Cover-Bild Atemschaukel
24,00
inkl. MwSt
  • Verlag: Hanser, Carl
  • Themenbereich: Belletristik - Belletristik: zeitgenössisch
  • Genre: Romane & Erzählungen / Sonstige Romane & Erzählungen
  • Seitenzahl: 304
  • Ersterscheinung: 17.08.2009
  • ISBN: 9783446233911
Herta Müller

Atemschaukel

Roman
Rumänien 1945: Der Zweite Weltkrieg ist zu Ende. Die deutsche Bevölkerung lebt in Angst. "Es war 3 Uhr in der Nacht zum 15. Januar 1945, als die Patrouille mich holte. Die Kälte zog an, es waren -15º C." So beginnt ein junger Mann den Bericht über seine Deportation in ein Lager nach Russland. Anhand seines Lebens erzählt Herta Müller von dem Schicksal der deutschen Bevölkerung in Siebenbürgen. In Gesprächen mit dem Lyriker Oskar Pastior und anderen Überlebenden hat sie den Stoff gesammelt, den sie nun zu einem großen neuen Roman geformt hat. Ihr gelingt es, die Verfolgung Rumäniendeutscher unter Stalin in einer zutiefst individuellen Geschichte sichtbar zu machen.

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Lesejury-Facts

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 28.11.2018

„Robert, geb. am 17. April 1947“

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„Robert, geb. am 17. April 1947“ S. 212

Intensiv.
“Alles, was ich habe, trage ich bei mir.
Oder: Alles Meinige trage ich bei mir.
Getragen habe ich alles, was ich hatte. Das Meinige war es nicht.“ S. ...

„Robert, geb. am 17. April 1947“ S. 212

Intensiv.
“Alles, was ich habe, trage ich bei mir.
Oder: Alles Meinige trage ich bei mir.
Getragen habe ich alles, was ich hatte. Das Meinige war es nicht.“ S. 7
Das ist keine sprachliche Spinnerei – der 17jährige aus der deutschstämmigen Minderheit der Siebenbürger Sachsen in Rumänien hat die Ankündigung bekommen, von den Russen ins Lager abgeholt zu werden. Es ist Januar 1945, Herrmannstadt. Nachbarn und Familie hlefen aus, mit der warmen Hose, dem Mantel.

Naiv.
„Ich wollte weg aus dem Fingerhut der kleinen Stadt“ S. 7
Unberührt von den diffusen Ängsten der anderen, wünscht sich der Ich-Erzähler das Entkommen aus der Enge. Er will weg von den konkreten Ängsten des bisherigen Lebens „Ich trage stilles Gepäck. Ich habe mich so tief und so lang ins Schweigen gepackt, ich kann mich in Worten nie auspacken. Ich packe mich nur anders ein, wenn ich rede.“ S. 9

Das Buch wurde geschrieben, nachdem sich Herta Müller, selbst in Rumänien geborene Deutsche, zu vielen Gesprächen getroffen hatte mit Oskar Pastior, angelehnt an dessen Lagerjahre. https://de.wikipedia.org/wiki/Oskar_Pastior
Auch die Mutter der Autorin war in einem Lager gewesen. 2009 - das Erscheinungsjahr dieses Buches und das Jahr, in dem Müller den Nobelpreis für Literatur erhielt.

Hunger. Heimweh. Wiederholung.
„Ich esse seit meiner Heimkehr aus dem Lager, seit sechzig Jahren, gegen das Vergessen.“ S. 25
Krankhungrig, giftschön, Hungerecho
Beim Apell sucht er im Himmel nach einem „Haken“, für seine Knochen, nachdem das Fleisch vom Körper verschwunden ist.
„Oft gab es keine Wolke, nur einerlei Blau wie offenes Wasser.
Oft gab es nur eine geschlossene Wolkendecke, einerlei Grau.
Oft liefen die Wolken, und kein Haken hielt still.
Oft brannte der Regen in den Augen und klebte mir die Kleider an die Haut.
Oft zerbiss mir der Frost die Eingeweide.“ S. 27

