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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 15.07.2018

Gesellschaftskritischer Roman nah am Puls der Zeit

Leere Herzen
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Die Welt im Jahr 2025: Die EU zerbricht immer mehr. In Deutschland ist eine nationalistisch geprägte Partei an der Macht, die demokratische Rechte immer weiter einschränkt. Das bedingungslose Grundeinkommen ...

Die Welt im Jahr 2025: Die EU zerbricht immer mehr. In Deutschland ist eine nationalistisch geprägte Partei an der Macht, die demokratische Rechte immer weiter einschränkt. Das bedingungslose Grundeinkommen wurde eingeführt und es gibt eine Bundeszentrale für Leitkultur.

In diesem rauen politischen Klima führen Britta und Babak ihre psychologische Praxis „Die Brücke“, die mit selbstmordgefährdeten Menschen arbeitet. Britta rationalisiert ihre Arbeit als nützlich für die Gesellschaft und sieht sich ganz pragmatisch und gefühllos als einfache Dienstleisterin. Dass einige Aspekte der Brücke dabei höchst unethisch sind, lässt sie kalt. Erst als sie selbst in Gefahr ist, beginnt Britta sich selbst zu hinterfragen.

Juli Zeh entwirft ein schockierendes Szenario, das in der nahen Zukunft spielt und sich teilweise sehr real anfühlt. Sie zeigt, wie wenig demokratische Prinzipien garantiert sein können, die wir eigentlich als selbstverständlich wahrnehmen. Damit wird der Roman hochaktuell. All das packt sie in eine fesselnde Handlung, wobei sie einen dichten Erzählstil verwendet.

Veröffentlicht am 15.07.2018

Eine Liebeserklärung an Bücher und ihre Leser

Das Mädchen, das in der Metro las
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Bei gerade einmal 172 Seiten ist die Handlung überschaubar: Juliette führt ein unauffälliges, wenig aufregendes Leben und mag ihren Job als Immobilienmaklerin nicht besonders. Eines Tages trifft sie den ...

Bei gerade einmal 172 Seiten ist die Handlung überschaubar: Juliette führt ein unauffälliges, wenig aufregendes Leben und mag ihren Job als Immobilienmaklerin nicht besonders. Eines Tages trifft sie den Exil-Iraner Soliman, der sie als Bücherkurierin engagiert. Er ist davon überzeugt, dass jedes Buch das Leben eines Menschen verändern kann – wenn es den richtigen Leser findet. Juliette soll nun geeignete Empfänger für ihre Bücher finden.

Christine Féret-Fleury ist ein charmanter Roman über die Magie der Bücher gelungen. Sie ist eine Meisterin der leisen Töne und kommt ohne großes Drama aus. Dabei legt der Roman einen starken Fokus auf das Innenleben der Protagonistin. Hier gefielen mir besonders die Gedankensprünge von Juliette, die viel über sie offenbaren und die ganz natürlich aus der Feder der Autorin zu fließen scheinen. „Das Mädchen, das in der Metro las“ ist im Endeffekt Juliettes Coming-of-Age-Story, denn natürlich hilft sie nicht nur anderen mit Büchergeschenken, sondern findet vor allem ihren eigenen Platz im Leben. Ich fand es sehr angenehm, dass Juliettes eigenen Ambitionen und Wünsche dabei im Vordergrund stehen und das Buch ganz ohne kitschige Liebesgeschichte auskommt.

Veröffentlicht am 15.07.2018

Faszinierend und erschütternd

Underground Railroad
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Was kann man schon zu einem Buch schreiben, das gerade mit Preisen und Lob überschüttet wird? Dass all die Aufmerksamkeit hundertprozentig gerechtfertigt ist.

Es wurde zwar bereits unzählige Male gesagt, ...

Was kann man schon zu einem Buch schreiben, das gerade mit Preisen und Lob überschüttet wird? Dass all die Aufmerksamkeit hundertprozentig gerechtfertigt ist.

Es wurde zwar bereits unzählige Male gesagt, doch angesichts der „Black lives matter“-Bewegung, der Neonazi-Märsche, der Diskriminierungen und der Rassenunruhen in den USA ist dieser Roman gerade brandaktuell. Autor Colson Whitehead erzählt die Geschichte des Mädchens Cora, das Anfang des 19. Jahrhunderts als Sklavin auf einer Plantage im US-Staat Georgia unter schrecklichen Bedingungen leben und arbeiten muss. Ihr Mutter Mabel flüchtete unerwartet, als Cora zehn Jahre alt war. Seitdem ist das Mädchen allein. Als sich ihr nach schweren Misshandlungen die Chance bietet, mit einem anderen Sklaven über die Underground Railroad zu fliehen, nutzt sie diese. Ihre Flucht führt durch mehrere Staaten, doch Cora kommt nirgendwo zur Ruhe. Ihr Besitzer beauftragt Sklavenjäger, um Cora zurückzuholen; sie wird unterwegs verraten und gedemütigt. Zwar hält sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben außerhalb der Plantage auf, doch die Freiheit ist anders, als sie sich das vorgestellt hat. Selbst Schwarze, die eigentlich freigelassen oder in Freiheit geboren wurden, sind oft der Willkür und der Diskriminierung durch Weiße ausgesetzt.

