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Veröffentlicht am 17.09.2018

Das Alte war fort. Aber wie sah das Neue aus, das jetzt kam?

Was wir zu hoffen wagten
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Es ist der 9. November 1918. Der deutsche Kaiser hat gerade abgedankt. Zwei Tage später wird der erste Weltkrieg enden, 17 Millionen Menschen sind tot. In dieser Situation begegnen wir den Schwestern Felice ...

Es ist der 9. November 1918. Der deutsche Kaiser hat gerade abgedankt. Zwei Tage später wird der erste Weltkrieg enden, 17 Millionen Menschen sind tot. In dieser Situation begegnen wir den Schwestern Felice und Ille, die unterschiedlicher nicht sein können, und wir erfahren, dass deren Bruder Willi das standrechtliche Erschießen droht, weil er einen Befehl verweigert hat.

Damit wir ergründen können, was mit den Geschwistern in den letzten Jahren geschehen ist, führt uns die Autorin zurück in die Vergangenheit, beginnend im Jahr 1912...


Michaela Saalfeld erzählt mit „Was wir zu hoffen wagten“ eine einzigartige Geschichte und meistert ihr Debüt sprachlich in herausragender Art und Weise. Ich habe sofort den Schreibstil sehr genossen. Er ist einerseits gefällig und liest sich gut, verfügt jedoch andererseits über einen Grad an Anspruch, der sich im Text durch das ohne Aufdringlichkeit angereicherte fundierte historische Hintergrundwissen äußert, wenn die Autorin die Situation der Frauen, technische Errungenschaften, geschichtliche Ereignisse und die Geschehnisse des ersten Weltkrieges thematisiert. Sie schildert vor allem die Kriegssituation in Belgien, insbesondere in Ypern (Ieper) offensiv und unumwunden mit all den Gräuel und Schreckenstaten und bereitet sie dabei für uns Leser so auf, dass wir betroffen sind, bei uns ein wirksamer Nachhall erzeugt wird und Emotionen freigesetzt werden.

Zudem ist nicht nur die Szenerie komplett gelungen, auch die Charaktere sind allesamt mit Sorgfalt entworfen. Michaela Saalfelds Figuren ziehen einen unweigerlich an. Es sind nämlich keine heroischen, sondern allzu menschliche Wesen mit Stärken, aber auch sehr vielen Schwächen. Manchmal – wie bei Ille – fallen diese vornehmlich ins Gewicht. Denn auf den ersten Blick erscheint die jüngste der drei Geschwister als schwach und verträumt. Sie wünscht sich ein „normales“ sorgenfreies Leben mit Ehemann und Kindern und strebt nicht nach Höherem, einen Beruf oder gar Unabhängigkeit. Indes sehnt sie sich nach der Liebe und Anerkennung ihrer von ihr verehrten Schwester.

Felice hingegen macht es uns nicht leicht. Sie ist kein Typ, für den das Herz auf Anhieb schlägt. Einerseits ist sie unwahrscheinlich klug und sehr fokussiert. Andererseits zeigt sie sich streitbar, äußert, was ihr auf der Seele und auf der Zunge brennt, absolut und erbarmungslos. Gleichzeitig wirkt sie wegen ihrer geringen Empathie kalt und unnahbar. All ihre Fähigkeiten mögen sie zur Ausübung ihres Berufes prädestinieren. Doch obwohl Felice ihr Jurastudium erfolgreich abgeschlossen hat, wird ihr als Frau der notwendige Vorbereitungsdienst und damit die Tätigkeit als Juristin verwehrt. Eine verständliche und empörende Ungerechtigkeit, mit der sich Felice nicht abfinden will. Sie lässt sich nicht verbiegen, und das Wichtigste für sie ist, sie selbst zu sein. So nimmt sie keine Rücksicht auf andere und stößt damit nicht nur ihre Familie vor den Kopf. Im Gegenzug ist sie allein, und sie hat nicht viele wirkliche Freunde, zu denen der in sie verliebte Moritz und Quintus, für den Felice mehr empfindet, gehören.

