Atlantia ist ein gelungenes Jugendbuch, das trotz kleinerer Schwächen insgesamt gut zu unterhalten vermag. Wie schon einige andere Werke von Ally Condie ist auch dieses nicht von Atem beraubender Spannung durchzogen, aber auf Grund der vielen offenen Fragen, die sich im Verlauf der Handlung zunehmend stellen, dennoch sehr fesselnd und mitreißend, sodass man schon nach kurzer Zeit den ständigen Drang verspürt weiterzulesen um möglichst bald die begehrten Antworten zu finden.
Die Stadt Atlantia ist eine faszinierende, gut durchdachte Unterwasserwelt, in der es unglaublich viel zu entdecken gibt. Durch die anschaulichen Beschreibungen bekommt man relativ schnell eine gute Vorstellung von ihr und nur zu gern würde man die Kuppeln, den Tempel sowie die elektrischen Gondeln mit eigenen Augen sehen. Es ist dort allerdings nicht ganz ungefährlich, da häufig Lecks entstehen und die schützenden Außenwände jederzeit dem enormen Druck der kalten Fluten nachgeben könnten.
Religion ist in Atlantia anscheinend von großer Bedeutung, dient jedoch offensichtlich nur dazu die Leute zu kontrollieren und sie davon abzuhalten ihre Welt in Frage zu stellen. Generell gibt es im Hinblick auf das Leben dort einige Ungereimtheiten, alles ist sehr geheimnisvoll und man hat binnen kurzem das Gefühl, dass den Bewohnern vieles verschwiegen wird. Insbesondere in Bezug auf das Oben scheint der Rat ihnen nicht die volle Wahrheit über die Verhältnisse zu sagen und die meisten Antworten werfen nur neue Fragen auf. Es ist erstaunlich, wie viele dem Rat sowie dem Hohepriester blind vertrauen und dass augenscheinlich nur so wenige neugierig auf das Oben sind bzw. dieser Neugier nachgeben, denn keiner von ihnen hat je Beweise für die Behauptungen über die dort angeblich herrschenden Zustände gesehen.
Die Sirenen, zu denen auch Rio gehört, sind sehr interessante Wesen mit unterschiedlichen, schönen sowie schrecklichen, Fähigkeiten, abhängig davon, wie sie sie einsetzen. Menschen mit ihrer Stimme zu manipulieren ist nur eine davon und sie alle sind unterschiedlich stark. Unglücklicherweise stehen die meisten Bewohner Atlantias den Sirenen wegen einzelner schlechter Erfahrungen, die dazu geführt haben, dass alle Sirenen unter der ständigen Kontrolle des Rats leben müssen, inzwischen grundsätzlich eher feindselig gegenüber, obwohl nicht alle von ihnen schlecht sind oder ihre Kräfte missbrauchen. Diesen Teil ihrer selbst musste Rio deshalb seit ihrer Geburt vor jedem außer ihrer Mutter und Bay verbergen um nicht von ihrer Familie getrennt zu werden. Trotzdem hat jeder gemerkt, dass Rio anders ist als ihre Schwester, wodurch sie ein wenig zur Außenseiterin wurde.
Rio ist eine sympathische Protagonistin, deren Empfindungen man gut nachvollziehen kann. Gleich zu Beginn fühlt man sich von Bay beinahe genauso verraten wie sie, weshalb man natürlich unbedingt wissen möchte, wieso ihre Schwester nach Oben gegangen ist und sie dazu noch ohne jede Erklärung einfach verlassen hat. Ihr Fortgang ist umso schmerzhafter und trauriger, weil Rio damit die letzte Person verliert, die ihr wahres Wesen kennt. Bei Bays Entscheidung hat sie zudem ihre Stimme in der Öffentlichkeit erstmals für einen kurzen Moment nicht unter Kontrolle und es könnte beträchtliche Konsequenzen nach sich ziehen, wenn die falschen Menschen von ihrem Geheimnis erführen.
Rio ist allerdings überzeugt davon, dass Bay triftige Gründe für ihr Handeln gehabt haben muss und ihre Wut weicht schnell dem verzweifelten Bedürfnis das Verhalten ihrer Schwester zu verstehen. Ihr unerschütterlicher Wille und ihre Entschlossenheit Antworten zu bekommen sind bewundernswert, auch wenn manche ihrer Ideen und Pläne unausgereift erscheinen und somit kaum Erfolg versprechend sind. Außerdem ist sie sehr mutig und setzt sich für diejenigen ein, die ihr etwas bedeuten. Anfangs wirkt Rio vielleicht ein wenig emotionslos, das ist jedoch dem Umstand geschuldet, dass sie jahrelang niemals ihre wahren Gefühle offenbaren durfte, und somit durchaus passend. Das ändert sich später als sie sich weiterentwickelt, offener wird und mehr von sich preisgibt.
