Am Ende von Zadie Smiths neustem Roman „Swing Time“ weiß der Leser so ziemlich alles über die Protagonistin. Nur nicht ihren Namen.
Die Ich-Erzählerin wächst als Kind einer farbigen Mutter und eines weißen Vaters in einem der ärmeren Londoner Stadtteile auf. Sie interessiert sich leidenschaftlich fürs Tanzen: Sie nimmt nicht nur selbst Unterricht, sondern schaut sich mit großer Leidenschaft Filmmusicals an und liest alles über das Thema. Nach ihrem Irgendwas-mit-Medien-Studium kehrt sie nach London zurück, jobbt zunächst in einem kleinen Fastfood-Restaurant und findet schließlich einen Job bei einer Videoproduktionsfirma. Als die weltberühmte australische Sängerin Aimee in die Stadt kommt, soll die Protagonistin sie betreuen. Dabei überrascht sie die Sängerin so, dass Aimee ihr einen Job anbietet und sie schließlich als persönliche Assistentin einstellt. Die Arbeit erfordert 100-prozentige Hingabe und es bleibt kaum Zeit für ein Privatleben. Eine der Aufgaben der Erzählerin besteht in der Koordination und Kontrolle eines Hilfsprojekts in Gambia. Aimee möchte dort eine Schule für Mädchen eröffnen. Ihre Assistentin reist in den folgenden Jahren immer wieder nach Afrika und trifft dabei auf Menschen, die ihr Leben entscheidend beeinflussen. Die Erzählung springt nicht-chronologisch zwischen Kindheit und Jugend sowie Erwachsenenalter hin und her.
Die Tragik der Protagonistin besteht damit, dass sie sich mit Hingabe einem Thema widmet, egal ob es das Tanzen oder das Hilfsprojekt in Afrika ist. Gleichzeitig steht sie bei allem immer im Schatten starker und dominanter Frauen. In ihrer Kindheit wird sie von ihrer besten Freundin Tracy überflügelt, die im Gegensatz zur Erzählerin ein natürliches Talent für das Tanzen besitzt und später eine professionelle Karriere startet. Die Mutter liebt ihre Tochter zwar, bringt jedoch deutlich mehr Energie auf für ihre eigene Bildung als für die Erziehung der Tochter. Die Mutter leistet dabei beeindruckendes: Die ungelernte Frau vertieft sich in Bücher, studiert ernsthaft und arbeitet sich vom Nichts zur angesehenen Lokalpolitikerin hoch. Ihre Tochter hingegen kann nach der Schule ohne Hindernisse ein Studium beginnen, scheint aber nicht besonders ehrgeizig zu sein. Ihre Jobs erhält sie eher durch Zufall, denn durch persönliche Anstrengungen. Dann ist da Hawa, eine junge Frau aus Gambia, die sich durch die nie endende Hausarbeit für ihre Familie eingesperrt fühlt. Entgegen der familiären Wünsche findet sie aus eigenem Antrieb einen Weg heraus aus ihrer Situation – etwas, das der Erzählerin nie von selbst gelingt. So wundert es nicht, dass sie die persönliche Entscheidung ihrer Freundin kritisch sieht. Mehr als zehn Jahre arbeitet sie für Aimee, die das scheinbar perfekte Leben hat: Sie ist erfolgreich, reich und schön. Doch Aimees Leben gelingt nur so gut, weil eine Herde Angestellter, darunter die Erzählerin, dafür sorgt und ihr eigenes Privatleben dafür aufgibt.
„Swing Time“ hat mich aus vielen Gründen rundum begeistert. Es ist eines dieser Bücher, die ich erst nachklingen lassen und verdauen musste, bevor ich ein neues Buch anfangen konnte.
Großartig fand ich die vielschichtigen, komplizierten weiblichen Charaktere und die Konflikte, aber auch Unterstützung zwischen ihnen. Sie alle haben unterschiedliche Lebensentwürfe, unterschiedliche Probleme und unterschiedliche Wünsche. Dadurch entsteht ein Spannungsfeld, in dem die Protagonistin hin und her irrt.
Zadie Smith spricht in dem Roman viele kontroverse, aktuelle und spannende Themen an wie Rassismus, die Folgen der Kolonialisierung und gut meinende, aber unwissende und naive Initiativen aus westlichen Ländern, die ein Hilfsprojekt in Afrika starten wollen. Hier kommen viele kluge Gedanken zur Sprache. Der einzige Kritikpunkt, den ich habe: Für mein Empfinden hätten diese ruhig noch tiefergehender behandelt werden können.
Sprachlich hat mich das Buch absolut verzaubert. Zadie Smith formuliert meisterhaft und immer passend zu den Charakteren: Mal liest man philosophisch-poetische Passagen, mal krass-realistische Dialoge. In dem Roman arbeitet die Autorin zudem mit sehr vielen Auslassungen. Wie erwähnt, erfährt der Leser nie den Namen der Erzählerin, aber auch nie den Namen des afrikanischen Landes, in dem ein wichtiger Teil der Handlung spielt. Dass es sich um Gambia handeln muss, kann man anhand von Hinweisen wie der Stadt Barra oder dem Nachbarland Senegal ableiten. Auch wichtige Wendungen in der Handlung spricht Zadie Smith nicht explizit an. Stattdessen impliziert sie die Geschehnisse, sodass ich zu Beginn öfter das Gefühl hatte, etwas überlesen zu haben. Ein kurzes Zurückblättern bewies, dass das nicht der Fall war. Diese bewussten Auslassungen lenken die Aufmerksamkeit des Lesers auf besonders wichtige Punkte im Leben der Protagonistin. Zadie Smith ist wahrlich eine Meisterin des Sprachgebrauchs – trotz Auslassungen gelingt es ihr mühelos, alle wichtigen Infos zu vermitteln.