Willi hingegen stehen alle Möglichkeiten offen. Der junge Mann – zu Beginn noch recht oberflächlich – interessiert sich allerdings weder für die Schule noch für die Bank, deren Leitung er eines Tages übernehmen soll, vielmehr schlägt sein Herz für den Film und für Recha, eine Schauspielerin. Als diese klarstellt, dass sie nicht frei ist und sich an den um einige Jahre älteren Regisseur Wolfgang Fanselow gebunden fühlt, meldet sich Willi freiwillig und gerät mitten hinein in die kriegerischen Auseinandersetzungen, die nicht nur ihm alles abverlangen werden und sein Schicksal verändern.

Ohne die Entwicklung der Frauengestalten des Romans negieren zu wollen, sind es besonders die Männer wie Willi, Quintus und Moritz, die außerordentliches Reifepotential beweisen und der im Leben angekommene, sich durch Charakterfestigkeit auszeichnende Wolfgang, die zu einem beachtenswerten Leseerlebnis beitragen.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Geschichte
  • Authentizität
  • Figuren
  • Atmosphäre
Veröffentlicht am 31.07.2018

Süße Freundschaft

Sprichst du Schokolade?
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Nadima ist neu an Josephines Schule und in ihrer 7. Klasse, und sie spricht sehr wenig Englisch. Doch Josie wäre nicht sie selbst, wenn sie sich davon abschrecken ließe. Deshalb geht sie in der ihr eigenen ...

Nadima ist neu an Josephines Schule und in ihrer 7. Klasse, und sie spricht sehr wenig Englisch. Doch Josie wäre nicht sie selbst, wenn sie sich davon abschrecken ließe. Deshalb geht sie in der ihr eigenen unkomplizierten Art auf Nadima zu und reicht ihr die Hand zur Freundschaft, einfach, indem sie ihre Schokolade mit ihr teilt.

„Da standen wir und futterten die Süßigkeiten, die wir uns gegenseitig geschenkt hatten, und in diesem Moment wusste ich, dass wir Freundinnen werden würden, auch wenn keine von uns ein Wort von dem verstand, was die andere sagte.“ (Seite 25)

Es dauert nicht lange, bis die beiden Mädchen einen Weg finden, miteinander zu kommunizieren, nämlich durch Textnachrichten mittels Emojis. Und dabei stellen sie viele Gemeinsamkeiten wie die Liebe zu Musik, Filmen, Pizza, Kuchen und natürlich Schokolade fest.

Für Josie ist Nadima die Gelegenheit, eine neue Freundin zu haben, hat sich doch ihre vermeintlich einstige beste Freundin Lily der allseits beliebten Kara, die Josie allerdings nicht mag, zugewandt. Zwischen Nadima und Josie entsteht eine besondere Verbindung, die am Anfang gut funktioniert. Dann wird sie indes einigen Bewährungsproben ausgesetzt, als Nadimas Vergangenheit offenbart wird. Das Verhalten von Josie, geprägt von fehlgeleiteten Bemühungen, Nadima zu helfen, und Missverständnisse belasten ihre Freundschaft, und Josie muss mit den Konsequenzen kämpfen.

„Sprichst du Schokolade?“ von Cas Lester ist eine ungewöhnliche Geschichte über Freundschaft, die sich auf unerwartete Weise entwickelt und es schafft, die Höhen und Tiefen einer Kameradschaft zwischen Teenagern mit Sensibilität und Einfühlsamkeit einzufangen.

Die Autorin trifft den Ton ihrer Protagonisten, und ihre mit sanftem Humor versehene Art zu schreiben zeugt von einem vorhandenen Verständnis vor allem für Mädchen dieses Alters und ihren Umgang miteinander. Ihre Befürchtungen, nicht dazu zu gehören. Entscheidungen zu treffen, die sich im Nachhinein als schwierig herausstellen. Dinge zu tun, die schief gehen. Sich manchmal wie ein Elefant im Porzellanladen zu benehmen, obwohl nur das Beste gewollt ist. Die Welt verstehen und begreifen zu lernen. Gefühle in die richtigen Bahnen zu lenken.

