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Veröffentlicht am 27.07.2018

Die Twenties in München - nicht so "roaring", eher politisch

Wintergewitter
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und natürlich voll von Verbrechen, wie Angelika Fellenda in ihrem zweiten Krimi um den Kommissär Reitmeyer zu berichten weiß. Mit ihm hat die Autorin eine Figur geschaffen, die ich mir als repräsentativ ...

und natürlich voll von Verbrechen, wie Angelika Fellenda in ihrem zweiten Krimi um den Kommissär Reitmeyer zu berichten weiß. Mit ihm hat die Autorin eine Figur geschaffen, die ich mir als repräsentativ für die frühen 1920er vorstelle: eine gewissermaßen tragische Gestalt, ein Rückkehrer aus dem "Großen Krieg", der seine Traumata verarbeiten muss, nichtsdestotrotz jedoch versucht, ein "normales" Leben zu führen, soweit man das als Kriminalpolizist eben kann.

Ich lese gerne historische Krimis, gerne auch gerade aus den 1920ern und bin da bislang meist in Berlin steckengeblieben, wo Susanne Goga mit ihrem Leo Wechsler meine ungekrönte Kaiserin ist. Angelika Fellenda kann da sehr gut mithalten, wie ich finde, wird doch der Standort München und der etwas frühere Zeitraum sehr lebensnah und atmosphärisch dargestellt. Historische Romane aus München und der Umgebung kenne und liebe ich allen voran von Brigitte Riebe, aber auch Heidi Rehn und Tanja Weber haben fesselnde Bücher geschrieben. Nun gibt Fellenda dem ganzen noch ordentlich Spannung hinzu, denn ein fieser Frauenmörder treibt sein Unwesen in der Isarmetropole - zwei Opfer hat er bereits auf dem Gewissen und es werden möglicherweise mehr, wenn Reitmeyer nicht schnell genug handelt.

München war unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg ein sehr politisches Pflaster und das lässt die Autorin ihre Leser quasi auf Schritt und Tritt spüren. Aber auch der Alltag - in diesen Jahren vor allem dessen Nöte - kommen stets zur Sprache und so genießt der Leser hier ein spannendes und anschauliches Werk, das ich von Herzen weiterempfehle. Die 1920er stehen hier in großem Gegensatz zu dem Schillernden, den roaring Twenties, wie man sie aus Berlin kennt, wo neben dem Elend Glamour exisistierte. Hier sind es eher Parteibücher diverser extremer Strömungen!

Veröffentlicht am 27.07.2018

Unverhofft kommt oft!

Angstmörder
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So griff ich eher aus Zufall zu diesem Buch - und stieß auf ein wahres Schätzchen, ein ebenso eindringliches wie innovatives Werk aus der Krimi- und Thrillerliteratur. Krimi UND Thriller? Ja durchaus, ...

So griff ich eher aus Zufall zu diesem Buch - und stieß auf ein wahres Schätzchen, ein ebenso eindringliches wie innovatives Werk aus der Krimi- und Thrillerliteratur. Krimi UND Thriller? Ja durchaus, denn hier werden unterschiedliche Elemente miteinander verknüpft, eine durchgehende, ganz und gar nicht subtile Bedrohung, also ein klares Thrillermerkmal steht hier neben einem zwar sehr ungewöhnlichen und damit einzigartigen Ermittlergespann und anderen deutlichen Whodunnit-Merkmalen, die aus meiner Sicht eindeutig aus der Kriminalliteratur kommen.

Worum es geht: der erfolglose Kölner Anwalt mit deutschrussischen Wurzeln, Nicholas Meller, gerät durch einen ehemaligen Mandanten, der ihn wieder als Verteidiger wünscht, in den Sog laufender Ermittlungen eines ganz besonders widerwärtigen Falles: sein neuer Mandant wird verdächtigt, seine eigene Ehefrau brutal mißhandelt und getötet zu haben. Wie sich zeigt, nur der Anfang eines Kriminalfalles, der ein Fass ohne Boden zu werden droht. Und das, wo Meller doch noch nie mit einem Mordfall zu tun hatte!

