein Schmetterlingskind. Auf Grund eines Gendefekt führt jede falsche Berührung zu Hautschäden. Doch sie möchte ihren vielleicht kurzen Leben einen Sinn geben. Deshalb arbeitet sie als Umweltaktivistin und setzt sich über das Internet weltweit für benachteiligte Frauen ein. Sie lebt mit ihrem Vater, einem Arzt und Wissenschaftler, in einer Villa. Nach einem Einbruch stellen sie Tom als ihren persönlichen Bodyguard ein.
Die Autorin hat einen fesselnden und sehr feinfühligen Krimi geschrieben. Das Buch hat mich schnell in seinen Bann gezogen.
Die Obduktion ergibt, dass Emeline, die Tote, vor kurzem ein Kind geboren hat. Außerdem findet sich auf ihrem Zeh das Wort Kipekapeka. Das ist eine Hilfsorganisation. Dadurch stößt Sara auf Natalie.
Der Schriftstil lässt sich angenehm lesen und unterstützt die rasante Handlung. Nicht nur Sara, auch Natalie sorgen sich um das Baby. Natalie ahnt nicht, dass sie sich dabei in große Gefahr begibt.
Der Roman zeichnet sich durch mehrere Besonderheiten aus. Zum einen erfahre ich die Lebensgeschichte der meisten der Protagonisten. Jeder von ihnen hat sein Päckchen zu tragen. Zum zweiten wird die Geschichte des Kongo geschickt in die Handlung integriert. Das Eingangszitat bezieht sich darauf. Ein weiteres Zitat möge dies ergänzen:

„...Vor dreissig Jahren war die Region ein kleines Paradies gewesen...Dann kamen die Kriege, und aus dem Paradies wurde die Hölle. Der Westen schaute gern weg, solange er eines der rohstoffreichsten Länder der Welt zum eigenen Vorteil ausschlachten konnte...“

Die dritte Besonderheit ist die in kursiv abgedruckte Lebensgeschichte von Emeline. Sie wird von der jungen Frau selbst erzählt.
Bei ihren Nachforschungen bekommt Sara immer wieder gesagt, dass Emeline eine starke und stolze Frau war. Sie wusste, was sie wollte – eine Chance für ihr Kind! Dafür war sie durch die Hölle gegangen.
Mit Sara selbst habe ich so meine Probleme – und da bin ich nicht die einzige. Mag sein, dass Natalie ihr nicht die Wahrheit gesagt hat, doch wie sie die junge schwerkranke Frau behandelt zeugt von fehlendem Mitgefühl. Einige der Protagonisten geben ihr das auch deutlich zu verstehen. Ein Lichtblick im Team der Ermittler ist Staatsanwalt Lind. Mit seinem heiteren Gemüt versteht er es, manch Harte abzumildern.
Natürlich ist es für Sara nicht einfach, herauszufinden, wer die Wahrheit sagt, und wie komplex die Zusammenhänge in der Geschichte sind. Leider glaubt sie aber gern den Falschen.
Sehr gut werden die landschaftlichen Besonderheiten beschrieben. Das betrifft insbesonder die Schönheiten der Höllgrotten.
Doch auch an anderen Stellen arbeitet die Autorin gekonnt mit Metaphern. So hält sich Natalie gern in ihrem Schmetterlingshaus auf. Die Berührung der filigranen Falter tut ihrer Haut gut, weil sie ihr nicht schadet.
Hintergrund der Geschichte sind Diamantenschmuggel, Rohstoffhandel, Spielschulden und brutale Erpressung.
Das Buch hat mir ausgezeichnet gefallen. Es verknüpft brisante politische Themen mit ganz persönlichen Schicksalen.

Veröffentlicht am 29.05.2018

Sophies Neuanfang - klasse Geschichte

Das kleine Café an der Mühle
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„...Steh auf der Bühne des Lebens und plaudere über deine Pläne, dann kannst du hinten im Saal das Schicksal lachend vom Stuhl fallen hören...“

Sophie von Metten hat Geografie studiert. Sie lebt in Hamburg ...