Cas Lester lässt ihre Heldin Josephine selbst erzählen. Josie ist ein sympathisches, Mädchen, mit der sich junge Leserinnen gut identifizieren können. Manchmal etwas temperamentvoll und ungestüm, verfügt sie über einen ausgeprägten Sinn für moralische Gerechtigkeit, gerät aber des Öfteren in der Schule in Schwierigkeiten. Damit verbirgt sie vor allem eine Unsicherheit. Josie ist nämlich „grässlich legasthenisch“ und kämpft mit den hiermit verbundenen Problemen. Peinlichkeiten in ihren Augen.

Nadimas Charakter ist von einnehmender Art, jedermann dürfte sie schnell in Herz schließen. Ansonsten unterscheidet sie sich in ihrem Verhalten nicht von Gleichaltrigen.

Und doch ist etwas anders, und es ist ihr Schicksal innerhalb der Geschichte über Freundschaft und Identität, das dieser eine größere Tiefe und Wirkung verleiht. Denn Nadima und ihre Familie kommen aus Syrien, und der Autorin gelingt es mit kraftvollen und bewegenden Worten der Thematik eine Brisanz zu verleihen, ohne den jugendlichen Leser zu verschrecken. Dabei vermeidet sie es nicht, von der Grausamkeit und der Angst zu erzählen, was realistisch und ehrlich wirkt, bleibt aber auf dem Niveau ihrer Leserschaft. Und während Josephine und ihre Mitschüler und Freundinnen sich vor Augen führen und erkennen, was Flucht und Verlassen der alten und Ankommen und Integration in der neuen Heimat bedeuten, können auch wir dies, ob nun jugendlicher und erwachsener Leser.

Cas Lester erzählt eine Geschichte über die Freundschaft, die trotz aller Unterschiede in der Herkunft, Kultur oder Glauben voller Herzlichkeit und Hoffnung und damit äußerst werthaltig ist.

Veröffentlicht am 31.07.2018

„Wunder können nur passieren… Man kann sie nicht erwarten.“

Ans Meer
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Anton ist Busfahrer. Täglich fährt er im ländlichen Österreich dieselbe Strecke und bringt vor allem Kinder zur Schule. Es ist nicht so, dass er seinen Job nicht gern macht, schließlich ist Busfahrer ein ...

Anton ist Busfahrer. Täglich fährt er im ländlichen Österreich dieselbe Strecke und bringt vor allem Kinder zur Schule. Es ist nicht so, dass er seinen Job nicht gern macht, schließlich ist Busfahrer ein Kindheitstraum von ihm gewesen. Aber inzwischen hat sich Anton an die Monotonie und den Gleichklang seines Lebens gewöhnt.

Etwas hat sich allerdings verändert: Anton ist verliebt in seine Nachbarin Doris und ihr in letzter Zeit etwas näher gekommen. In der Nacht hat er jedoch auf ihrem Balkon einen Mann husten hören. Muss er jetzt seine Liebe ad acta legen? Anton zweifelt.

Und außerdem ist da die Sache mit dem böswilligen Jungen, den er aus seinem Bus geschmissen und der ihn wegen angeblicher Körperverletzung angezeigt hat. Nun droht Anton das Los, seinen Job zu verlieren. Es muss dringend etwas geschehen.

Als die krebskranke Carla in Begleitung ihrer Tochter in den Bus steigt, ahnt Anton noch nicht, dass dies ein Tag wird, der alles auf den Kopf stellt. Carla möchte ein letztes Mal das Meer sehen, und das nicht irgendwann, sondern auf der Stelle. Und Anton soll sie fahren. Dazu bräuchte es Mut, doch Mut ist nicht Antons Sache. Wiederum könnte er damit Doris bestimmt beeindrucken, denn die meint: „Mutig ist ja nicht der, der keine Angst hat, sondern der, der seine Angst überwindet.“ (Seite 37)

Und so setzt Anton alles auf eine Karte und beschließt: „Wir fahren jetzt ans Meer!“- Das Ziel, San Marco an der Adria, ist fünf Stunden entfernt.

