Kurzmeinung:
Dieses Buch hat mich so sehr gefesselt, dass ich es innerhalb von zwei Tagen verschlungen habe. Es hat mich zunächst sprachlos gemacht und dann unglaublich wütend. Es hat mich bewegt, erschüttert und es war gleichzeitig schmerzhaft und gut, es zu lesen.
Meine Meinung:
Wow, was für ein Buch. Es fällt mir wirklich schwer in Worte zu fassen, was dieses Buch in mir ausgelöst hat. Zunächst einmal: es ist sehr gut geschrieben. Es zeichnet sich zwar nicht durch einen besonderen, herausragenden Schreibstil aus, dafür aber ist es unheimlich fesselnd und hat sehr viel Handlung.
Das Buch beginnt und man wird sofort mitten in die Handlung geworfen. Die neue, dystopische Welt existiert schon und wird der Leserin/ dem Leser nun nach und nach vorgestellt. Wir begleiten Jean, die Ich-Erzählerin. Sie erzählt von ihrem Alltag. Früher war sie eine angesehene Forscherin. Nun trägt sie, wie alle Frauen und Mädchen, einen Wortzähler am Handgelenk und ist selbst der fundamentalsten Rechte beraubt, dem Recht, frei zu reden. Nur 100 Worte haben weibliche Personen am Tag zur Verfügung. Überschreiten sie dieses Limit, werden sie mit schmerzhaften Elektroschocks bestraft. Sie dürfen nicht lesen, nicht schreiben, keine Zeichensprache benutzen, sich auch sonst auf keine Art und Weise ausdrücken.
Nach und nach erfährt man das ganze Ausmaß dieser Einschränkungen und wie es den Alltag beeinflusst. Kein Smalltalk mit dem Postboten, keine Kochbücher, in denen die Lieblingsrezepte notiert sind, keine ausführlichen Gespräche mit den eigenen Kindern und natürlich keine Möglichkeit zu arbeiten.
In Rückblicken erfährt man dann, wie es zu dieser Situation kommen konnte. Wie eine radikal konservative Partei, oder eher eine Bewegung –die "Reinen"– mit einer sehr charismatischen Führungspersönlichkeit die "guten alten Zeiten" glorifizierten. Wie sie die alten Rollenaufteilungen propagierten und die "natürliche Ordnung" vom Mann als Führer und Familienoberhaupt und der Frau als gehorsame Dienerin anpriesen. Und wie emanzipierte Frauen wie Jean das zunächst als lächerlich abtaten. Solche radikalen und rückständigen Ansichten hätten doch nie eine Chance. Aber nach und nach wurden immer weniger Frauen in den Senat gewählt. Nach und nach wuchs die Zustimmung für Morgen LeBron und seine "Reinen". Und was als schleichender Prozess begann, war irgendwann plötzlich Realität und unumkehrbar.
In diesem Buch werden sehr viele, sehr wichtige Punkte vermittelt. Zum Beispiel die Bedeutung von politischer Teilhabe. Wie wichtig es ist, sich zu informieren und sich für seine Vorstellungen und Überzeugungen einzusetzen und nicht nur passiv zu sein und zu denken "So weit wird es schon nicht kommen". Das hat mich persönlich sehr bewegt und mich angesprochen, da es auch für mich in meiner aktuellen Lebenssituation viel Bedeutung hat. Denn auch ich habe vor der Bundestagswahl gedacht "Wo weit kann es doch nicht kommen. So eine Partei mit solchen populistischen Parolen, da fällt doch niemand drauf rein". Und dann kam es doch anders. Dieses Buch war für mich ein erneuter Weckruf, dass der Frieden und die politische Ordnung, in der wir leben niemals eine Selbstverständlichkeit ist, sondern dass sie Arbeit und Engagement erfordert und das es so, so wichtig ist, seine Stimme und seinen Einfluss zu nutzen.
