Hannes Köhler erzählt eine leise Geschichte, die immer wieder kurz von lauten, brutalen Blitzen aufgebrochen wird. Die Handlung spielt auf zwei zeitlichen Ebenen: Der Gegenwart und der Zeit während des Zweiten Weltkriegs. Vermutlich hat der Krieg in vielen deutschen Familien ähnliche Spuren hinterlassen, wie das in „Ein mögliches Leben“ der Fall ist.
Drei Generationen sind von der Geschichte betroffen: Franz, seine Tochter Barbara und sein Enkel Martin. Sie alle verbindet eine eher oberflächliche Beziehung. Martin weiß wenig über die Vergangenheit seines Großvaters, sie stehen sich freundlich gegenüber, sind sich aber nicht besonders nahe. Sprachlich wird das schnell deutlich, da der Er-Erzähler Franz wiederholt als der „Alte“ bezeichnet, wenn er die Beziehung von Martin oder Barbara zu Franz beschreibt. Für mich drückt das emotionale Distanz aus. Die Familie kommt sich näher und reißt gleichzeitig alte Wunden auf, als Martin und Franz in die USA nach Texas und Utah an Orte aus der Vergangenheit von Franz reisen.
In der zweiten Handlungsebene wird Franz als junger Soldat während des Zweiten Weltkriegs in Frankreich von US-amerikanischen Truppen gefangen genommen und landet als Kriegsgefangener in einem Lager in Texas. Die Amerikaner behandeln die Deutschen als homogene Truppe und erwarten daher keine großen Probleme. Die meisten von ihnen sind jung und stürzten sich – überzeugt von der Propaganda des Dritten Reiches – in den Krieg. Doch die Erfahrungen im Gefecht und in Gefangenschaft teilen die Kameraden schnell in zwei Gruppen: Die eine glaubt weiterhin fanatisch an den Nationalsozialismus und schwört Hitler ewige Treue. Die andere beginnt am Krieg und am Nationalsozialismus zu zweifeln, verfolgen liberalere Ideale. Da die Nazis im Lager jedoch äußerst gewaltbereit sind und sich bereits beim kleinsten Verdacht gegen die eigenen Kameraden wenden, halten diese ihre Treffen im Geheimen ab und versuchen ihre Zweifel und Gesinnungswechsel zu verbergen. Eine Ausnahme ist der deutsch-amerikanische Gefangene Paul, der sich aus Überzeugung freiwillig für den Kriegseinsatz in der deutschen Armee gemeldet hat. Er ist Franz‘ bester Freund in Gefangenschaft und arbeitet dort als Dolmetscher. Da ihn der Kriegseinsatz völlig desillusioniert hat, unterstützt Paul die Amerikaner heimlich dabei, Nazis unter den Gefangenen zu identifizieren – auch wenn er einigen seiner Kameraden in den Rücken fällt.
Franz hat Angst vor den Konsequenzen dieser Art des Handelns, doch Paul sagt ihm in einem denkwürdigen Moment: „Irgendwann muss man sich einfach entscheiden und die Konsequenzen tragen. Eine Seite. Eine Meinung. Man kann sich nicht immerzu raushalten.“ (S. 166)
Damit wirft er eine spannende moralische Frage auf, die alle Täter und Mitläufer im ganzen Naziregime betrifft (und die auch heute wieder brandaktuell erscheint): Darf man sich aus Angst um die eigene Sicherheit aus aktuellen Konflikten heraushalten, darf man still bleiben und nicht wiedersprechen, obwohl man mit aktuellen Geschehnissen nicht einverstanden ist? Natürlich gibt es darauf keine einfache Antwort. Weder Feigheit noch totale Selbstaufgabe führen in dieser Situation zum Ziel.
Wie kompliziert eine Entscheidung um die eigene (offene, nicht heimliche) Haltung ist, verdeutlicht der Autor an den beiden Freunden: Der risikoscheue, eingeschüchterte Franz steht dem selbstbewussten, von seinem moralisch korrekten Handeln überzeugten Paul gegenüber. Nur einer von beiden verlässt das Lager unversehrt. Als Franz nach Utah verlegt wird, ist er deutlich gereift. Hier folgt er Pauls Vorbild, meldet sich als Übersetzer und unterstützt die Amerikaner.
Ich fand dieses Buch besonders spannend, da es ein komplexes moralisches Thema anspricht. Darf man mit den Tätern Mitleid haben? Kann sich ein Soldat, der im Namen eines Unrechtsregimes Menschen getötet hat, durch moralisches Handeln rehabilitieren?
Ich muss zugeben, dass ich bisher nur wenig über die Erfahrungen deutscher Kriegsgefangener in den Lagern der Alliierten gewusst habe. Laut dem Roman wurden diese Lager entsprechend der Genfer Konvention geführt. Das steht im starken Kontrast zu den deutschen Konzentrationslagern, wo Menschen unter unwürdigen Bedingungen leben und sterben mussten. Daher war mein erster Impuls beim Lesen von Franz‘ Erfahrungen zugegebenermaßen: Ist das wirklich wichtig? So viele Menschen haben im Krieg wesentlich Schlimmeres erlebt…
Der Autor beschreibt ausführlich, wie die Gefangenen mit dem Schiff in New York eintreffen, wie sie in Zügen mit Betten (nicht in Viehwagen) die USA durchqueren und wie sie immer ausreichend Nahrungsmittel haben. Einer der Deutschen bricht beim Anblick der vollen Teller gar in Tränen aus. Aber gleichzeitig leben die Männer eben nicht selbstbestimmt, sondern in einem von Stacheldraht eingezäunten Lager. Sie müssen teils bei der Kartoffel- und Baumwollernte harte körperliche Arbeit erledigen. Sie vermissen ihre Familie und Freunde. Sie sind weit weg von Zuhause. Aber eben auch weit weg von einem Kontinent, der vom Krieg zerstört wird. Und keiner der Gefangenen ist unschuldig; alle wurden im Gefecht gefangen genommen.
Hannes Köhler nimmt sich hier einer schwierigen Grauzone an: Menschen können von meisterhaften Manipulatoren zu irrsinnigen Entscheidungen wie einem freiwilligen Einsatz als Soldat verführt werden. Das spricht sie nicht von Schuld und von der Verantwortung für ihre Handlungen frei. Aber Menschen können gleichzeitig die Entscheidung treffen, ihrem Leben eine neue Richtung zu geben und nicht in der Opferrolle zu verharren.