Mit an Bord des Busses befinden sich neben Anton Clara und ihre Tochter Annika, die Geschwister Helene und Ferdinand, letzterer zunächst mit viel Widerwillen, Eva, die sich um die nur zufällig anwesende und demente Frau Prenosil kümmert, nicht zu vergessen Totti, das Kaninchen. Ihnen auf den Fersen sind die Polizei und Doris, die alarmiert von Antons überfürsorglicher Mutter, die Verfolgung aufgenommen hat.

Und während der Fahrt bekommt nicht allein Anton Gelegenheit, über sein Leben nachzudenken….


René Freund hat mit „Ans Meer“ einen originellen und liebenswerten Roman geschrieben, der mit Schwung, Leichtigkeit und Charme erzählt wird und trotz seines grundsätzlich humorvollen Ansatzes auch den Tiefgang und die Emotionalität nicht vermissen lässt. Diese gelungene Mischung aus Lachen und Weinen, aus Vergnüglichkeit und Melancholie macht das turbulente und unterhaltsame Roadmovie zu einem wunderbaren Kleinod.

Freunds Protagonisten sind sympathische Zeitgenossen mit Stärken und Schwächen, die im Verlauf der Reise zu einer verbundenen Gemeinschaft werden. Besonders Anton, gut trainiert im Vermeiden von Konfrontationen, wächst über sich hinaus und einem dabei ans Herz. Und für Carla ist eine winzige Träne übrig und die Hoffnung, dass sich ihr Wunsch erfüllen möge.

„Ans Meer“ ist eine geradlinige Geschichte, die Zeit für traurige und fröhliche Momente hat und einfach glücklich macht.

Veröffentlicht am 29.04.2018

Von der Freiheit und der Selbstbestimmung

Das Lied des Nordwinds
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„Die Freiheit ist wie Luft. Wir merken erst, wie viel sie wert ist, wenn sie uns fehlt.“

Diese Worte stellt Christine Kabus ihrem aktuellen Roman voran. In "Das Lied des Nordwinds" lernen wir mit Karoline ...

„Die Freiheit ist wie Luft. Wir merken erst, wie viel sie wert ist, wenn sie uns fehlt.“

Diese Worte stellt Christine Kabus ihrem aktuellen Roman voran. In "Das Lied des Nordwinds" lernen wir mit Karoline und Liv zwei junge Frauen kennen, für das Wort Freiheit eine vielfältige Bedeutung besitzt.

Während der Himmel für Karoline im Mai 1896 noch voller Rosen hängt und sie sich auf ihre Hochzeit freut, sind ihre Träume neun Jahre später zerplatzt. Die Wirklichkeit hat sie eingeholt, und diese sieht so aus:

Ihr Mann Moritz hat sie nur wegen der Mitgift geheiratet und ansonsten kein Interesse an ihr. Die Schwiegermutter verachtet sie, auch weil sie in den vergangenen Jahren kein Kind bekommen hat. Karoline lebt abgeschieden auf Schloss Katzbach in Schlesien und schafft sich mit Büchern eine Fantasiewelt. Zumindest in dieser existiert ein Mann, der sie mit Respekt behandelt und ihr ritterlich zur Seite steht, wenn es schwierig wird. Eine Art von Freiheit. Denn Karoline selbst geht den Problemen aus dem Weg. Mut gehört nicht unbedingt zu ihren prägenden Eigenschaften. Das ändert sich, als sie erfährt, dass ihr Mann in Norwegen ein uneheliches Kind gezeugt haben soll. Sie sieht darin eine Chance, nicht nur für den gewünschten Erben zu sorgen, damit der Familienbesitz nicht an einen ungeliebten Verwandten geht, sollte sich bei den Blankenburg-Marwitzens kein Nachwuchs einstellen, sondern erhofft sich daneben ein Quäntchen Glück für sich selbst. Und so macht sie sich auf die Suche...

