Die Seele säubern
Nichts als die Nacht
„Wer könnte das schon, die Seele säubern?“ Diese rhetorische Frage stellt wohl den thematischen Kern der knapp 160-seitigen Novelle Nichts als die Nacht von John Williams dar. Arthur Marxley, der Protagonist, ...
„Wer könnte das schon, die Seele säubern?“ Diese rhetorische Frage stellt wohl den thematischen Kern der knapp 160-seitigen Novelle Nichts als die Nacht von John Williams dar. Arthur Marxley, der Protagonist, versucht seine Seele durch Verdrängung rein zu waschen von den Erinnerungen seiner Vergangenheit, von Scham, Ekel und Schmerz. Er merkt dabei nicht, wie er geradewegs auf seinen Untergang zusteuert, denn wie die Rhetorik der Phrase schon vermuten lässt, kann niemand seine Erinnerungen vergessen – besonders nicht, wenn man sich wie Marxley permanent zum Vergessen zwingen muss, das genau in diesem Moment zum bewussten Erinnern wird. Es ist die Erzählung über einen jungen Mann, der durch den traumatischen Selbstmord der Mutter zum einsamen, depressiven und ruhelos Umherirrenden wird und dessen Wiedersehen mit seinem Vater zum Schlüsselerlebnis für das unabwendbare Erinnern wird, an dessen Ende schließlich die Katastrophe steht.
Die Seele von Erinnerungen rein waschen – das schien auch John Williams gewollt zu haben, als er die Novelle 1948 nach einem Flugzeugabsturz während des zweiten Weltkriegs mitten im burmesischen Dschungel schrieb. Erst posthum erlangte er durch seinen Roman Stoner, der zum Welterfolg wurde, Berühmtheit und zählt heute zu einem der wichtigsten Autoren der Klassischen Moderne Amerikas. 2017 erschien seine Novelle Nichts als die Nacht auf Deutsch und zu Recht wird dieses Werk von Simon Strauß als „das Buch eines jungen Wilden“ beschrieben, „der wütet, weil er sein Inneres nicht nach außen bringen kann.“
Wüten- das tut Williams wirklich, wenn er in Schachtelsätzen, die in ihrer Kommaanzahl an die Sätze Thomas Manns erinnern, das Chaos und die Verworrenheit des Innenlebens Marxleys darzustellen versucht. Doch es funktioniert: Während Marxley durch die Nacht zu einer aufwühlenden Begegnung mit seinem Vater irrt, schafft Williams es, nach und nach, die so lange unterdrückten Erinnerungen an die traumatischen familiären Vorkommnisse, die für Marxley erst ganz zum Schluss überhaupt aussprechbar werden, aus dem Bewusstseinsnebel des Protagonisten aufsteigen zu lassen. Überhaupt wird mittels Synatx viel über die inneren Befindlichkeiten Marxleys gesagt: Die zahlreichen Passivkonstruktionen zeigen zum Beispiel an, dass der junge Protagonist durch die Nacht getrieben, gestoßen und mitgezogen wird: Von Scham, von Ekel vor der Welt und besonders von den Erinnerungen, die er verdrängt zu glauben hat, die aber immer unbewusst sein gesamtes Handeln bestimmen und am Ende doch gewaltsam, unkontrollierbar ausbrechen.
Die Einsamkeit, die ebenso allumfassend zu sein scheint wie die Erinnerung, wird zur von Sylvia Plath beschriebenen „Glasglocke“, die sich über Marxley legt und ihn vom Rest der Welt, die er detailversessen und obsessiv beobachtet, trennt. Er kann nicht mehr teilhaben an dieser Welt, in der er fortwährend „von einer unsagbaren Kraft“ hin und her getrieben wird und beschreibt schließlich, es sei die schlimmste Art von Einsamkeit, alle Menschen in einem überfüllten Raum miteinander aber nie mit ihm reden zu hören. Geschickt gelingt es Williams zudem, die Menschen im Umfeld des Protagonisten als Objekte, eingeordnet in Kategorien und Schubladen und nicht mehr als eigenständig denkende Individuen darzustellen. Es ist ein Versuch des Ordnens im Chaos der eigenen unausgesprochenen Gefühle, doch durch diesen selbst geschaffenen Filter der Wahrnehmung und die nicht enden wollende Typisierung, nimmt Marxley selbst sich die Möglichkeit zum Entkommen aus der Einsamkeitsspirale. Obwohl er einen durch das Trauma ausgelösten Ekel vor der ganzen Welt empfindet, so will er doch an dieser teilhaben und indirekt sehnt er sich verzweifelt nach menschlicher Nähe und Wärme. Will man Marxleys wahren Empfindungen auf die Spur kommen, so ist man gezwungen, fortwährend zwischen den Zeilen zu lesen, denn an Marxleys Oberfläche stößt man zunächst einzig und allein auf eine - wenn auch breit gefächerte - Ablehnungshaltung gegenüber der Welt und vor allem gegenüber sich selbst. Diese Verleugnung, die in der indirekten Sprache Ausdruck findet, macht die Novelle auch psychologisch interessant.
Nur mit Claire, einer Frau, die er in einem Tanzlokal trifft, gelingt es ihm für einen Moment, sich in die gesichtslose Masse einzuordnen. Vom Alkohol berauscht, gerät er in eine ambivalente Hochstimmung aus sexueller Erregung einerseits und einem weiterhin bestehenden Ekel, der sich unvorhersehbar immer wieder über das entstehende erotische Verhältnis zu Claire legt. Eine Gefühlsambivalenz kennzeichnete auch schon das vorherige Gespräch mit seinem Vater, für den er eine Mischung aus Mitleid und Hass zu empfinden scheint. Marxley versucht im Verlauf verzweifelt eine Balance zu finden zwischen den oberflächlichen Gefühlen der Ablehnung und den tief verborgenen Empfindungen von Trauer um seine verstorbene Mutter, Scham und verbotenem Verlangen, doch wirklich deutlich wird auch hier nur der erneute Kontrollverlust.
Metaphorisch untermalt wird diese Ambivalenz durch das Bild des Kampfes von Licht und Dunkelheit. Die Erzählung beginnt an einem kurzen Morgen, schildert dann einen beinahe noch kürzeren Nachmittag und endet schließlich in langer, finsterer Nacht, die trotz der Lichter der Stadt immer präsent bleibt. Dunkelheit ist dabei immer unvermeidbar negativ konnotiert und verbunden mit Kontrollverlust sowohl über Emotionen als auch über Handlung.
Es ist letztlich die Erzählung eines immerwährenden Konflikts zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Depression und Lebenswillen sowie zwischen Licht und Dunkelheit, an dessen Ende nichts als die Nacht bleibt.
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