Spoilerfreie Rezension
Inhalt
Vor dreißig Jahren traf Eddie den Kreidemann auf einem Jahrmarkt. Durch ihn wurden er und seine Freunde auf die Idee gebracht, sich mithilfe von Kreidezeichnungen an verschiedenen Orten zu verabreden. Doch eines Tages passierte etwas Schreckliches: Die Kreidefiguren führten die jungen Freunde in einen Wald, wo sie einen furchtbaren Fund machten. Dort lag die Leiche eines jungen Mädchens. All dies ist nun viele Jahre her und eigentlich hat Eddie mit seiner Vergangenheit abgeschlossen, doch eines Tages erhält er einen mysteriösen Brief. Darin enthalten: eine Zeichnung und ein Stück Kreide… Was hat das zu bedeuten? Und hat die Vergangenheit jemals wirklich geruht?
Übersicht
Einzelband oder Reihe: Einzelband
Verlag: Goldmann
Seitenzahl: 384
Erzählweise: Ich-Erzähler, Präsens & Präteritum
Perspektive: aus männlicher Perspektive (Ed) Kapitellänge: mittel
Tiere im Buch: -/+ Es wird ein Hund vergiftet, er leidet sehr und stirbt. Gleichzeitig wird das Tier jedoch umsorgt und sehr geliebt. Einmal wird erwähnt, dass ein Vogel mit einem Stein von seinem Leid „erlöst“ wird.
Warum dieses Buch?
Das Cover hat mich im ersten Moment ziemlich abgeschreckt. Ein typischer 0815-Thriller dachte ich, erst die begeisterten LeserInnen-Meinungen haben mich einen erneuten Blick auf dieses Buch werfen lassen. Und das war eine sehr, sehr gute Entscheidung…
Meine Meinung
Einstieg (♥)
Dieses Buch hat mich vom ersten Wort an begeistert. Der Buchbeginn ist unheimlich und ich befand mich sofort mitten in der Geschichte, konnte mitfiebern und mitfühlen. Schon lange ist mir der Einstieg nicht mehr so einfach und angenehm gelungen.
Schreibstil (♥)
C. J. Tudor hat einen wundervollen Schreibstil, der mich in seinen Bann gezogen hat. Die Autorin ist eine talentierte Geschichtenerzählerin, die einen sofort auf eine Reise in Eds Welt mitnimmt. Es scheint unglaublich, dass man hier ein Debüt vor sich hat. So angenehm und flüssig, so präzise und gelungen zeigt sich die Sprache. Die Sätze wirken routiniert, und obwohl das Buch stellenweise relativ dialoglastig ist, wird der Schreibstil niemals banal oder oberflächlich. Im Gegenteil – C. J. Tudor hat hier einen Thriller voller Tiefe, Spannung und Emotionen geschaffen, der genau jene Leute ansprechen sollte, die auch von diesem Buchgenre mehr erwarten als bloße Spannung. Die Sprache ist angenehm komplex, enthält wundervolle Beobachtungen menschlicher Verhaltensweise und enthält faszinierende, „weise“ Wahrheiten.
„Wenn unsere Welt eine Schneekugel wäre, war dies der Tag, an dem irgendein Gott vorbeigeschlendert kam, sie einmal kräftig durchschüttelte und wieder hinstellte. Und nachdem Schaum und Flöckchen sich gesetzt hatten, war nichts mehr wie zuvor. Nicht genau wie zuvor. Durchs Glas mag es genauso ausgesehen haben wie vorher, aber im Inneren war alles anders.“ Seite 9
Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (♥)
Endlich: Der Stephen King für alle, denen Stephen King zu sehr ausschweift, wurde publiziert. Tatsächlich weist das Buch einige Parallelen mit dem dicken Wälzer „Es“ auf, wie sogar vom Autor selbst beobachtet wurde, jedoch wirkt es keinesfalls wie eine Kopie. Hauptsächlich betrifft dies den Erzählstrang, der sich mit Eds Kindheit im Jahre 1986 beschäftigt: Eine Gruppe Freunde macht eine furchtbare Entdeckung, die sie auch in der Gegenwart (2016) immer noch nicht ganz losgelassen hat. Die Autorin zeichnet ein authentisches Porträt des Lebens in den 80ern, lässt wie in „Es“ ein Mädchen Teil der Gruppe sein. Auch die umheimliche Atmosphäre erinnert ans genannte Werk – „Es“ habe ich aber damals nach ca. 200 Seiten abgebrochen, weil mir King zu ausschweifte. Wer also immer schon King-Stimmung erleben wollte, aber auf weniger Seiten, der sollte definitiv zu diesem Prachtexemplar von einem Thriller greifen.
Aber auch der zweite Handlungsstrang in der Gegenwart weiß zu überzeugen. Es ist sehr interessant zu sehen, was aus Ed und seinen Freunden geworden ist. Vor allem dem Protagonisten der Geschichte haben die 30 Jahre, die vergangen sind, nicht gutgetan: Er hat ein Alkoholproblem, wirkt verloren und planlos, fühlt sich so älter als manch 75-Jähriger. Mehr als einmal wünscht man sich unbedingt, dass er endlich das Glück findet.
In „Der Kreidemann“ wird nicht brutal drauflosgemetzelt – nein – der Thriller zeichnet sich oft durch ruhigere Töne aus, nimmt sich Zeit für seine Figuren und ernsten Themen wie Schuld, Familie, Angst, Liebe, Missbrauch und Gewalt (und der Umgang damit in den 1980ern), Einsamkeit und die oft schrecklichen Konsequenzen von eigentlich gut gemeinten Handlungen. C. J. Tudor erschafft einen Thriller, der ein tiefgründiges, rundes Ganzes ergibt und der mir fast perfekt erschien. Lediglich die Auflösung konnte mich nicht vollkommen überzeugen, dennoch lässt die Autorin im Anschluss das Buch sehr emotional und wirkungsvoll enden.
