Breit gefächerter Kenntniszuwachs, gute Orientierungshilfe
Seit Längerem habe ich kein Polit-Sachbuch gelesen. Als 30-jährige politisch Interessierte stille ich meinen Wissensdurst ansonsten durch gelegentlichen Polit-Talk im TV, die lokale Zeitung und Internetmedien. ...
Seit Längerem habe ich kein Polit-Sachbuch gelesen. Als 30-jährige politisch Interessierte stille ich meinen Wissensdurst ansonsten durch gelegentlichen Polit-Talk im TV, die lokale Zeitung und Internetmedien. Diesmal haben mich Titel und Klappentext spontan angesprochen. Klang danach, als sei hier in einem weiten politischen Spektrum anhand eines einzigen Buches viel Kenntniszuwachs möglich.
Den Autor Wolfgang Ischinger hätte ich bisher nicht zuordnen können. Diesen intelligenten und erfahrenen Wegbegleiter der deutschen und internationalen jüngeren Geschichte kennenzulernen, hat mich sehr gefreut. Weil ich vorrangig abends nach einem anstrengenden Arbeitstag lese, hat mich vor allem positiv eingenommen, dass sich dieses Sachbuch weniger anstrengend lesen lässt als erwartet. Hätte es mir „trockener“ vorgestellt. Sprachlich und stilistisch habe ich keinen Grund zur Beschwerde. Lob an das Lektorat. Der Inhalt stellt sich für den Politik-Laien durchaus anspruchsvoll und komplex dar, ist aber auch durchzogen mit vertiefenden Erläuterungen. Angereichert mit anschaulichen Beispielen aus Ischingers reichhaltigem Diplomatendasein, z. B. seinen Antritt bei der Queen oder wie er DDR-Bürger vom Botschaftssitz in Prag mit dem berühmten Zug in die Freiheit begleitete. Das fand ich faszinierend, spannend, ich konnte mich in Situationen hineinfühlen, es hat Emotionen bei mir hervorgerufen, auch wenn ich zu den meisten Schilderungen keine Zeitzeugin bin. Hierdurch entkommt man zeitweise der Informationsflut „Wer/Wann/Was/Wo“, das Wissen kann sich besser verfestigen. Manches ist auf den eigenen Alltag übertragbar, z. B. Tipps zu diplomatischem und kommunikativem Verhalten.
Mir gefällt, dass die neun Kapitel feingliedrig unterteilt und mit teils unorthodoxen, auflockernden (z. B. „Beziehungsarbeit mit Hundenapf und Cocktailbar“) oder provokanten (z. B. „Irakkrieg 2003 - „Oder sind Sie ein Rassist, Ischinger?““) Unter-Überschriften versehen sind. Hierdurch wurde meine Neugierde geweckt, oft fühlte ich mich animiert, noch ein paar Seiten mehr zu lesen als ursprünglich beabsichtigt.
Erwartungsgemäß ist dieses Sachbuch inhaltlich sehr breit gefächert. Diplomatische Beziehungen und Sicherheitspolitik in Deutschland und Europa sind in den Fokus gestellt, große Abschnitte außerdem den USA und Russland gewidmet. Beleuchtet werden die letzten Jahrzehnte sowie ganz aktuelle Entwicklungen. Krisen, ihre Anfänge, Ursprünge, Wandlungen, Signalwirkungen bestimmter Handlungen, nationale und internationale Abhängigkeiten, prägende Personen. Zu meiner Freude auch Erfolge und Hoffnungspendendes, sodass das Buch nicht emotional völlig „herunterzieht“. Ischinger zeigt argumentierend allerlei Handlungsoptionen und -empfehlungen auf, fasst dabei auch zusammen und schafft Bildnisse. Kritiker könnten augenzwinkernd erwähnen, dass er oft seine eigene Rolle und seine reichhaltigen Beziehungen betont, aber es ist m. E. völlig legitim, seinen Stolz auf diese Weise auszudrücken.
Von Wow-Effekten in den Erkenntnissen und Botschaften kann man schlussendlich nicht sprechen. Typischerweise gibt es kein einfaches Patentrezept. Wer sich sehr viel mit den dargestellten Themen beschäftigt, könnte enttäuscht sein. Ischinger brilliert in seinem Metier. Demzufolge ist z. B. der Klimawandel nur Randthema. Auch nur wenig Raum bekommen Auswirkungen technischer Innovationen, die im Zwiespalt zwischen Sicherheit und Freiheit, in Bezug auf Überwachung und Militär an Bedeutung gewinnen. Trotzdem: Dieses Buch hat einen wertvollen Beitrag geleistet, das Weltgeschehen für mich als Laien etwas mehr zu „entwirren“. Ich fühle mich sensibilisiert und ein kleines bisschen klüger. Dafür vielen Dank.