An dieser Entwicklung ist True maßgeblich beteiligt, der ebenfalls nach Antworten sucht seit sein bester Freund zusammen mit Bay nach Oben gegangen ist. Er ist ein talentierter Erfinder, der viel mit Rio gemeinsam hat und sie tatkräftig unterstützt. Nach Bays Verschwinden wird er der einzige Mensch in Rios Leben, der einem Freund am nächsten kommt. Dennoch dauert es lange bis sie ihm wirklich vertraut, was angesichts der Tatsache, dass er genauso viele Geheimnisse vor ihr hat wie umgekehrt, aber verständlich ist. Natürlich bahnt sich im Verlauf des Buches später eine kleine, zarte Liebesgeschichte zwischen ihnen an. True ist sehr liebenswert und er und Rio ergänzen sich wunderbar, doch man erfährt nicht so richtig, wie, warum oder in welchem Moment sie sich ineinander verlieben. Das Herzklopfen bleibt aus, was wirklich schade ist, weil man sehr viel mehr daraus hätte machen können. Es wäre demnach schöner gewesen, wenn Ally Condie der Liebesgeschichte entweder etwas mehr Raum gegeben oder die Beziehung der beiden als bloße Freundschaft belassen hätte.
Von ihrer Familie ist Rio nur ihre Tante Maire geblieben, zu der sie bislang kaum Kontakt hatte. Sie ist ebenfalls eine Sirene und eine der interessantesten und facettenreichsten Charaktere des Romans. Bis zum Schluss weiß man nicht, ob man ihr trauen kann, wann sie die Wahrheit sagt oder was ihre Motive sind, und ein paar Fragen bleiben sogar danach noch offen. Es ist also nur logisch, dass Rio ihr zunächst misstraut, zumal Maire abgesehen von einigen Antworten weiterhin viel vor ihr verbirgt. Von ihrer Tante erfährt sie viele wichtige Dinge über Atlantia sowie die Sirenen und ihre wahre Geschichte. Des Weiteren lernt Rio mit Maires Hilfe ihre eigenen Kräfte gezielt einzusetzen und zu steuern.
Von Anfang an unsympathisch und eindeutig der Antagonist ist dagegen der Hohepriester Nevio. Er nimmt Rio nach dem Verlust ihrer Schwester auch noch ihr Zuhause weg, ist aber ferner zu viel schrecklicheren Taten fähig und viel hinterhältiger und verabscheuungswürdiger als zunächst gedacht.
Während man über die Unterwasserstadt und ihre Bewohner ziemlich viel erfährt, wird das Leben Oben von Ally Condie leider kaum näher beleuchtet. Die Zeit vor der Trennung und der Grund dafür werden so gut wie gar nicht thematisiert, lediglich von zerstörtem Lebensraum und starker Luftverschmutzung ist die Rede. Der Fokus liegt also mehr auf der Gegenwart und dem Schicksal der Figuren. Die Vergangenheit spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle, wobei das Oben selbst in der Gegenwart nur sehr spärlich beschrieben wird. Aus diesem Grund kann man die teilweise gleichgültige Haltung der Menschen dort gegenüber den Bewohnern Atlantias nur schwer nachvollziehen, obgleich natürlich nicht alle von ihnen genauso empfinden.
Der Schwerpunkt des Romans liegt demnach auf der Suche nach der Wahrheit, die erst kurz vor Schluss, dafür dann in vollem Umfang, offenbart wird. Bis dahin bieten die verschiedenen Hinweise viel Raum für Spekulationen, die häufig schon bald wieder verworfen oder durch andere ersetzt werden, von denen sich manche, im Gegensatz zu einigen anderen, später jedoch als wahr herausstellen. Selbst wenn man mit der einen oder anderen Vermutung richtig liegt, erwarten einen also genügend Überraschungen und ungeahnte Wendungen, mit denen man so keinesfalls gerechnet hat. Sogar Bay wird einem ein kleines bisschen sympathischer, denn zumindest ihre, obschon nicht ganz einleuchtenden, Beweggründe kann man ihr nicht vorwerfen, sondern nur die Art und Weise ihres Verschwindens. Ehrlichkeit hätte ihrer Schwester viel Kummer und Leid erspart.
Zum Ende hin spitzt sich die Lage immer weiter zu und man wagt in Erwartung schrecklicher Ereignisse kaum weiterzulesen, zumal man sich zu diesem Zeitpunkt nicht vorstellen kann, wie die vielen Probleme, von denen manche leider viel zu schnell abgehandelt werden, noch gelöst werden sollen. Schließlich werden nicht nur die Figuren mit schockierenden Enthüllungen und unangenehmen Wahrheiten konfrontiert.
Die Auflösung ist der Autorin gut gelungen und das Ende ist sowohl zufriedenstellend als auch glaubwürdig, da die Heldin nicht wie durch ein Wunder alles bekommt, was sie jemals wollte. Viele Fragen bleiben letztlich allerdings offen, wobei man sich insbesondere in Bezug auf das endgültige Schicksal einer bestimmten Figur, die abschließend leider gar nicht mehr erwähnt wird, ein paar klärende Sätze gewünscht hätte. Insgesamt ist die Geschichte aber in sich stimmig und abgeschlossen.
FAZIT
Atlantia kann zwar nicht mit viel Spannung oder Tiefgang, dafür aber mit sympathischen Figuren, einer faszinierenden, scheinbar dem Untergang geweihten Unterwasserwelt sowie einer gelungenen Mischung aus dystopischem Setting und phantastischen Elementen überzeugen und damit für ein paar unterhaltsame Stunden sorgen.