Protagonist & Figuren (♥)
Die Figuren sind wahnsinnig interessant und liebevoll gezeichnet, man merkt, dass die Autorin hier viel Zeit und Mühe investiert hat. Sie erschafft komplexe, komplizierte Personen mit Eigenheiten, Macken und Geheimnissen, die von ihrer Vergangenheit gezeichnet wurden. Dabei sind die Charaktere stets authentisch, handeln nachvollziehbar und sind meist auch ziemlich sympathisch. Das Figuren-Ensemble, das aus vielen verschiedenen Persönlichkeiten besteht, ist bis in die Nebenfiguren einzigartig, dreidimensional und sehr gelungen. Ich wünschte, es gäbe mehr Thriller wie diesen!
Spannung & Atmosphäre (♥)
Atemlose Spannung wird man in diesem Thriller nur teilweise finden, dafür aber immer eine unheilvolle, atmosphärisch dichte Grundstimmung, die über der Kleinstadtidylle liegt und die LeserInnen ständig darauf warten lässt, dass etwas Schlimmes seinen Lauf nimmt. Diese psychologische Spannung wird schon am Anfang aufgebaut und von der Autorin bis zum gelungenen Schluss gehalten. Unerwartete Wendungen und gut platzierte Cliffhanger sorgen für Neugier und so manchen Gänsehaut-Moment. In Eds Geschichte gibt es viele traurige, ernste, schockierende, aber auch viele schöne Momente: Intensive Freundschaften und erlebnisreiche Sommertage kennzeichnen seine Kindheit. Und weil die Figuren so echt wirken, gelingt es der Autorin spielend leicht, bei ihren LeserInnen große Emotionen zu wecken.
Geschlechterrollen & Diversisät (-/+)
Der einzige Bereich, bei dem das Buch nicht ganz bei mir punkten konnte. Zwar gibt es durchaus auch in Eds Kindheit starke Frauen (Nicky, die Mutter), die sehr erfolgreich oder selbstbewusst sind. Auch entspricht Nicky keinen Rollenstereotypen, ebenso dürfen auch Männer weinen, weniger erfolgreich sein als die Ehefrau, kochen und backen. Jedoch blitzt vor allem im früheren Erzählstrang immer wieder durch, was von Frauen erwartet wurde/wird und statt der weiblichen Form wird gerne die männliche benutzt (Idiot, Freund). Andeutungen, dass Männer nur als Singles kochen müssten (weil das in einer Beziehung ja dann selbstverständlich die Frau zu übernehmen hat, furchtbar!) und dass Kochen Frauenarbeit sei, haben mir nicht gefallen, spiegeln aber wohl sehr treffend die Einstellungen der damaligen Zeit wider, weswegen ich hier nicht so streng bin. Auch das Wort „Schlam**“ wird mehrmals benutzt, leider auch von Kindern, dazu werden auch „politisch unkorrekte“ Beleidigungen abgefeuert, die sich auf Menschen mit psychischen Krankheiten, auf Homosexuelle und auf Minderheiten beziehen. Auch dies spiegelt aber wohl die damaligen Einstellungen wider und ich denke, dass dies auch deutlich gemacht werden sollten (durchaus mit einem kritischen Hintergedanken).
Mein Fazit
Endlich: Der „King“ für alle, denen Stephen King zu sehr ausschweift! „Der Kreidemann“ weist Parallelen zu „Es“ auf, ist jedoch keinesfalls eine Kopie. Er ist ein Thriller für all jene, denen atemlose Spannung eben nicht reicht, sondern die auch bei diesem Genre Emotionen, Tiefe und liebevoll gezeichnete Figuren brauchen, um glücklich zu werden. Der Schreibstil ist ebenso wundervoll, und auch wenn der eher ruhige Thriller weniger auf ausufernde Brutalität als auf knisternde psychologische Spannung setzt, so sorgen unzählige unerwartete Wendungen und gut platzierte Cliffhanger dafür, dass es niemals langweilig wird. Beim Lesen kann man gar nicht glauben, dass es sich hierbei um ein Debüt handeln soll! Ich fühlte mich erstklassig unterhalten, habe mitgefühlt und mitgefiebert und nun bleibt mir nur, der „Sunday Times“ zuzustimmen und ihr Zitat etwas umzuändern: Wenn Sie dieses Jahr nur einen Thriller lesen – lesen Sie diesen!
Betrachtet das nächste Buch der Autorin als gekauft, denn ich habe in C. J. Tudor eine neue Lieblingsautorin für mich entdeckt.
Bewertung
Idee, Themen, Botschaft: 5 Sterne ♥
Worldbuilding: 5 Sterne
Ausführung: 5 Sterne ♥
Einstieg: 5 Sterne ♥
Schreibstil: 5 Sterne ♥
Protagonist: 5 Sterne ♥
Nebenfiguren: 5 Sterne ♥
Atmosphäre: 5 Sterne ♥
Spannung: 5 Sterne ♥
Ende: 5 Sterne ♥
Emotionale Involviertheit: 5 Sterne ♥
Geschlechterrollen: +/-
Tiefgründig!
Insgesamt:
❀❀❀❀❀♥ Lilien und ein Herz
Dieses Buch bekommt von mir 5 Lilien und ein Herz – und somit den Lieblingsbuchstatus und eine uneingeschränkte Leseempfehlung!