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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 12.09.2018

konzentriert und dicht geschrieben

Ein Winter in Paris
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Jean-Philippe Blondel und seine Romane gehören für mich zu den Highlights der aktuellen, zeitgenössischen französischen Literatur, die ich sehr schätze. Einige Romane von dem Autor habe ich bereits gelesen ...

Jean-Philippe Blondel und seine Romane gehören für mich zu den Highlights der aktuellen, zeitgenössischen französischen Literatur, die ich sehr schätze. Einige Romane von dem Autor habe ich bereits gelesen und auch dieses neue Buch sagt mir zu. Das diesmal gewählte Milieu ist ein College in Paris. Blondel kennt sich in diesem Sujet aus, denn er ist auch Lehrer.

Wie am Anfang die zurückblickende Erzählperspektive aufgebaut wird, ist recht kompliziert und wirkt etwas altmodisch. Man denkt an Franz Werfel oder Robert Musil.

Ist man dann erst einmal in der Handlung drin, dominiert der Gemütszustand des Protagonisten und Icherzählers Viktor, der sich als Student aus einer sozial niedrigen Schicht am Elitecollege wie ein Außenseiter vorkommt. Dieses Gefühl macht ihn aber auch unangreifbar, jedoch bleibt er isoliert. Mit einem Freund raucht er regelmäßig mal eine. Und als dieser Freund Suizid begeht, bringt das Viktor aus der Spur.

Blondels Stärke ist es, tief in die Psyche seiner Figur einzutauchen und dem Leser wirklich auf realistische Art die Emotionen zu verdeutlichen. Dabei geht er sensibel vor. Als Leser beginnt man die Figur und ihre Handlungsweise zu verstehen.
Der Roman ist nicht umfangreich, aber durch Blondels konzentrierte Art zu schreiben wird auch nicht mehr Raum benötigt.

Veröffentlicht am 28.08.2018

Vor dem Abgrund

Loyalitäten
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Delphine de Vigan hat schon einige beeindruckende Romane geschrieben. Zum Beispiel "Nach einer wahren Geschichte", "Tage ohne Hunger", "Das Lächeln meiner Mutter". Deswegen gehört sie für mich zu den wichtigsten ...

Delphine de Vigan hat schon einige beeindruckende Romane geschrieben. Zum Beispiel "Nach einer wahren Geschichte", "Tage ohne Hunger", "Das Lächeln meiner Mutter". Deswegen gehört sie für mich zu den wichtigsten Autorinnen der zeitgenössischen französischen Literatur.
Loyalitäten reiht sich in ein. Mit wechselnden Perspeltiven, mal aus erster, mal aus dritter Person heraus erzählt, wird vom Leben an einer Schule erzählt. Im Mittelpunkt der 12jährige Theo, der dem Alkohol verfällt, da seine geschiedenen, lebensuntüchtigen Eltern ihn in eine Lebenskrise brachten.
Helene, eine mitfühlende Lehrerin spürt, das mit Theo etwas nicht stimmt. Auch Cecile, die Mutter von Theos besten Freund Mathis ahnt etwas. Doch ein Eingreifen ist nicht einfach.

Durch die wechselnden Perspektiven kann man die Figuren ganz gut verstehen. Am meisten verschlossen ist eigentlich Theo, aber durch die familiären Verhältnisse wird er praktisch in die defensive Rolle gedrängt, denn obwohl er versucht, seine arbeitslosen, heruntergekommen Vater zu helfen, bleibt er hilflos und die Betäubung durch Alkohol sein Ausweg. Doch es wird immer schlimmer. Die Situation spitzt sich zu und dadurch entsteht eine Spannung.

Mich überzeugt, dass die Autorin auf Sentimentalität verzichtet, dafür auf präzises und sensibles Erzählen setzt.
De Vigan schafft eine ausgezeichnete Romankonstruktion, die sich auf einen kleinen Rahmen beschränkt und daher funktioniert das kurze Buch sehr gut. Für mich ist das ohne Frage 5 Sterne wert!

Veröffentlicht am 27.08.2018

Starkes Buch

Manhattan Beach
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Ein großer Wurf, den die Pulitzerpreisträgerin Jennifer Egan mit Manhattan Beach vorgelegt hat. Ein großer komplexer Roman, dabei geradlinig erzählt.
Jennifer Egans Stil ist noch geschmeidiger geworden ...

Ein großer Wurf, den die Pulitzerpreisträgerin Jennifer Egan mit Manhattan Beach vorgelegt hat. Ein großer komplexer Roman, dabei geradlinig erzählt.
Jennifer Egans Stil ist noch geschmeidiger geworden als in ihren frühen Büchern. Ihre gewohnte Eleganz noch einmal gesteigert.

Anna Kerrigan ist erst 8 Jahre alt, als sie zusammen mit ihrem Vater den reichen, zwielichtigen Dexter Styles kennenlernt, der später eine große Rolle in ihrem Leben spielen wird.
Jahre später hat ihr Vater Eddie die Familie verlassen und Anna kümmert sich um ihre Mutter und die behinderte Schwester. Anna ist ein starker, selbstbewusster Charakter. In Kriegszeiten setzt sie sich in der Männergesellschaft durch und wird fähige Taucherin im Hafen.
Jennifer Egan hat viel recherchiert, ihrer Schreibkunst ist es zu verdanken, dass man als Leser das aber kaum spürt. Wie Selbstverständlich fließen die Fakten in den Text hinein.
Detailreich beschreibt Jennifer Egan ihre Tätigkeit auf der Werft, der Arbeit am Pier und den Tauchvorgängen. Der deutsche Übersetzer Hennig Ahrens, selbst Schriftsteller, folgt in seiner Übersetzung der Dichte von Egans Stil.
Vor dem inneren Auge ragen die imposanten Schiffe auf, man sieht die wartenden Marinesoldaten oder Anna in ihrem schweren Taucheranzug.