Aber auch auf anderer Ebene gibt es Neues bei Nicholas Meller - er, der keinen bzw. definitiv keinen guten Ruf hat, kommt von jetzt auf gleich an eine Referendarin. So unpassend sie scheint, irgendwann raufen sich die beiden zusammen und stecken tief in den Ermittlungen. Denn es bleibt nicht bei dem einen Fall!

Lorenz Stassen, bisher hauptsächlich als Drehbuchautor für Fernsehkrimis unterwegs, ist - wie sich in seinem ersten Thriller zeigt - ein Mann mit vielen Ideen, einer, der Wege gefunden hat, die wirklich noch kein bisschen ausgetreten sind, auch wenn es zunächst so scheint. Dass er sich in seiner Originalität nicht verheddert - nein, es bleibt wirklich vom Anfang bis zum Ende spannend - ist der zweite positive Faktor, der mir aufgefallen ist. Dazu kommen außergewöhnliche und gut konstruierte Figuren. Und dann gibt es noch einen Punkt, der eher individuell eine Rolle für mich spielt: das Geschehen ist in meiner Heimatstadt Köln angesiedelt, die zwar keine große Rolle spielt, aber ab und zu durchaus ihren Charme - ja, den gibt es - einbringt.

Für all das verzeihe ich dem Autor kleinere Mängel wie ab und zu aus meiner Sicht zu machomäßige Wendungen - die brutale Russenmafia und diverse Szenen, in denen Sex auf verschiedene Weise eine Rolle spielte, hätten aus meiner Sicht nicht vorkommen müssen. Zudem verlaufen einige Erzählstränge völlig im Sande - ein Aspekt, der gerade bei Thrillern und Krimis aus meiner Sicht unverzeihlich ist. Aber nicht hier, denn diese Lektüre möchte ich keinesfalls missen und empfehle sie sowohl Krimi- als auch Thrillerfans uneingeschränkt weiter!

Veröffentlicht am 26.07.2018

Ein Leben für die Kindererziehung

Das Nachtfräuleinspiel
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Das lebt Liane, die in den 1960er Jahren zur Erzieherin ausgebildet wurde und damals Methoden wie Prügel und Zwangsschlaf in den Kindergärten mitbekommen hatte. Nicht mit ihr! Nach einigen Jahren - inzwischen ...

Das lebt Liane, die in den 1960er Jahren zur Erzieherin ausgebildet wurde und damals Methoden wie Prügel und Zwangsschlaf in den Kindergärten mitbekommen hatte. Nicht mit ihr! Nach einigen Jahren - inzwischen mit Carl, dem Mann ihrer Träume verheiratet - gründet sie in der schwäbischen Provinz eine eigene KITA und schwingt sich auf zur Erziehungsexpertin - Medienpräsenz inklusive!

In den 1980ern kreuzt sich ihr Leben mit dem von Annamaria, einer klugen jungen Frau ohne jegliche Perspektive - schwanger, kürzlich vergewaltigt und ganz ohne Unterstützung steht sie alleine da und wird von Liane anstelle eines AuPair zur Unterstützung im Haushalt und bei der Betreuung ihrer mittlerweile fünf Kinder eingestellt, nein: aufgenommen. Denn Annamaria ist ihr sehr dankbar für diese Hilfe in der Not und bringt sich entsprechend in den Haushalt ein.

Stimmungsvoll und gekonnt recherchiert ist dieses wundervolle Buch, das allerdings alles andere als ein Wohlfühlroman ist. In ihrem einzigartigen Schreibstil baut Anja Jonuleit diesen ungeheuer dichten, spannungsreichen Roman schrittweise auf. Ich jedenfalls konnte ihn kaum aus der Hand legen, roch die schwäbische Enge, habe die alternative Münchner WG der 1960er, das Haus von Liane und Carl sowie weitere Schauplätze quasi von innen betrachtet, sah Liane, Annamaria und die anderen Protagonisten förmlich vor mir und habe sämtliche Entwicklungen mitgelebt. Bis zum Schluss zog sich das hohe Niveau durch und es hat mich überhaupt nicht gestört, dass nicht alle Handlungsstränge aufgelöst werden konnten. Die subtile Eleganz der großartigen Anja Jonuleit war wirklich ein absoluter Genuss, auch wenn unter den Hauptfiguren kaum Sympathieträger waren. Also kein Roman zum Kuscheln, sondern einer, der zur inneren Auseinandersetzung des Lesers mit der deutschen Gesellschaft, insbesondere im Bereich Erziehung, seit den 1960er Jahren einlädt. Dabei ist die Handlung trotz des hohen Anspruchs - sowohl an Autorin als auch an den Leser - durchgehend ausgesprochen unterhaltsam und leicht zu lesen, auch wenn ich immer wieder gestutzt habe ob der Selbstverständlichkeit, mit der perfideste Methoden durchgezogen und merkwürdigste Einstellungen gelebt werden.