>> "Es ist nicht deine Schuld", sagt Lorenzo. Doch. (...) Meine Schuld begann vor zwei Jahrzehnten, als ich zum ersten Mal nicht zur Wahl ging, die unzähligen Male, an denen ich Jackie abwimmelte, ich hätte zu viel zu tun, um an einer ihrer Demos teilzunehmen oder Plakate zu basteln oder meinen Kongressabgeordneten anzurufen.<<
(Aus "Vox", S. 283)
Denn was passieren kann, wenn man das nicht tut, dass müssen die Frauen in "Vox" am eigenen Leib erfahren. Wie schnell es gehen kann. Dieses schreckliche Szenario der Entmündigung der Frauen ist so grauenvoll, so beängstigend. Und trotzdem ist der Weg dorthin so gut und realistisch beschrieben, dass es wie eine reale Möglichkeit erscheint. Und wenn man sich dann aktuell die sinkenden Zahlen an Frauen im Bundestag anschaut, Parteien, die ein Frauenbild aus den 50ern zurückfordern; da lief mir beim Lesen von "Vox" wirklich ein Schauer über den Rücken, weil ich einfach viel zu viele Bezugspunkte finden konnte.
In dem Buch kommt sehr gut rüber, wie sehr die Frauen unter den Einschränkungen leiden. Wie schlimm es für den Geist ist, so unterfordert zu sein. Wie grausam es für das soziale Wesen der Menschen ist, nicht kommunizieren und sich nicht ausdrücken zu dürfen. Besonders getroffen haben mich die Stellen, in denen Jean sich immer wieder einreden muss, ihren Mann und ihren Sohn nicht zu hassen. Das es die Machthaber sind und das System, das sie hasst.
Auch mich hat Steven, der älteste Sohn von Jean, so unglaublich wütend gemacht. Er verfällt der Ideologie der "Reinen" und nutzt seine Machtposition schamlos aus. Er fühlt sich schnell als etwas Besseres, als überlegen. Und das nur, weil er zufällig dem "richtigen" Geschlecht angehört. Das hat mich beim Lesen so wütend gemacht, dass ich mich ein paar mal wirklich beherrschen musste, nicht das Buch an die Wand zu schleudern.
Auch die Passagen, in denen die Auswirkungen auf Jeans Tochter Sonia zu sehen sind, haben mich sehr bewegt. Ein Mädchen, dass sich nicht an die Zeit "davor" erinnern kann. Für die das Leben schon immer von Wortkontingenten und Fügsamkeit bestimmt war. Kaum vorzustellen, wie so eine Generation von Frauen aussähe.
Ein Großteil der Handlung dreht sich dann um eine Chance, die Jean bekommt. Ich möchte nicht zu viel verraten. Nur so viel: ihr wird angeboten, wieder in ihrem alten Job als Neurolinguistin zu arbeiten. Es wird dann auch einiges über ihren Job und ihre Forschung geschrieben, was ich persönlich sehr spannend fand, da ich durch mein Studium auch einiges über Neuroanatomie und Neurolinguistik gelernt habe und mir das Broca Areal und die Wernicke-Aphasie ein Begriff waren. Da fand ich es dann ganz spannend, in einem Roman darüber zu lesen. Ich kann mir aber vorstellen, dass es dem ein oder anderen etwas zu viele wissenschaftliche Fakten sind, zumal sie für den Verlauf der Handlung eigentlich nicht notwendig wären.
Ich muss gestehen, dass für mich dieser "Hauptteil" der Handlung eigentlich weniger interessant war. Klar, es ist spannend geschrieben und am Ende konnte ich das Buch nicht aus der Hand legen, so gefesselt war ich. Aber was das Buch für mich zu etwas Besonderem macht, was mich so bewegt hat und noch lange beschäftigen wird, war nicht die actiongeladene Handlung, sondern das ganze Szenario und der (politische) Weg dorthin.
Einziger Wermutstropfen an diesem Buch war für mich das Ende. Ich kann hier natürlich nicht genau verraten, warum es mir nicht gefallen hat, da ich nicht zu viel verraten möchte. Aber ich denke, da hätte man einfach mehr draus machen können. Diese starke Geschichte hätte meiner Meinung nach ein besseres Ende verdient.
Fazit:
Ein Buch das aufrüttelt, das bewegt, das einen fesselt und lange nicht mehr loslässt. Es bietet rasante Handlung, Spannung, aber auch Gänsehautmomente und viele wichtige Gedankenanstöße. Es hat zwar auch seine Schwächen, aber über die sehe ich gerne hinweg, weil es so viel in mir ausgelöst hat –und das schafft nicht jedes Buch. Schon jetzt eines meiner Highlights in diesem Jahr.