Coras Odyssee ist erschöpfend, schockierend und mit grausamen Erlebnissen gespickt. Manche Momente sind wirklich schwer zu ertragen – umso wichtiger ist die Lektüre. Whitehead schreibt in einem schnörkellosen, anschaulichen Stil, der ins Herz trifft, aber überflüssige Sentimentalitäten vermeidet. Cora ist eine starke Person und eine faszinierende Protagonistin. Durch ihre Jugend und Unerfahrenheit scheint sie etwas naiv, tritt jedoch trotzdem mutig für sich und ihre Helfer ein. Gleichzeitig erschien sie mir durch ihre Erlebnisse oft etwas abgestumpft und distanziert. Umso herzzerreißender wirken die Momente, in denen sie die Fassung verliert, weil sie beispielsweise vom Tod eines Helfers erfährt.

Die Underground Railroad war eigentlich ein geheimes Netzwerk an Menschen, die Sklaven bei der Flucht aus dem Süden über bestimmte Routen in den freien Norden halfen. Colson Whitehead nimmt die Metapher allerdings wörtlich und lässt die Sklaven über eine Eisenbahnlinie im Untergrund flüchten. Dadurch ist das Buch zwar nicht historisch korrekt, jedoch lassen sich die Fahrten zwischen den einzelnen Staaten schneller erzählen, als wenn die Sklaven zu Fuß flüchten würden. So liegt der Fokus auf den verschiedenen Stationen. Hier erkennt der Leser deutlich, dass „Fortschritt“ und „Freiheit“ immer von der Perspektive abhängen.

Veröffentlicht am 15.07.2018

Meisterhaft erzählt

Swing Time
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Am Ende von Zadie Smiths neustem Roman „Swing Time“ weiß der Leser so ziemlich alles über die Protagonistin. Nur nicht ihren Namen.

Die Ich-Erzählerin wächst als Kind einer farbigen Mutter und eines weißen ...

Am Ende von Zadie Smiths neustem Roman „Swing Time“ weiß der Leser so ziemlich alles über die Protagonistin. Nur nicht ihren Namen.

Die Ich-Erzählerin wächst als Kind einer farbigen Mutter und eines weißen Vaters in einem der ärmeren Londoner Stadtteile auf. Sie interessiert sich leidenschaftlich fürs Tanzen: Sie nimmt nicht nur selbst Unterricht, sondern schaut sich mit großer Leidenschaft Filmmusicals an und liest alles über das Thema. Nach ihrem Irgendwas-mit-Medien-Studium kehrt sie nach London zurück, jobbt zunächst in einem kleinen Fastfood-Restaurant und findet schließlich einen Job bei einer Videoproduktionsfirma. Als die weltberühmte australische Sängerin Aimee in die Stadt kommt, soll die Protagonistin sie betreuen. Dabei überrascht sie die Sängerin so, dass Aimee ihr einen Job anbietet und sie schließlich als persönliche Assistentin einstellt. Die Arbeit erfordert 100-prozentige Hingabe und es bleibt kaum Zeit für ein Privatleben. Eine der Aufgaben der Erzählerin besteht in der Koordination und Kontrolle eines Hilfsprojekts in Gambia. Aimee möchte dort eine Schule für Mädchen eröffnen. Ihre Assistentin reist in den folgenden Jahren immer wieder nach Afrika und trifft dabei auf Menschen, die ihr Leben entscheidend beeinflussen. Die Erzählung springt nicht-chronologisch zwischen Kindheit und Jugend sowie Erwachsenenalter hin und her.

Die Tragik der Protagonistin besteht damit, dass sie sich mit Hingabe einem Thema widmet, egal ob es das Tanzen oder das Hilfsprojekt in Afrika ist. Gleichzeitig steht sie bei allem immer im Schatten starker und dominanter Frauen. In ihrer Kindheit wird sie von ihrer besten Freundin Tracy überflügelt, die im Gegensatz zur Erzählerin ein natürliches Talent für das Tanzen besitzt und später eine professionelle Karriere startet. Die Mutter liebt ihre Tochter zwar, bringt jedoch deutlich mehr Energie auf für ihre eigene Bildung als für die Erziehung der Tochter. Die Mutter leistet dabei beeindruckendes: Die ungelernte Frau vertieft sich in Bücher, studiert ernsthaft und arbeitet sich vom Nichts zur angesehenen Lokalpolitikerin hoch. Ihre Tochter hingegen kann nach der Schule ohne Hindernisse ein Studium beginnen, scheint aber nicht besonders ehrgeizig zu sein. Ihre Jobs erhält sie eher durch Zufall, denn durch persönliche Anstrengungen. Dann ist da Hawa, eine junge Frau aus Gambia, die sich durch die nie endende Hausarbeit für ihre Familie eingesperrt fühlt. Entgegen der familiären Wünsche findet sie aus eigenem Antrieb einen Weg heraus aus ihrer Situation – etwas, das der Erzählerin nie von selbst gelingt. So wundert es nicht, dass sie die persönliche Entscheidung ihrer Freundin kritisch sieht. Mehr als zehn Jahre arbeitet sie für Aimee, die das scheinbar perfekte Leben hat: Sie ist erfolgreich, reich und schön. Doch Aimees Leben gelingt nur so gut, weil eine Herde Angestellter, darunter die Erzählerin, dafür sorgt und ihr eigenes Privatleben dafür aufgibt.