Ein kraftvoller, eindringlicher Roman und ein weiteres Highlight aus der Feder der Autorin Jonuleit, das in mir bereits die Vorfreude auf ihr nächstes Werk weckt! Wie weit Schein und Sein manchmal auseinanderklaffen - das wird hier auf beängstigende Weise verdeutlicht. Sehr lesenswert!

Veröffentlicht am 25.07.2018

Der Pfau ist tot, der Pfau ist tot.

Der Pfau
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Der Pfau ist tot, der Pfau ist tot... Er kann nicht mehr schrei'n kokodi kokoda

Sie werden mir entgegnen, dass ein Pfau - im Gegensatz zum Hahn, dem Originalhelden dieses Liedes, kein "kokodi" von sich ...

Der Pfau ist tot, der Pfau ist tot... Er kann nicht mehr schrei'n kokodi kokoda

Sie werden mir entgegnen, dass ein Pfau - im Gegensatz zum Hahn, dem Originalhelden dieses Liedes, kein "kokodi" von sich gibt. Stimmt natürlich, aber das ist auch gar nicht wesentlich. Der Pfau, um den es hier geht - zeit seines Lebens ein recht anstrengender Geselle, der mit seiner Fixierung auf die Farbe Blau so manchen Zeitgenossen in die Bredouille brachte - ist nun tot und gewisse Zeitgenossen haben ein Interesse daran, diesen Umstand bzw. bestimmte, damit verbundene Details vor einigen ihrer Mitmenschen zu verbergen. Gar nicht so einfach, aber umso köstlicher zu lesen, was sich Isabel Bogdan hier ausgedacht hat.

Der Pfau ist einer der Bewohner eines stattlichen, gleichwohl abgehalfterten Landsitzes, in dem die Besitzer, überaus sympathische Lordschaften, eine Art Hotel eingerichtet haben, um die alten Gebäude überhaupt halten zu können. Die aktuellen Besucher, die mit dem Pfau und bald darauf mit seinem Tod konfrontiert werden, sind Banker, die sich zu einem Team-Building-Seminar eingefunden haben, begleitet von einer Moderatorin, einer Köchin und dem Hund ihrer Chefin.

Innerhalb der Gruppe und auch in Interaktion mit den überaus bodenständigen und ländlich-unkomplizierten Lordschaften und deren spärlichen Personal gibt es eine spannungsreiche Dynamik gespickt mit einer ganzen Reihe von Missverständnissen. Isabel Bogdan, ihres Zeichens Übersetzerin englischer Romane, zeigt hier, dass sie den englischen Sense of humour genau erfasst hat (zumindest aus nicht-englischer, also meiner Sicht) und locker mit Autoren wie Alan Bennett mithalten kann - dieser Roman steht, so meine ich, ganz in der Tradition von humorvoller, origineller englischer Unterhaltungsliteratur mit Anspruch. Ich kenne das englische Landleben ein wenig und finde, dass die Autorin hier genau den richtigen Ton getroffen und sehr, sehr scharfsinnige Beobachtungen getätigt hat. Ihre Figuren sind ganz außerordentlich gut ausgearbeitet, es macht einen Riesenspaß, Ayleen, die so etwas wie eine Haushälterin auf dem Landsitz ist, die überaus charismatischen Lordschaften oder auch die zur Bankergruppe gehörende Köchin kennenzulernen.

Auch die Entwicklung, die vor allem die Bankergruppe durchlebt, ist eine spannende und vielschichtige - danach nimmt man Teambuilding-Seminare gleich in einem ganz anderen Licht wahr.