Mit Manhattan Beach liest man ein ausdrucksvolles starkes Buch über eine schwierige Zeit in den USA.

Veröffentlicht am 15.08.2018

gelungener Debütroman

Das rote Adressbuch
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Das rote Adressbuch ist ein Roman über das Leben einer schwedischen Frau, Doris, 1918 geboren.
Es beginnt mit der Gegenwart in Stockholm. Doris ist 96 Jahre alt, fast alle aus ihrer Familie und Freunde ...

Das rote Adressbuch ist ein Roman über das Leben einer schwedischen Frau, Doris, 1918 geboren.
Es beginnt mit der Gegenwart in Stockholm. Doris ist 96 Jahre alt, fast alle aus ihrer Familie und Freunde sind schon gestorben. Es gibt aber noch Jenny, ihre Tochter und deren Kinder, doch Jenny lebt in San Francisco und Doris hat nur über Skype Kontakt zu ihr.
Dann geht die Erzählung weit zurück in Doris Kindheit und Jugend. Als der Vater stirbt wird es schwer und ärmlich und Doris muss schon früh in Dienst bei Herrschaften gehen. Doch dann kommt sie nach Paris und wird dort sogar Modell.

Es ist ein Buch des Erinnerns, wenn die Ankunft in das alte Paris vor dem Krieg beschrieben wird: der blassblaue Himmel, die Wäsche auf den Balkonen und der Rauch aus hunderten von Schornsteinen.
Schließlich kommt nach dem Tod der Mutter auch Doris Schwester Agnes zu ihr. Später zwingt sie der Krieg in die USA. Zentral auch eine schwierige und unglückliche Liebe von Doris zu Allan, der sie verlässt.
Mir gefällt sehr, dass der Roman den Gegenwarts-Handlungsstrang gleichwertig behandelt. Man fühlt sich Doris nah, wenn sie die Vergangenheit betrauert und auf den Tod wartet, gleichzeitig ihrer Nichte gegenüber so positiv bleibt. Ob jüngere Leser das auch so empfinden, kann ich nicht beurteilen.
Obwohl das Buch auch von Tod und Einsamkeit im Alter handelt, ist es so geschrieben, dass es sich nicht hoffnungslos liest. Es ist auch ein Buch von Würde und andauernde Liebe.
Sofia Lundberg wurde zu dem Roman inspiriert, da sie als Kind viel Zeit bei der Schwester ihrer jung verstorbenen Großmutter verbrachte, die auch Doris hieß und ebenfalls ein rotes Adressbuch besessen hatte.. Ich glaube, dass sich dadurch die Zuneigung zur Hauptfigur ergab und Doris als Figur so gut funktionierte. Doris Modellkarriere hingegen fußt aus eigenen Erfahrungen in verschiedenen Städten, unter anderen auch Paris, daher sind gerade diese Passagen realistisch und glaubwürdig. Auch den Künstler Gösta, der Doris engster Freund war, gab es wirklich.

Das Buch zu lesen ist eine Freude! Der angenehm zu lesende Schreibstil von Sofia Lundberg erlaubt es, den Roman nahezu komplett am Stück zu lesen. Die Handlung entfaltet sich so am besten.

Veröffentlicht am 21.07.2018

Schelmenroman

Guten Morgen, Genosse Elefant
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Christopher Wilsons eindringlich erzähltter Roman "Guten Morgen, Genosse Elefant" (im Original The Zoo) ist in der Tradition der Schelmenromane angesiedelt. Die Handlung ist in die Stalinzeit der Sowjetunion, ...

Christopher Wilsons eindringlich erzähltter Roman "Guten Morgen, Genosse Elefant" (im Original The Zoo) ist in der Tradition der Schelmenromane angesiedelt. Die Handlung ist in die Stalinzeit der Sowjetunion, im Jahr 1953 gelegt.
Das Besondere ist die Erzählstimme, die die Handlung ganz und gar dominiert. Der 12jährige Juri wurde als 6jähriger bei einem Unfall schwer verletzt, überlebte, aber ist gehandicapt, dennoch lebt Juri gerne und ist immer positiv. Er lebt bei seinem Vater, ein bekannter Tierarzt, in der Nähe des Zoos. Dann wird der Vater gerufen, einen Patienten zu behandeln. Überraschenderweise ist es kein Tier sondern Stalin, der schwer erkrankt ist. Stalin lässt sich von Juri die Zeit vertreiben, sie spielen Dame, wobei Stalin schummelt, sehen gemeinsam Filme, meist Western und Juri muss den Vorkoster machen. Eine gefährliche Situation, aber Juri sieht immer alles positiv und durchschaut auch so einiges. Er ist eine wirklich starke Romanfigur!

Der Roman ist durch die Erzählstimme positiv und manchmal humorvoll angelegt, doch es ist ein ernster Hintergrund. Wer in Stalins Umgebung ist, wird auch dessen Schergen ausgesetzt und das kann blanker Terror sein. Wer etwas dagegen sagt, verschwindet. Selbst wer nur in Verdacht gerät, wird nach Kolmya verbannt. So ging es Juris Mutter, Gefängnis droht auch seinem Vater und vielleicht auch Juri selbst, denn als Stalin im Sterben liegt, ist auch er nicht mehr sicher.

Es ist ein ergreifender, packender Roman, der auch den Leser gefangen nimmt.