Als ich in der Herbstvorschau des cass Verlags diesen Titel entdeckte, war mir direkt klar: Das muss ich lesen. Der Klappentext deutet auf eine mögliche Atomkatastrophe hin, nach der die Bewohner Umizukas dort leben, aber ausgesprochen wird dies nicht. „Kein schönerer Ort“ von Manichi Yoshimura erzählt aus der Perspektive eines jungen Mädchens, wie sich Ungeheuerliches abspielt, Todesfälle überspielt werden und der Zusammenhalt des Orts irgendwie erzwungen scheint. In den Schulen fehlen nach und nach immer mehr Kinder, sie klappen im Unterricht zusammen und wenige Tage später erfahren wir, dass sie gestorben sind. Der Grund dafür wird uns allerdings nicht genannt. Die unschuldige Sprache Kyoko-chans lässt uns nur langsam die Katastrophe wahrnehmen, die sich in Umizuka abgespielt haben muss. Nach dutzenden Malen, in denen Kyoko die Umizuka-Hymne gezwungenerweise und lustlos mitsingt, weil sie sich von der Gemeinschaft ihrer Klassenkameraden ausgeschlossen fühlt, wächst in ihr das Bewusstsein, dass etwas faul ist. Ihre Mutter kocht nie frisch, lässt Dosen voller Fertiggerichte importieren und achtet penibel auf jedes Staubkorn. Ist womöglich doch etwas geschehen? Aber wieso tun dann alle so, als wäre nichts gewesen?
"Am Ende tut nicht nur Umizuka, sondern das ganze Land so, als wäre nichts gewesen. Vielleicht nimmt gar […] die ganze Welt an dieser Komödie teil."
Dieser Roman hat mich gut 50 Seiten (ein Drittel!) gekostet, bis ich richtig drin war. Die Sprache und Erzählperspektive schien erst ungelenk, doch danach hat „Kein schönerer Ort“ seine schaurige Magie entfaltet. „Kein schönerer Ort“, das scheint Umizuka nach Meinung der gesamten Stadtbevölkerung tatsächlich zu sein, und obwohl die Kinder dahinsterben, bemühen sich die Älteren um Normalität. Was auch immer geschehen ist, es hat die Bewohner Umizukis zusammengeschweißt, ein übertrieben erscheinendes Gemeinschaftsgefühl hat sich entwickelt. Die Anwohner betonen immer, dass man das Gemüse und das Obst aus der Stadt bedenkenlos essen könnte, und spätestens jetzt fragt man sich als Leser, wieso sie geblieben sind. Oder werden die Bewohner Umizukas gar gezwungen, dort zu verbleiben, um andere Regionen nicht zu kontaminieren? Der Begriff „Atomkatastrophe“ steht wie ein dicker Elefant im Raum, doch niemand, wirklich niemand, spricht in Umizuka darüber — beziehungsweise wird von der Polizei mit den Worten „Alles erstunken und erlogen!“ abgeführt und nie wieder gesehen.
"Mit dem Bewusstsein des Menschen hat es so eine Bewandtnis. Beeinflusst vom Verhalten seiner Umgebung, sieht der Mensch bald nicht mehr, was er sieht. Selbst das Dreieck unmittelbar vor seinen Augen wird, wenn alle anderen behaupten, es sei ein Kreis, zum Kreis. Er fasst es nicht nur als solchen auf. Er sieht wirklich: einen Kreis."
Die Sprache von „Kein schönerer Ort“ ist für mich typisch „japanische Literatur“. Dieses Schnörkellose, Leise, fasziniert mich immer wieder aufs Neue. Und trotz der Kürze dieses Romans hat Yoshimura den richtigen Ton getroffen. Der Klappentext verrät uns, dass dieses Buch zum Anlass der Reaktorkatastrophe in Fukushima geschrieben wurde, was den Eindruck der „Kontamination“ nur noch verstärkt. Mehrmals wird zudem erwähnt. dass Umizuki die Heimat ist, „die wir einmal verloren haben“ und die wieder aufgebaut wurde — das ist meiner Meinung nach der letzte Groschen, der fallen musste.
Fazit: Mit „Kein schönerer Ort“ von Manichi Yoshimura ist wieder mal ein kurzer, eigensinniger, aber auch wunderbarer Titel im cass Verlag erschienen! Die Sprache, die Geschichte, alles fügt sich toll zusammen. Lediglich der Start fiel mir etwas schwer und gegen Ende schlug die Handlung eine Richtung ein, die sich mir nicht ganz erschlossen hat. (Wer es gelesen hat, möge sich bei mir melden!) Yoshimuras Roman möchte ich jedem ans Herz legen, besonders aber allen, die die japanische Literatur bereits kennen, denn dieses Buch fügt sich nahtlos ein, obwohl es kein gleichförmiges Puzzlestück ist.
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