Ein kleines, amüsantes Buch, ein richtiges Juwel und ein passendes Geschenk für viele Gelegenheiten, bspw. auch ganz klar für Rekonvaleszenten, deren Verfassung sich nach dieser Lektüre mit Sicherheit ganz außerordentlich bessern dürfte - außer, sie sind von Haus aus humorlos und miesepetrig. Ich empfehle es jedem, der etwas Wärme und Freude braucht, um durch den zwar nicht - wie dem im Buch geschilderten - eiskalten, aber umso graueren Winter zu kommen.

Veröffentlicht am 25.07.2018

"Familie ist dort, wo es genug Liebe gibt" (S. 282)

Die Reise mit der gestohlenen Bibliothek
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Bobby Nusku ist zwölf Jahre alt und befindet sich definitiv nicht auf der Sonnenseite des Lebens. Er wartet auf die Rückkehr seiner plötzlich verschwundenen Mutter und ist derweil seinem lieblosen, mitunter ...

Bobby Nusku ist zwölf Jahre alt und befindet sich definitiv nicht auf der Sonnenseite des Lebens. Er wartet auf die Rückkehr seiner plötzlich verschwundenen Mutter und ist derweil seinem lieblosen, mitunter auch brutalen Vater und dessen neuer Freundin ausgeliefert, die sich einen Dreck um ihn scheren. Zudem wird er in der Schule gemobbt. Er gewinnt einen treuen Freund, Sunny, der sich zum Cyborg ummodeln lassen will, um ihn zu beschützen, aber auch das klappt nicht so recht.
Durch Zufall trifft er Rosa, in seinem Alter, aber anders als alle, die er bisher kennengelernt hat - und mit ihr Val, ihre bezaubernde, liebliche und überaus freundliche Mutter, die auch noch köstlich kochen kann. Eines führt zum anderen, ihre Beziehung wird von der Außenwelt gründlich missverstanden und ehe man sich versieht, befinden sich die drei auch schon auf der Flucht - und zwar ausgerechnet in einem Bücherbus - das ist eine mobile Bücherei, die Val eigentlich nur putzen soll. Jetzt ist es ihr Zuhause und auch wenn die drei wenig haben, gibt es eines im Überfluss: und zwar Bücher.

Und diese nutzen sie auf verschiedene Art und Weise, als Lebenshilfe und Ratgeber, zum Überleben, zum Verschenken, zum Fortbilden und, und, und...
Ein ganz besonderer Roman im Stil eines Road-Movies, in dem die drei durch ganz England tingeln, dabei den zunächst ziemlich gruseligen Joe aufgabeln, der sie bis nach Schottland bringt. Ich hätte auch "Wahlverwandtschaften" als Titel nehmen können, denn nichts anderes ist, das diese - mittlerweile vier -Menschen verbindet - sie werden zur selbstgewählten Familie: ihr Schicksal und die Liebe schweißen sie zusammen: Den Jungen, die Königin, die Prinzessin und den Höhlenmenschen (S. 282)

Doch es ist keine friedvolle Reise, auf der sie sind, denn die Polizei ist ihnen auf der Spur. Werden sie aus der Nummer rauskommen? Wird Bobby -wie erhofft - seine Mutter finden? Wird er Sunny wiedersehen und ist dieser mittlerweile zum Cyborg geworden? Und vor allem - gibt es ein glückliches Ende für den Bücherbus und seine Insassen, die zu seinen Bewohnern geworden sind?
Eines ist sicher - das glückliche und runde Ende für den Leser, denn dies ist ein Gute-Laune Buch par excellence. David Whitehouse schreibt anrührend, ohne rührselig zu werden, es ist ein Buch zum Lachen, doch auch zum Weinen: es ist fröhlich, traurig, sanft und hart zugleich und bietet einen Showdown, der seinesgleichen sucht.

Ein Buch über Einsamkeit, aber mehr noch über Freundschaft - und vor allem über Liebe. Ich werde es mit Sicherheit allen mir Nahestehenden schenken, die aus meiner Sicht ein bisschen seelische Unterstützung der besonderen Art nötig haben!