Nah am Tod, auf dem Weg zurück ins Leben
Wo immer du bistErst nach Lesen des Buches wurde mir klar, wie passend das Titelbild ist... Ein junges Mädchen unter Wasser, aufwärtsstrebend und so nah an der Oberfläche- dabei doch so fern. Eine Metapher auf Krankheit ...
Erst nach Lesen des Buches wurde mir klar, wie passend das Titelbild ist... Ein junges Mädchen unter Wasser, aufwärtsstrebend und so nah an der Oberfläche- dabei doch so fern. Eine Metapher auf Krankheit und Genesung? Ihr werdet es verstehen, wenn ihr das Buch lest!
Es geht um den jungen West, der nach einem schlimmen Unfall (mit seinem Fahrrad auf der Halfpipe) im Krankenhaus zu sich kommt. Er ist erst völlig verwirrt und weiß nicht, was los ist - warum ist er am Bett festgeschnallt? Warum tut sein Hals so weh, und warum kann er nicht sprechen? Immer wieder verliert er das Bewusstsein, und jedes Gefühl für Zeit geht ihm verloren. Wenn er Besuch bekommt, kann er nur hilflos daliegen und zuhören - seine Besucher sprechen beinahe mehr mit sich selbst... Und dann taucht Olivia auf, das Mädchen aus dem Zimmer nebenan, und sie sagt ihm ganz unverblümt: "Du hast einen Beatmungsschlauch im Hals. (...) Und übrigens bist du gelähmt, falls dir das noch keiner gesagt hat."
Und damit beginnt eine merkwürdige Freundschaft zwischen Olivia und West, die schnell sehr innig wird, obwohl sich West (zuerst) nur verständigen kann, indem er einmal für ja und zweimal für nein blinzelt. Olivia scheint ihn einfach zu verstehen, und sie errät schnell Dinge über ihn, die nicht einmal seine Freunde wissen. Und sie spricht mit ihm auch über seine grauenhaften Alpträume - beziehungsweise, sie spricht und stellt ihm die richtigen Fragen... Olivia wird in wenigen Tagen zu Wests Rettungsanker in seiner schweren Situation.
Ich fand diese Grundidee sehr originell und faszinierend. Dabei war es für die Autorin sicher eine Herausforderung, diese Idee zu einem spannenden, packenden Buch umzusetzen! Denn zum einen ist der Schauplatz sehr begrenzt: ein Großteil des Buches spielt in Wests Krankenzimmer. Und dann gibt es nur eine begrenzte Anzahl an Charakteren, die wirklich eine Rolle spielen: West, seine Freundin Allie, sein bester Kumpel Mike, seine Mutter, Olivia, die nette Schwester Norris und die fiese Schwester ohne Namen... Aber Cylin Busby erschafft mit diesen begrenzten "Zutaten" eine Geschichte, die berührend ist und einen nicht mehr loslässt.
Ich konnte das Buch einfach nicht mehr weglegen, denn ich wollte immer wissen, wie es mit West weitergeht. Jeden kleinen Sieg, den er erlebt, habe ich gefeiert, und seine Ängste und Hoffnungen haben mich unglaublich mitgenommen.
West ist ein sehr sympathischer junger Mann. Früher war er mal ein Außenseiter, bis ihn Mike eines Tages ganz selbstverständlich akzeptiert und in seine Kreise aufgenommen hat. Er liebt seine Freundin Allie von ganzem Herzen, obwohl sie ihn schon einmal verlassen hat. Er ist ein ganz normaler Teenager, aber seine Gedanken entwickeln in seiner Zeit im Krankenhaus immer mehr Tiefe... Denn er hat ja außer Nachdenken nichts zu tun, und so lernt er sich nach und nach wirklich selber kennen und begreift, was für ihn im Leben wichtig ist.
Allie und Mike bleiben dabei eher am Rand des Geschehens. Allie besucht West nur selten und kann nur schlecht mit der Situation umgehen, aber so richtig lernt man sie als Leser gar nicht kennen. Mike tut sein Bestes: er bringt Musik für West mit und redet mit ihm, und man merkt deutlich, wie wichtig West für ihn ist. West glaubt, Mike habe ihn aus seinem Leben als Außenseiter gerettet, aber so nach und nach wird klar, dass die Freundschaft auch Mikes Leben verändert hat.
Wests Mutter tut ebenfalls ihr Bestes, aber ihre Besuche werden immer kürzer, denn sie hat einfach keine Kraft mehr. Und Wests Vater kann es nicht ertragen, seinen Sohn so zu sehen. Die beiden streiten sich darüber, ob West eine riskante Operation bekommen soll: sie könnte wahnsinnige Fortschritte für ihn bedeuten, aber auch tödlich enden...
Olivia ist neben West der zentrale Charakter. Sie sagt immer klar heraus, was sie denkt, und das wirkt manchmal doch etwas gemein und gedankenlos - wie dieser Kommentar, den ich oben schon erwähnt habe. Aber im Laufe des Buches habe ich ihre Ehrlichkeit schätzen gelernt, und so nach und nach lernt man als Leser auch ihre verletzliche Seite kennen. Sie ist schon eine lange Zeit im Krankenhaus und wird mit Flüssignahrung künstlich ernährt. 38 Kilo habe sie mal gewogen, vertraut sie West bei ihrer ersten Begegnung an.
Allerdings sagt sie manchmal auch Dinge, die ich sehr egoistisch von ihr fand. Aber dazu möchte ich hier noch nicht zu viel sagen, denn das würde einiges verraten! Irgendwie konnte ich sie verstehen, aber irgendwie auch nicht...
Apropros verraten: es gibt gegen Ende eine Enthüllung, die ich kommen sehen habe. Zuerst war ich darüber etwas enttäuscht und habe mir gedacht: hätte die Autorin das nicht besser verstecken können? Aber dann habe ich mich gefragt, ob es wirklich so schlimm ist, diese Sache schon viel früher als West zu begreifen, und die Antwort ist nein. Denn der Reiz der Geschichte lag für mich vor allem im Psychologischen: darin, wie West mit dieser extremen Situation umgeht, und wie die Menschen um ihn herum reagieren.
Liebe spielt eine große Rolle in diesem Buch: die Liebe, die West für die Menschen in seinem Leben empfindet und sie für ihn, und immer mehr auch seine Gefühle für Olivia... Als ich den Klappentext gelesen habe, war ich erst skeptisch: wie kann sich ein Mädchen zu einem Jungen hingezogen fühlen, der nicht mal mit ihr reden kann? Aber es macht Sinn, man kann es nachvollziehen und glauben, und dabei driftet es nicht in zuckersüßen Kitsch ab.
Den Schreibstil fand ich sehr angenehm: West erzählt uns die Geschichte aus seiner Perspektive, und das wirkte auf mich sehr echt und berührend.
Zusammenfassung:
Ein nachdenkliches Jugendbuch der leisen Töne. Der junge West findet nach einem traumatischen Erlebnis nach und nach zurück ins Leben - und dabei eine unerwartete Liebe, die kein bisschen kitschig ist. West und Olivia sind wunderbare Protagonisten, über die ich immer sehr gerne gelesen habe, und das Ende hat mich überrascht: einerseits ein wenig verstörend, andererseits eigentlich das einzige mögliche Ende... Mir hat das Buch sehr, sehr gut gefallen!