Demgegenüber hat Liv im Haus ihrer Eltern bislang den wahren Unbill des Lebens kennengelernt. Seit frühester Jugend unterstützt sie ihre Mutter beim Broterwerb für die Familie, weil dies ihrem Vater nach einem Unfall nicht möglich ist. So kommt sie als Dienstmädchen nach Stavanger in das Haus von Oddvar und Ingrid Treske. Viel lieber wäre sie allerdings frei von irgendwelchen Dienstherren und ebenso von den Eltern.

Schon bei ihrer Ankunft muss sie mit ansehen und erleben, wie Oddvar Treske seinen Sohn Elias maßregelt. Sie wendet sich dem Jungen offen und behutsam zu und knüpft schnell eine besondere Beziehung zu ihm. Bald vermutet sie, dass hinter dem Verhalten von Oddvar Treske mehr steckt als die sittenstrenge Erziehung eines fürsorglichen Vaters...


Christine Kabus ist mit ihren in Norwegen angesiedelten Geschichten, die durch ihre ausgezeichnet recherchierten – vor allem der historischen – Hintergründe und Zusammenhänge punkten, zu einer festen Größe in der Leselandschaft geworden. Auch ihr fünfter Roman nimmt uns mit auf eine Reise in den Norden, an deren Ende wir mit neuem Wissen bestückt und außerordentlichem Wohlgefühl das Buch aus der Hand legen.

Dies resultiert aus dem Vermögen der Autorin, Land und Leute mit Können und spürbarem Enthusiasmus zu formen, so dass einzigartige Bilder bei der Lektüre entstehen und zum nachhaltigen Leseerlebnis beitragen.

Dabei ist hoch einzuschätzen, dass sich Christine Kabus nach „Das Geheimnis der Mittsommernacht“ in ihrem hier vorgelegten Werk „Das Lied des Nordwinds erneut auf meisterhafte Art und Weise mit der Stellung der Frau im Blickwinkel der Zeit auseinandersetzt, diese ins rechte Licht rückt und lebensechte und zugleich emotional agierende Porträts erarbeitet.

Es ist das Jahr 1905. Norwegen befindet sich an einem Wendepunkt in seiner Geschichte und will sich aus der schwedisch-norwegischen Personalunion und damit aus der Abhängigkeit von Schweden lösen.

Wie das Land sind auch Liv und Karoline – dabei spielt es keine Rolle, dass Karoline Deutsche ist – anfänglich in ihren Korsetts gefangen. Zwar trennt sie ihre jeweilige Herkunft, eint jedoch die Einbindung in die gesellschaftlichen Normen und damit das Fehlen der Freiheit, selbständige Entscheidungen zu treffen.

Es gelingt ihnen erst nach und nach, sich davon freizumachen, einen inneren Wandel zu vollziehen, Bewusstsein für die Bedürfnisse und Träume sowie Selbstwertgefühl zu entwickeln und Courage zu verstärken.

Dabei haben beide Hilfe. Es gibt Menschen, die ihnen die Augen öffnen und es vermögen, ihnen Alternativen zu ihrem bisherigen vorgefassten Lebenswegen aufzuzeigen.

So ist es Bjarne, der Livs Denken in Gang setzt, ihr die Einsicht in eine völlig andere Welt eröffnet, sie mit neuen Ideen bekannt macht, über Dinge grübeln lässt, über die sie sich zuvor nie mit jemandem ausgetauscht hat.

In Karolines Fall vermittelt Auguste Bethge ihr ein Frauenbild, dem sie zuvor keine Beachtung geschenkt hat. In deren Begleitung entwickelt Karoline sich und verändert ihre Sichtweise. Sie findet Gefallen an der Formulierung eigenen Gedankengutes, über ihre eigenen Probleme hinaus einen Blick auf die Unzulänglichkeiten der Welt im Allgemeinen und die der Frauen im Besonderen zu werfen, Verantwortung zu übernehmen, Wunschträume verwirklichen zu wollen.