Die Mittel der Autorin wirken wie dumpfe Trommelschläge, die dem Leser die Eindrücke unter die Kopfhaut schieben. Es gibt viele eigene Wortschöpfungen, erfunden, um in Worte zu fassen, wofür der „normal lebende“ keinen Begriff hat. Die Wiederholungen für die ewigen Wiederholungen des Lagerlebens, der ewige Hunger mit allem und mit allen. Es geht nicht um irgendwelche Folter im Lager, es gibt sogar anrührende Fälle von Menschlichkeit. Da gibt die alte Frau aus der Region Suppe, ein Taschentuch – der eigene Sohn wurde vom Nachbarn denuziert, sitzt in einem anderen Lager. Der Ich-Erzähler gibt das Taschentuch nie weg, es wird ihm zum Pfand, wie der Satz, den die Großmutter gesagt hatte „ICH WEISS DU KOMMST WIEDER.“ S. 14

Fortlaufend finden Rückblenden und Vorausblicke des lange namenlosen Ich-Erzählers statt, ich weiß, er wird nach fünf Jahren nach Hause kommen, ich erfahre, was vorher war. Die fünf Jahre werden chronologisch erzählt, die Einschübe ins Vorher und Nachher weisen auf, was bleibt, was nie gehen wird, wie wenig sich etwas ändert.

Ich kam im Anfang nicht voran im Buch, weil es wirklich SEHR intensiv wirkte; ich musste Pausen einlegen.
Der Schreibstil war für mich genau SO richtig – einige empfinden ihn als maniriert. Ich empfehle das Antesten mit einer Leseprobe.
Von den dieses Jahr gelesenen Büchern beeindruckt mich dieses von 2009 bislang am meisten. Einzig um die Seite 200 herum wurde es mir ein wenig zu viel mit den Wiederholungen der Beschreibungen des Schaufelns, Zement, Kohle, Schlacke, die verschiedenen Arten – ja, das war sicher endlos, monoton, aber irgendwann auch für die Lektüre. Das ändert aber nichts am Allgemeineindruck.

Harter Tobak. Ein grandioses Buch.

Veröffentlicht am 17.08.2018

Die Kuckucksuhr und der Hungerengel

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„Das Lager ist eine praktische Welt. Die Scham und das Gruseln kann man sich nicht leisten. Man handelt in stabiler Gleichgültigkeit, vielleicht in mutloser Zufriedenheit. Sie hat mit Schadenfreude nichts ...

„Das Lager ist eine praktische Welt. Die Scham und das Gruseln kann man sich nicht leisten. Man handelt in stabiler Gleichgültigkeit, vielleicht in mutloser Zufriedenheit. Sie hat mit Schadenfreude nichts zu tun. Ich glaube, je kleiner die Scheu vor den Toten wird, umso mehr hängt man am Leben.“


Inhalt


Der 17-jährige Leopold Auberg wird nach Ende des Krieges in ein russisches Arbeitslager deportiert, in dem er fortan für 5 endlos lange Jahre, körperliche Schwerstarbeit zu menschenunwürdigen Lebensbedingungen verrichten muss. In dieser Zeit sieht er viele Sterben, erlebt er eine brutale Gleichgültigkeit, gegenüber Befindlichkeiten jeder Art. Das einzige was zählt, ist das Überleben, das Nicht-Verhungern, das Abschalten, die Anpassung. Begriffe wie Demütigung, Scham, Gerechtigkeit und Toleranz kommen ihm schnell abhanden, ebenso wie seinen Leidensgenossen. Manch einer zerbricht, viele verlieren den Kampf und deshalb beschließt Leopold, einen inneren Frieden mit seinem Schicksal zu schließen. Er wird nicht aufbegehren, nicht flüchten, nicht hadern, er schenkt sein junges Leben dem Lager selbst, kämpft den Kampf mit dem allseits aktiven Hungerengel und übt sich in stoischer Haltung. Heimweh lässt er nicht zu, doch die Worte seiner Großmutter bei der Verschleppung durch die Patrouille bewahrt er im Herzen, um sie eines Tages wahrwerden zu lassen: „Ich weiss du kommst wieder.“


