Klappentext: „Die junge Engländerin Vivian Rose Spencer reist 1914 zu Ausgrabungen in der Türkei. Hier, im sagenhaften Labraunda, lässt sie die strengen Konventionen ihrer Heimat weit hinter sich und verliebt sich in den Archäologen Tahsin Bey. Als der Krieg ausbricht, verlieren sich die beiden aus den Augen. Auf ihrer Suche nach ihm trifft Vivian in einem Zug nach Peschawar den jungen Paschtunen Qayyum Gul. Beide ahnen nicht, dass ihre Geschicke sich auf immer verbinden und sie eines Tages, auf der Straße der Geschichtenerzähler, wieder zusammenführen werden.“
Der KT lässt schon fast einen Frauenroman vermuten. So in etwa fängt er auch an. Die gemütlichen Abende bei den Ausgrabungen in Labraunda mit charismatischen Erzählern, die ihre Legenden um die mutigen Abenteurer zum Besten zu geben wissen. Von da aus ist es auch bis zu einer Liebesgeschichte nicht weit. Tahsin Bey, der unzählige Geschichten und Geheimnisse seines Landes kennt und mit seiner Faszination zur Archäologie auch die junge Viv Spencer beeindruckt, avanciert trotz des Altersunterschieds zum Zukünftigen von Viv.
Aber ein Frauen- oder Liebesroman ist „Die Geschichte der Straßenerzähler“ keineswegs. Die emotionale Seite, die in solchen Romanen oft ausführlichst in Szene gesetzt wird, ist hier weitestgehend ausgeklammert. Das gilt nicht nur für die Romantik. Es gibt bildhafte Schilderungen vom Leid der im ersten Weltkrieg verletzten Männer, aber was sich Viv dabei denkt und fühlt, da sie eine Zeit lang eine Hilfskrankenschwester in London ist, bliebt dem Einfühlungsvermögen der Leser überlassen.
Die ersten zwei Teile spielen in Jahren 1914-1916 und liefern nicht nur die romantischen Bilder in Labraunda, sondern lassen vor allem die Leser über den Unsinn eines Krieges anhand nachdenken. Starke anti-Kriegsbotschaften, tiefe Gedanken zu Werten und Moral in Kriegszeiten. Dabei geht es nicht nur um den ersten Weltkrieg. Es geht auch um Herrscher und Beherrschten im Sinne Machtinhaber und „Fußvolk“, wie Engländer und Pakistanis oder auch Osmanen und Armenier, oder auch Männer, die Krieg führen und Frauen, die nun ihre Pflicht als Krankenpflegerinnen erfüllen müssen. Prägnante Situationen dazu sind in opulenter Fülle da.
Frauenrechte, Stellung der Frauen in der Gesellschaft, ob in England oder in Peschawar, ist eines der zentralen Themen des Romans. Es werden englische Frauen in London und in Peschawar gezeichnet und die einheimische Frauen. Man sieht, wie stark sich ihre Lebensweisen, Bildungsstand und die gesellschaftliche Stellung unterscheiden!
Viv gibt in Peschawar kostenlosen Unterricht paschtunischem Jungen Najeeb. Seine Neugier und Wissensdurst bringen sie oft zum Schmunzeln, es macht ihr Spaß, ihn zu unterrichten. Er ist auch ein spannender Diskussionspartner. Viv schafft es mühelos, ihre Faszination für Archäologie auf ihn zu übertragen, denn sie sucht nach einem Stirnreif, der König Dareios dem helenischen Seefahrer Skylax im Jahr 515 vor Christus als Zeichen des Vertrauens geschenkt hat. Najeeb ist Feuer und Flamme, auch weil es um das historische Erbe seines Volkes geht. Najeebs Mutter reagiert aber alles andere als erfreut, als sie von diesen Unterrichtsstunden hört. Najeeb soll zu Mulla zum Unterricht gehen. Paschtunische Frauen erhalten gar keine Bildung. Ihnen wird von Kindesbeinen eine Mutterrolle anerzogen. Dies wurde sehr gelungen anhand von Najeebs kleiner Nichte gezeigt. Viv reist in Kürze nach England zurück.
Der letze Teil spielt 1928-1930. Vieles hat sich geändert. Hier spielt die Geschichte um den Aufstand der Paschtunen gegen die Briten, dem viele Einheimische zu Opfern fallen. Viv ist wieder in Peschawar. Najeeb hat sie eingeladen, um zusammen den Stirnreif auszugraben, dessen Fundort Najeeb ausfindig gemacht hat.
Die Geschichte ist komplex, facettenreich und so erfrischend anders, wie frei von der Leber erzählt! So leicht und locker kann nur eine Meisterin des Fachs solche schwierigen Themen angehen und diese gekonnt miteinander verweben. Ihre Schilderungen spielen mitunter mit allen Sinnen: man riecht, schmeckt, nimmt haptisch ihre Geschichte wahr. Es werden auch verschiedene erzählformen kombiniert, insb. im letzen Teil gibt es Briefe, Telegramme, Reminiszenzen, Geschichten über die Schicksale der paschtunischen Frauen, etc., die das Leseerlebnis bereichern.
Es ist nicht alles am Ende erklärt worden. Lose Enden, könnte man meinen. Aber ich finde, es muss nicht immer alles ins Kleinste ausgeschlachtet werden. Der rote Faden ist gut präsent, die Hauptbotschaften sind sehr klar dargelegt worden und angekommen, den Rest kann man sich denken.
Die Ausgestaltung des Buches ist etwas ungewöhnlich. Es fehlen die „Gänsefüßchen“ bei der direkten Rede. Paar Mal bin ich drüber gestolpert, aber sonst sieht der Text so entspannt und aufgeräumt aus, dass es mir wiederum gut gefallen hat.
Das Coverbild mit dem Mann, der die orientalisch anmutende Straße entlangläuft, halte ich für sehr gelungen. Das könnte die Straße der Geschichtenerzähler sein, zu der die Geschichte immer wieder zurückkehrt, daher ist der Titel ist doch recht passend.
Fazit: Die Straße der Geschichtenerzähler habe ich sehr gern gelesen. Das Buch wollte sich nicht aus der Hand legen lassen. Es ist ein ganz besonderes Leseerlebnis, das man sich nicht entgehen lassen sollte. Man taucht ein eine völlig andere Welt ab, erfährt so viel über die damalige Zeit, über die Paschtunen und ihre Sicht der Dinge.
Auf dem Buchrücken liest man: „Kamila Shamsie verfügt über außergewöhnliche erzählerische Kraft.“ Salman Rushdie. Und: „Diesen aufregenden und zutiefst bewegenden Roman kann man gar nicht genug empfehlen.“ The Guardian.
Ja, das stimmt. Trotzdem dass hier wohl kaum mit Emotionen „gespielt“ wird, ist es ein bewegender Roman, der noch lange nachhallt. Gerne lese ich auch weitere Romane aus der Feder von Kamila Shamsie.