„Swing Time“ hat mich aus vielen Gründen rundum begeistert. Es ist eines dieser Bücher, die ich erst nachklingen lassen und verdauen musste, bevor ich ein neues Buch anfangen konnte.

Großartig fand ich die vielschichtigen, komplizierten weiblichen Charaktere und die Konflikte, aber auch Unterstützung zwischen ihnen. Sie alle haben unterschiedliche Lebensentwürfe, unterschiedliche Probleme und unterschiedliche Wünsche. Dadurch entsteht ein Spannungsfeld, in dem die Protagonistin hin und her irrt.

Zadie Smith spricht in dem Roman viele kontroverse, aktuelle und spannende Themen an wie Rassismus, die Folgen der Kolonialisierung und gut meinende, aber unwissende und naive Initiativen aus westlichen Ländern, die ein Hilfsprojekt in Afrika starten wollen. Hier kommen viele kluge Gedanken zur Sprache. Der einzige Kritikpunkt, den ich habe: Für mein Empfinden hätten diese ruhig noch tiefergehender behandelt werden können.

Sprachlich hat mich das Buch absolut verzaubert. Zadie Smith formuliert meisterhaft und immer passend zu den Charakteren: Mal liest man philosophisch-poetische Passagen, mal krass-realistische Dialoge. In dem Roman arbeitet die Autorin zudem mit sehr vielen Auslassungen. Wie erwähnt, erfährt der Leser nie den Namen der Erzählerin, aber auch nie den Namen des afrikanischen Landes, in dem ein wichtiger Teil der Handlung spielt. Dass es sich um Gambia handeln muss, kann man anhand von Hinweisen wie der Stadt Barra oder dem Nachbarland Senegal ableiten. Auch wichtige Wendungen in der Handlung spricht Zadie Smith nicht explizit an. Stattdessen impliziert sie die Geschehnisse, sodass ich zu Beginn öfter das Gefühl hatte, etwas überlesen zu haben. Ein kurzes Zurückblättern bewies, dass das nicht der Fall war. Diese bewussten Auslassungen lenken die Aufmerksamkeit des Lesers auf besonders wichtige Punkte im Leben der Protagonistin. Zadie Smith ist wahrlich eine Meisterin des Sprachgebrauchs – trotz Auslassungen gelingt es ihr mühelos, alle wichtigen Infos zu vermitteln.

Veröffentlicht am 15.07.2018

Wahnsinn!

Raum
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"Raum" von Emma Donoghue ist das Buch, das mich seit langem am meisten berührt hat. Ich habe mitgefühlt und manchmal auch die ein oder andere Träne verdrückt. Das Thema ist leider in den letzten Jahren ...

"Raum" von Emma Donoghue ist das Buch, das mich seit langem am meisten berührt hat. Ich habe mitgefühlt und manchmal auch die ein oder andere Träne verdrückt. Das Thema ist leider in den letzten Jahren sehr aktuell gewesen: Entführung, Missbrauch und Eingesperrt sein.

Die Entscheidung, diese sehr schwierige Geschichte aus der kindlichen Sicht des fünfjährigen Jack zu erzählen ist wirklich brilliant. Denn für Jack ist Raum alles, was er kennt - in einen kleinen Schuppen eingesperrt zu sein, nie Tageslicht zu sehen und keinen Kontakt zu anderen Menschen zu haben, ist für ihn Normalität. Für den Leser entfaltet sich dadurch der Horror der Situation, in der Jack und seine Mutter sind, langsamer aber viel intensiver. Außerdem wird so vermieden, dass das Buch künstlich auf die Tränendrüse drückt. Emotionen werden hier subtiler geweckt, denn sie entstehen aus der Geschichte und den Personen heraus. So bleiben sie nachhaltiger und das Buch hinterlässt einen bleibenden Eindruck. Auch jetzt habe ich noch ein beklemmendes Gefühl, wenn ich an die Geschichte denke. Außerdem finde ich Jacks Perspektive während und nach der Flucht am spannendesten - es ist eigentlich unvorstellbar, wie so ein kleines Kind damit umgehen kann, plötzlich mit der Realität konfrontiert zu werden.