Meinung


Der auf Tatsachen beruhende Roman der deutschen Autorin Herta Müller, war 2009 für die Shortlist des Deutschen Buchpreises nominiert und basiert auf Gesprächen mit Überlebenden der russischen Kriegsgefangenenlager. Allein die gewählte Thematik lässt auf einen bitteren, schwermütigen Roman schließen, der Menschen in den Mittelpunkt rückt, die nichts mehr hatten, niemand mehr waren und doch ein Leben besaßen, in das sie vielleicht eines Tages zurückkehren könnten. Einige haben es geschafft und diese dürfen nun erzählen, was sie verloren haben, was sie besiegen konnten und was ihnen letztlich bleibt. Die Autorin bemüht sich, ihre Stoffsammlung über die Grausamkeiten in Form einer Geschichte zu formulieren, dennoch bleibt das Buch für mich ein Bericht, eine sehr sachliche, nüchterne Abhandlung mit wenig Romancharakter. Natürlich ist es kein Sachbuch, doch vermittelt es mehr Wissen als Gefühl und lässt mich so zwar teilhaben am Lagerleben und der endlosen Eintönigkeit in der Steppe, doch es findet keinen Weg in mein Herz. Vielleicht auch, weil ich persönlich keinerlei Bezug zu Gefangenenlagern habe und sich für mich nur ein Bild der Menschenunwürdigkeit zu einem unheimlich hohen Preis aufdrängt. Doch das habe ich anderen Büchern auch schon gelesen.


Die Charaktere selbst bleiben etwas blass, ihr Leid wird jedoch in zahlreichen Facetten aufgegriffen. Leopold war erst 17 Jahre als er interniert wurde, immer wieder musste ich mir das vor Augen halten, denn gefühlt war der schon viele Jahre älter, im letzten Drittel des Buches dann die Rückkehr nach Hause, ein Leben jenseits der abgeschnittenen Freiheit und doch nichts anderes als ein seelisches Gefängnis. Nie mehr ist er der Mann geworden, der er hätte sein können, wenn es dieses Kapitel nicht gegeben hätte.


Es gibt zwei Punkte, die mich dazu bewogen haben, das Buch besser zu bewerten, als ich es tatsächlich empfunden habe. Zum einen ist es die Tatsache, dass Herta Müller hier einen Roman gegen das Vergessen geschrieben hat, mit Hilfe jener Zeitzeugen die mittlerweile nicht mehr leben. Sie hat ihnen eine Stimme gegeben, die auch Generationen später noch wirkt– ein wichtiger, sehr elementarer Faktor der zeitgenössischen Literatur.

Und zum anderen ist es die Kraft ihrer Sprache, die Wortwahl, die bedeutungsschwangeren Sätze, die mich immer wieder haben innehalten lassen und die für mich das Glanzstück dieses Werkes sind. Ganz philosophische Betrachtungen, schön formuliert, teilweise in selbstgewählten, abstrakten Begriffen wie „Atemschaukel“, „Hungerengel“, „Herzschaufel“ oder „Wangenbrot“. Dieser nicht ganz alltägliche Schreibstil, bleibt mir in Erinnerung und ich könnte mir dieses Stück Literatur auch sehr gut im Unterricht vorstellen, weniger wegen der Einprägsamkeit, vielmehr, um zu zeigen, wie es war, zum Gedenken und Erörtern. Denn all das verspürt man beim Lesen: den Wunsch sich auszutauschen über die Inhalte und Erkenntnisse.


Fazit



Ich vergebe 3,5 Lesesterne (aufgerundet 4) für diesen klaren, aussagekräftigen, sachlichen Roman über ein Leben in der Einöde, immer an der Grenze zwischen Sterben und Überleben, fernab der Menschlichkeit, fernab der emotionalen Zuwendung, beschränkt auf die nächsten 24 Stunden, die überlebt werden müssen. Erschreckend und bewegend ist das Gesamtszenario, die Gründe für diese verachtende Lebensweise, die Sinnlosigkeit des Menschseins im Angesicht der Willkür anderer. Gerechtigkeit kann man nicht erfahren, sich nicht auf Glück und Zufälle berufen, noch nicht einmal begreifen, welche seelischen Verwundungen entstanden sind und doch setzt sich ganz zum Schluss ein überwältigender Gedanke fest: es wird immer, irgendwie weitergehen. Nicht unbedingt hoffnungsfroh aber zumindest überlebensfähig. Ein Roman, bei dem man das Gefühl verspürt, sich mit der Gemeinschaft darüber auszutauschen, selbst wenn er es nicht in die Riege der persönlichen Favoriten schafft.