„Keiner schaut gnädig herab auf unseren Zug, aber auf uns herabschauen tun sie schon.“
Befasst man sich mit der Dramenlandschaft Deutschlands nach 1945, so stößt man dabei fast unumgänglich auf die Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek, die in ihren Werken gesellschaftliche Missstände ...
Befasst man sich mit der Dramenlandschaft Deutschlands nach 1945, so stößt man dabei fast unumgänglich auf die Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek, die in ihren Werken gesellschaftliche Missstände aller Art thematisiert und anprangert. Ihr politisch hochaktuelles Stück Die Schutzbefohlenen (2013) ist ein Beitrag zur Flüchtlingspolitik und eine aufrüttelnde Auseinandersetzung mit deren Folgen, denn Jelinek nimmt hier nicht die Sicht der Politik ein, wie es nur allzu oft getan wird, sondern lässt die Flüchtlinge selbst zu Wort kommen und verschafft ihnen Gehör in einer Gesellschaft, die Leid sonst nur im Fernsehen sieht.
Das Stück hat zunächst wenig mit einem klassischen Theaterstück gemeinsam. Man sucht hier vergeblich nach Akten, einer Handlung oder unterschiedlichen Personen. Es handelt sich um ein postdramatisches Sprechstück, dessen Fokus auf der Rhythmik der Sprache und der Umsetzung auf der Bühne liegt. Gegliedert ist es in 27 kürzere Abschnitte, in denen die Flüchtlinge ihre hoffnungslose und verzweifelte Situation in all ihren Facetten schildern. Da sind zum einen die Trauer um die im Heimatland ermordeten Familien, die Angst um das eigene Überleben und das Gefühl der Fremde, dem im Aufnahmeland andererseits nichts als Hass, Ignoranz und Gleichgültigkeit entgegengebracht wird. Die eigene Kultur und der Glaube wird dem Überleben im fremden Land geopfert. Die neue Religion ist die Bürokratie, der neue Gott der Präsident des Aufnahmelandes. Er wird angebetet, zu ihm wird gefleht, doch barmherzig oder gütig scheint er nicht zu sein, dieser neue Gott.
Der fortwährende Fragemodus und die raffinierten Wortspiele, die zunächst ganz unscheinbar und teils fast humoristisch daherkommen, zeugen doch von einer ungeheuren Sprachgewalt und verweisen auf die Undurchsichtigkeit und Verworrenheit des Bürokratie- und besonders auch des Sozial-Gesellschaftssystems. Das Stück wird auf diese Weise schwer lesbar und es ist daher auch unbedingt zu empfehlen, es sich gesprochen bzw. direkt auf der Bühne aufgeführt anzusehen. Doch schwer lesbar wird es nicht nur aufgrund seiner Sprache. Was es schwer ertragbar macht, ist die schiere Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit der Flüchtlinge sowie die absolute Ignoranz all jener, die helfen könnten. Mit Sicherheit war genau das Jelineks Absicht: Es ist ein Stück, das uns wachrütteln soll und uns aus der Passivität und Abwehrhaltung, die sich nur die wenigsten einzugestehen wagen, herausholen soll. Es ist nicht nur ein Plädoyer für Toleranz, die immer nur eine vorübergehende Lösung sein kann, sondern vor allem auch für Anerkennung und die Gleichwertigkeit aller Menschen.
Zu diesem Stück ließe sich trotz seiner Kürze sicher noch einiges sagen, müsste sicher auch noch einiges gesagt werden, doch das ist nicht die Intention des Stückes: Wir müssen etwas tun!
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