„...Steh auf der Bühne des Lebens und plaudere über deine Pläne, dann kannst du hinten im Saal das Schicksal lachend vom Stuhl fallen hören...“

Sophie von Metten hat Geografie studiert. Sie lebt in Hamburg und hält sich mit mehreren Jobs über Wasser. Ab und an schreibt sie Artikel für eine Zeitschrift, außerdem hat sie einen Reiseführer veröffentlicht, der sich allerdings schlecht verkauft, und dann bedient sie im Captain Claas. Da reißt sie ein Brief sprichwörtlich von den Füßen. Ihre geliebte Tante Dotti ist ganz plötzlich verstorben. Sie war Sophies einzig noch lebende Verwandte. In dem Brief des Anwalts wird sie um ein Treffen gebeten. Der sagt ihr, dass sie das Mühlencafè und das dazugehörende Land im Moselort Wümmerscheid-Sollensbach geerbt hat. Allerdings ist die Erbschaft an eine Bedingung gebunden. Sie muss das im Haus befindliche Cafè wenigstens fünf Jahre weiter führen.
Die Autorin hat eine amüsante Gegenwartsgeschichte geschrieben. Der lockerleichte Schriftstil lässt sich angenehm lesen.
Auf Sophie warten eine Menge an Überraschungen. Schon bei der Ankunft im strömenden Regen landet sie im Graben und ist froh, dass ihr Peter Langen, ein Nachbar, zur Hilfe kommt. Das nächste Problem liegt im Dorf selbst. Wümmerscheid und Sollensbach sind nur dem Namen nach eine Einheit. Die Einwohner sind allerdings auf Konfrontation aus. Sophies Erbe liegt im Niemandsland, genau zwischen beiden Ortsteilen.
Gut arbeitet die Autorin heraus, dass sich Sophie ihre Entscheidung für das Cafè nicht einfach macht. Die Kulturstadt Hamburg gegen die dörfliche Idylle zu tauschen, will überlegt sein . Natürlich tritt Sophie beim Besuch der Ortsteile in manch Fettnäpfchen. Doch sie kann sich auf die tatkräftige Hilfe ihrer Freundin Miri beim Umbau verlassen und bekommt durch Peter Kontakt zu Henrys Trödelreich. Henry ist nur ein Unikum in der Geschichte. Die Autorin serviert mir weitere in Form des aufmerksamen, aber knurrigen Nachbarn Erich und einer Pokerrunde aus drei Damen, mit denen Dotti bestens befreundet war. Leider wollte Dotti alles allein machen. Deshalb hat sie auch Sophie bei ihren besuchen in Hamburg viele Details ihres Lebens an der Mosel verschwiegen.
Sophie begreift schnell, dass sie nur dann eine Chance auf einen Neubeginn hat, wenn sie Hilfe annimmt. Als sich ihre Sorgen zuspitzen, läuft die Pokerrunde zu großer Form auf.
Die Geschichte steckt voller Humor. Ich denke dabei unter anderen an die besondere Predigt des Pastors oder die Hochzeitsfeier mit ihren vielen ungeplanten Unwägbarkeiten.
In einer kritischen Situation fasst Miri ihre Gedanken kurz und prägnant zusammen:

„...Männer und Nachdenken: Alle in einen Sack stecken und draufhauen, da triffst du garantiert den Richtigen!...“

Nur eines sucht Sophie vergebens. Die Besucher des Cafès schwärmen von den Kaffeküssen der Tante. Nirgendwo aber ist das Rezept. Und jeder Gast, den sie fragt, beschreibt sie anders.
Die Geschichte hat mich ausgezeichnet unterhalten. Ich habe mit Sophie gebangt und gehofft.

Veröffentlicht am 27.05.2018

Wien anno 1918

Schönbrunner Finale
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„...Nechybas Magen brummte. Er sah verzweifelt auf seinen immer kleiner werdenden Bauch, seufzte voll Resignation, griff zum Löffel und begann mit Todesverachtung die Bohnen mit Paradeis in sich hineinzuschaufeln...“

Wir ...