"Jeder Mensch hat das Recht, selbst über sich zu bestimmen." Mit ihren Heldinnen Liv und Karoline erbringt Christine Kabus ein anschauliches Beispiel dafür, dass dieses Ansinnen von Erfolg gekrönt ist.

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Veröffentlicht am 23.04.2018

Die Meerjungfrau und die Kurtisane

Die letzte Reise der Meerjungfrau
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Eine Meerjungfrau ist ein gefährlicher Fang. Genauso wie eine Kurtisane. Diese Erfahrung muss eines Tages Jonah Hancock, ein gut situierter, etwas korpulenter Kaufmann mittleren Alters, machen. Bislang ...

Eine Meerjungfrau ist ein gefährlicher Fang. Genauso wie eine Kurtisane. Diese Erfahrung muss eines Tages Jonah Hancock, ein gut situierter, etwas korpulenter Kaufmann mittleren Alters, machen. Bislang ist Jonah Hancock seinen Weg ehrlich und stringent gegangen. Aber seit dem Tod seiner Frau und seines Sohnes, dessen Geist er manchmal begegnet, ist er einsam. Er sehnt sich nach jemandem, mit dem er sein Leben teilen kann, vergräbt sich statt sich auf die Suche zu begeben, in seine Arbeit. Als endlich der Kapitän seines sehnlichst erwarteten Frachtschiffs Calliope eintrifft, folgen der anfänglichen Freude nicht nur Ernüchterung, sondern auch Entsetzen. Denn Captain Jones hat das Schiff verkauft. Für eine Meerjungfrau. Eine tote Meerjungfrau. Was bitteschön soll er, Jonah Hancock, seriöser Geschäftsmann mit tadellosem Ruf, mit solch einer wilden Kreatur?

Jonah Hancock lässt sich überreden, die Meerjungfrau auszustellen, und tatsächlich entpuppt sich dieses über alle Maßen hässliche und groteske Wesen – wie von Captain Jones vorausgesagt – als wahre Goldgrube. Die Menschen stehen Schlange, um es zu sehen, bezahlen dafür, und die Truhen von Jonah Hancock füllen sich.

Die Ausstellung ruft Beth Chappell auf den Plan, ihres Zeichens Betreiberin eines erstklassigen Bordells. Sie überredet Jonah Hancock, ihr die Meerjungfrau zu leihen, und der Kaufmann lässt sich darauf ein.

Anlässlich der Präsentation der Meerjungfrau im Haus von Mrs. Chappell mit Aristokraten und Politikern begegnet Jonah Hancock der Kurtisane Angelica Neal. Einst hat Angelica für die Wirtin gearbeitet, und diese lässt nichts unversucht, Angelica zur Rückkehr zu bewegen. Nach dem Tod ihres Gönners, eines Herzogs, ist Angelica darauf angewiesen, einen neuen Mann zu finden, der sie versorgt. Denn ihre Unabhängigkeit von Beth Chappell möchte sie nicht aufgeben.

Jonah ist von der üppigen, temperamentvollen Schönheit begeistert. Gleichzeitig wird sein bürgerliches Empfinden von unanständigen Szenen im Bordell auf Tiefste erschüttert. Er verlässt das Haus angewidert, fordert die Meerjungfrau zurück und verkauft sie.

Angelica kann er hingegen nicht vergessen und bemüht sich um sie. Diese hat sich zwischenzeitlich dem adligen, aber mittellosem George Rockingham zugewandt, wird allerdings von jenem fallengelassen, als es darum geht, ihre Auslagen und Schulden zu zahlen. Wie soll sie diesem Dilemma entkommen? Jonah Hancock ist rettend zur Stelle. Er erhält eine Ehefrau, Angelica die gewünschte Absicherung und ein respektables Leben. Das ist ihre Chance auf Glück. Doch existiert ein solches für Angelica wirklich? Es ist gefährlich, aus seiner Welt gerissen zu werden. Das gilt für eine Kurtisane als auch für eine Meerjungfrau...


