Dystopisch?
Was passieren kann, wenn aufgeklärte unabhängige Frauen sich lieber ihrer kleinen heilen Welt und Karrierebasteleien zuwenden anstatt aufzustehen und für ihre Rechte zu kämpfen zeigt dystopisch angelegte ...
Was passieren kann, wenn aufgeklärte unabhängige Frauen sich lieber ihrer kleinen heilen Welt und Karrierebasteleien zuwenden anstatt aufzustehen und für ihre Rechte zu kämpfen zeigt dystopisch angelegte Roman „Vox“ von Christina Dalcher. Gar nicht so weit in der Zukunft liegend greift sie die Dinglichkeit der #metoo-Bewegung in den USA nach der Machtergreifung Donald Trumps auf und spinnt einfach ein kleines Stückchen weiter, mit schrecklichen Aussichten.
Hundert Wörter haben Frauen in der Bibel-basierten schönen neuen Welt in der nicht allzu fernen Zukunft in den USA täglich zur Verfügung. Bei Mehrverbrauch wird körperlich gezüchtigt mit Armbändern, die Stromschläge verteilen. Jean McClellan, bis vor knapp zwei Jahren emanzipierte und anerkannte Linguistin, musste wie alle anderen Frauen auch ihren Job in der Hirnforschung beenden um als ihrem Mann untergebene und der Familie ergebene Hausfrau den Alltag im Haus zu fristen, eingeschränkt und reglementiert mit Überwachung und irrwitzigen Vorschriften, einzig gefordert und abgelenkt mit zensierten langweiligen Fernsehsendungen. Sie hatte nicht gekämpft, als es höchste Zeit dafür war, hatte lieber an ihrer nunmehr beendeten Karriere gebastelt und ihre kämpferische Mitbewohnerin bei Demonstrationen gegen das aufstrebende bibeltreue extremistische Regime sprichwörtlich allein im Regen stehen gelassen. Fassungslos und ohne Stimme muss sie nun mit ansehen, wie ihre kleine Tochter Sonja an der Schulen zur guten wortkargen Hausfrauen ausgebildet wird. Sprache, Schrift, Bücher und Entscheidungsmöglichkeiten stehen nur den Jungen und Männern zur Verfügung, sofern sie Regime-treu denken und handeln.
Doch das ist nicht das Ende, und Jean bekommt sie Chance, die Gesellschaft zu ändern und ergreift sie.
Es ist ein äußerst spannendes und aufrüttelndes Thema, das die Autorin mit vielen interessanten Aspekten aufgreift. Umso wichtiger, da die Anfänge der Geschichte in unserer heutigen Zeit liegen könnten, in der viele Menschen dummerweise eben nicht rechtzeitig aufstehen und Nein sagen, sondern gefangen in ihren Karrierebasteleien versuchen, vorwärts zu kommen, Leistung zu erbringen und äußerst bedrohliche Zeichen von Veränderungen bewusst oder unbewusst ignorieren.
Reglementierung, Intersektionalität, schleichende Beeinflussung von Kindern an Schulen, falsche Moral und falscher Idealismus auf Kosten eines Teiles der Gesellschaft, Unterordnung und Duldung und Ja-Sagen und nicht zuletzt Extremismus wird hier weitergedacht und in all ihren Blüten im Großen und im Kleinen auf äußerst erschreckende Weise gezeigt. Die Autorin gestaltet die Geschichte dabei auf sehr persönlicher Ebene für Jean und ihr Umfeld, was dem ganzen mehr Eindringlichkeit als eine gesellschaftliche Kritik im Allgemeinen verleiht.
So weit so gut, doch leider gleitet das Buch im letzten Drittel zur unglaubwürdigen und für mich wirklich äußerst konstruierten Schmonzette ab, als Jean versucht, das Land zu retten. An den Haaren herbeigezogene Verwicklungen und Zufälle und ein übertriebenes Liebesgeplänkel machen aus einem glaubwürdigem, guten und aufrüttelnden Buch leider eine flache und wenig glaubwürdige Geschichte, die eine kämpferisch-positive Friede-Freude-Eierkuchen-Stimmung verbreiten will, die so gar nicht zu den ersten Teil passt. Wenn die guten Cowboys alles richtig machen, wird am Ende alles wieder gut. Für alle.
Schade für das Buch, dem ich ein runderes und realistischeres Ende gewünscht hätte.
Das große Potenzial des Anfangs, in dem äußerst eindringlich vermittelt wird, dass man nie die Hände in den Schoß legen darf, sich nie das Ruder aus der Hand nehmen lassen sollte, sondern aufstehen und kämpfen muss, und das mit leisen Tönen und sehr persönlich betrachtet, verliert sich damit, leider.