„...Nechybas Magen brummte. Er sah verzweifelt auf seinen immer kleiner werdenden Bauch, seufzte voll Resignation, griff zum Löffel und begann mit Todesverachtung die Bohnen mit Paradeis in sich hineinzuschaufeln...“

Wir schreiben das Jahr 1918. Seit vier Jahren tobt der Krieg in Europa. Goldblatt, Journalist im Kriegspressequartier, und Oberinspector Nechyba treffen sich im Cafè Sperl. Gesprächsthema ist die letzte Pressemitteilung des amerikanischen Präsidenten. Sie enthält brisanten Zündstoff, denn seine Umsetzung wäre das Ende des Vielvölkerstaates Österreich-Ungarn.
Doch auf Nechyba kommt ein ganz anders Problem zu. Sein Frau Aurelia möchte, dass er sich persönlich um die Aufklärung des Mordes an den Planetenverkäufer Stanislaus Gotthelf kümmert. Und was Aurelia will kann er nicht ignorieren.
Der Autor hat einen spannenden historischen Krimi geschrieben. Zwar ist mir der Herr Oberinspector Nechyba schon aus anderen Bänden bekannt, aber das Buch ließe sich auch ohne diese Kenntnisse lesen, denn Veränderungen und Neuerungen mag er eher nicht, wie das folgende Zitat zeigt:

„...Wenn er irgendetwas in der Welt ändern könnte, dann würde er zuerst das Telefon abschaffen. Diese Telefonie war eine Krankheit, die sich immer weiter ausbreitete...“

Wohlgemerkt, wir schreiben das Jahr 1918!
Der Schriftstil ist den Zeitverhältnissen angepasst. Typisch Wienerische Begriffe werden in Fußnoten sofort erläutert. Die Gespräche finden zumeist im Wiener Dialekt statt.
Sehr detailliert wird die Lage in Österreich im vierten Kriegsjahr dargestellt. Die wirtschaftliche Situation ist katastrophal .Zunehmende Streiks der Arbeiter sind verständlich, denn die Dinge, die es auf Lebensmittelmarken gibt, werden aber weniger. Hinzu kommt, dass in die Stadt immer wieder Deserteure von der Front kommen. Beispielgebend dafür sind Husak und Zach. Während Husak davon träumt, bald in sein geliebtes Prag zurückkehren zu können und die erste Schwarzarbeit annimmt, die ihm angeboten wird, dominiert bei Zach die Wut auf das Kaiserreich. Er gleitet schnell ins kriminelle Milieu ab. Hunger und Not lassen schnell die Moral sinken.
Selbst Nechyba muss auf seinen geliebten Bohnenkaffee verzichtet. Der ist nicht einmal für viel Geld und gute Worte zu bekommen. Nicht begeistert ist er, als ihm Aurelia das erste Mal notgedrungen ein vegetarisches Gericht vorsetzt, wie das Eingangszitat zeigt. Doch Nechyba wäre nicht Nechyba, wenn ihm nichts einfallen würde. Der Wunsch von Schmerda, Aurelias Dienstherren, könnte auch für ihn positive Auswirkungen haben. Und für viel Geld und ein „wenig“ gute Worte findet der Schleichhändler Kaminsky jedes Fleischstück, das gewünscht wird.
Als besonderes Stilmittel beginnt jeder der vier Teile mit einem Zitat aus der damaligen Zeit. Auch im eigentlichen Handlungsablauf werden wiederholt Zeitungsartikel wiedergegeben. Dadurch erhalte ich einen Einblick in die politische Lage, die zum Ende der österreichischen Monarchie führen wird.
Allerdings wird auch deutlich, dass die einzelnen politischen Kräfte zwar alle auf ein Abdanken des Kaisers hinarbeiten, aber mit unterschiedlicher Einstellung. Die reicht von moderat bis radikal.
Trotz erster Erfolge im Kampf gegen die Streiks bringt Nechyba die Lage exakt auf den Punkt:

„...Wenn sich die allgemeine Verpflegungssituation nicht bessert, sehe ich schwarz...Weil ein knurrender Magen ist wie ein bissiger Hund...“

Zu den besonderen Feinheiten des Schriftstils gehören die abwechslungsreichen Gespräche, die häufig einen Einblick in den Charakter und die Ansichten der Protagonisten geben.
Ein ausführliches Glossar der Wiener Ausdrücke und ein Quellenverzeichnis ergänzen das Buch.
Die Geschichte hat mir sehr gut gefallen.