Für ihren Debütroman „Die letzte Reise der Meerjungfrau oder wie Jonah Hancock über Nacht zum reichen Mann wurde“ hat Imogen Hermes Gowar drei Jahre lang recherchiert, geforscht und gelernt, im Sprachduktus des 18. Jahrhundert zu schreiben.

Der Aufwand und die Arbeit haben sich gelohnt. Die Autorin bewegt sich mit ihrem opulenten Stil des Inszenierens auf herausragenden Niveau. Sie findet mit außergewöhnlich gutem Gespür den Ton der Zeit und gibt ihn in nuancierter Art und Weise wieder, so dass das Lesen und folglich Eintauchen in eine vergangene Realität zum Erlebnis werden. Dabei nutzt sie in wunderbarer Kunstfertigkeit die Art der Kommunizierens im London des zweiten Drittels des 18. Jahrhunderts. Zurückhaltend und distanziert und damit ein wenig ungewohnt, indes bei der Lektüre überhaupt nicht hinderlich.

Hinzu kommt, dass durch das Erzählen in der Gegenwart eine Präsens entsteht, die uns unmittelbar in die Geschichte hineinzieht und einbindet. So befinden wir uns mitten in einem Geschehen, das historische Gegebenheiten wie die Ungleichheit zwischen den Klassen, Geschlechtern und Hautfarben thematisiert und diese mit dem Mythos und der Legende der Meerjungfrau mittels eingeflochtener lyrischer Passagen verknüpft.

Noch zu berücksichtigen ist der feinsinnige Humor, der den Zeilen das eine oder andere Mal entströmt. Hierbei gelingt es der Autorin, mit unseren Zweifeln zu spielen. Existieren Meerjungfrauen oder nicht? Wir wissen, dass es diese Geschöpfe nicht gibt. Aber wir lassen uns gern auf dieses Spiel der Phantasie ein, geben uns der Illusion hin, dass es möglich kann. Wir möchten, dass es so ist und vergessen für einen Moment die Wirklichkeit.

Faszinierend ist außerdem das Können von Imogen Hermes Gowar, das Milieu und die Umstände auf den Punkt zu schildern, insbesondere die Abhängigkeit der Frauen von den Männern zu beleuchten.

Das überträgt sich auf die Protagonisten. Die Autorin hat bemerkenswerte, mit Brillanz ausgearbeitete Figuren geschaffen, deren Tiefgründigkeit sich langsam, dann jedoch mit Wucht offenbaren.

Da ist zum einen Jonah Hancock, ein aufrichtiger, empfindsamer Mann, mit einem einfachen Herzen voller Sehnsucht, und trotzdem und erstaunlicherweise bereit, etwas Neues zu wagen. „Ich habe mein Leben bisher nicht ausgeschöpft… Und jetzt wurde mir etwas Großes aufgezeigt. Ich wäre ein Narr, wenn ich nicht mehr für mich erstreben würde…“ (Seite 121)

Und wir lernen Angelica Neal kennen, eine Frau, die auf den ersten Blick eitel, seelenlos und unmoralisch wirkt, gleichzeitig über eine unwiderstehliche Schönheit und eine gewisse Wahrhaftigkeit verfügt und durchaus Parallelen zu einer Meerjungfrau aufweist.

„Denn eine Meerjungfrau ist ein höchst unnatürliches Wesen und ihr Herz ohne Liebe." (Seite 90)

Im Grunde ist Angelica ein Geschöpf der Umstände, und bei genauerer Betrachtung, versucht auch sie nur, das Bestmögliche aus eben diesen zu machen. Sie steht zu ihrem Handeln, und sie möchte Unabhängigkeit, zumindest von Mrs. Chappell, ihrer einstigen Bordellwirtin. Denn wirklich frei wird sie nie sein können, weil sie immer auf die Gunst eines Mannes angewiesen ist. Ob als Kurtisane oder als Ehefrau...


Imogen Hermes Gowar meistert eine anspruchsvolle und eindringliche Darstellung von Sein und Schein, Realität und Mythos. Einfach grandios!

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